Dienstag, 29. Januar 2019

Der Überbringer ist immer auch Täter?! Zum Umgang mit Doris Wagner und Greta Thunberg

Ich erinnere mich noch recht gut an ein Kabarettprogramm von Didi Jünemann und Jürgen Becker. Die beiden machten sich auf die Suche nach Schuldigen in allen Miseren des Lebens und kamen irgendwann beim Briefträger an. Wer bringt denn immer die schlechten Nachrichten, Vorladungen, Mahnungen, Behördenbriefe? Ja, eben, die Briefträger! Der Überbringer sei immer auch Täter! Also könne auch ein Postbote nicht unschuldig sein. Das merke man doch schon an der Reaktion der Hunde.

Der Überbringer ist immer auch Täter. Es ist etwas dran an diesem geflügelten Satz. Ich erinnere mich noch gut an meine Zeit als Vorsitzender des Dinslakener Stadtjugendrings. Damals hatte ich mich in dieser Funktion hinter eine Schülergruppe gestellt, die eine sehenswerte Ausstellung zum Brandanschlag auf ein Heim für Asylbewerber in Hünxe gestaltet hatten. Die wurde überall gezeigt – nur nicht im Dorf selbst. Offenbar gab es starke Kräfte, die meinten, irgendwann müsse mal Schluß sein mit der Erinnerung und man müsse der „Nestbeschmutzung“ wehren. Das ging soweit, dass einige Kräfte im Hintergrund mich beruflich zu diskreditieren versuchten und Kirchenvorstandsmitglieder und den Dechanten anriefen, obwohl ich in dieser Sache nur gesagt hatte, man müsse sich auch in Hünxe der Diskussion mit den eigenen Kindern (Jugendlichen) stellen, selbst wenn man ihre Sichtweise auf die Dinge nicht für sich übernehmen wolle.

Aktuell berührt mich der mediale Umgang mit zwei Personen, Greta Thunberg und innerkirchlich Doris Reisinger, geb. Wagner. Beide werden geradezu für einige Leute zur Hassfigur (was mich in gewissen Kreisen nicht verwundert), diese Kritik schwappt aber in gemilderter Form auch auf zahlreiche, durchaus nachdenkliche und gesittete Leute in meinem Bekanntenkreis über.

„Onlinemob stürzt sich auf Klimaaktivistin. Hass und Hetze gegen Greta...“ titelt die TAZ während Tichy meint „Greta Thunberg – Ikone der Klimareligiösen und Opfer ihrer Eltern.“ Seitenlang arbeiten sich Zeitungen und Onlineforen an der Person Greta ab. Ihre Positionen werden hin und her erwogen, unterstützt und verrissen.

Ich frage mich, was das soll? Wen wundert es, dass der „Erfolg“ von Greta in der Öffentlichkeit die Gegner auf den Plan ruft. Denn neben den irrationalen Anhängern eine „Klimareligion“ gibt es ja auch die nicht weniger verstrahlten Missionare des „natürlichen Klimawandels“, die als Schuldige nicht den Menschen, sondern die Kraft der Sonne ausgemacht haben. Unbeeindruckt von der Tatsache, dass landauf, landab verantwortliche Behörden und Institutionen die Deiche erhöhen und das Schwinden der Gletscher in den Alpen nicht zu übersehen ist, führt man angeblich besorgte Diskussionen um Gretas psychischen Status.

Ich denke, die Sorge darum sollte man getrost ihren Ärzten und Eltern überlassen. Und auf keiner Seite den Hype gegen sie oder für sie anheizen. Sie bringt doch in jedem Fall eine bedeutsame Botschaft, dass die Sorge um unsere Umwelt mindestens gleich schwer wiegen sollte wie die Sorge umd den Stand des DAX, des Nikkei oder der Dow Jones.

Greta ist ja offenbar Asperger – Autistin. Ich kenne gar nicht wenige Personen mit dieser Diagnose. So unterschiedlich sie sind, sie sind mit ihrem Handeln und Reden meist entschlossener und deutlicher als viele andere Menschen. Ich schätze das durchaus und es fordert mich heraus, ihnen mit Empathie und Klarheit zu antworten, ihre Sorgen ernst zu nehmen und nach Lösungen zu suchen. Das fehlt mir in der aktuellen Debatte um Greta. Wenn sie Panik empfindet und möchte, dass auch wir panisch werden angesichts der Lage der Welt, dann ist es doch unsere Aufgabe als Erwachsene nicht, ihre Panik in Frage zu stellen, sondern deutlich zu machen, dass wir etwas tun, damit sie ruhiger werden kann. Vertröstung akzeptieren Autisten eher nicht, wohl aber wenn sie sehen, dass etwas geschieht. Und wie auch immer sich Greta ausdrückt, es ist notwendig, dass wir etwas tun. Jeder weiß doch oder ahnt es: so wie es ist geht es nicht weiter.

Auch Doris Reisinger, geb. Wagner überbringt der Kirche aktuell eine Botschaft. Eigentlich hatte sie diese schon vor einigen Jahren vorgelegt, als ihr Buch „Nicht mehr ich“ erschien. Es handelte vom geistlichen Mißbrauch, der in ihrem Fall zur Basis auch von sexuellem Mißbrauch wurde. Ein erschütternder Bericht aus dem Innenleben einer neuen geistlichen Gemeinschaft namens „Das Werk“. Das Buch wurde damals eher im kirchlichen Binnenraum diskutiert, vor allem bei denen, die sich für das Leben in Gemeinschaft, für Orden und Co. interessierten. Und es wurde von vielen Diskutanten vehement abgelehnt und als Schilderung der persönlichen (überzogenen) Betroffenheit marginalisiert.

Jetzt, in der neuen Phase der Diskussion um Mißbrauch in der Kirche, in die ausgerechnet mein Bischof Felix Genn das Stichwort „Geistlicher Mißbrauch“ eingebracht hat, ploppt die Diskussion um „Das Werk“ und die Erfahrungen von Doris Wagner wieder neu und mit mehr Druck auf. Mit ungeahnten Folgen, denn just heute wird bekannt, dass P. Hermann Geißler, der in dem Buch (ohne Namensnennung) eine Rolle spielt, von seinem Posten als Leiter der Glaubensabteilung in der Glaubenskongregation zurückgetreten ist. Nein, er war nicht derjenige, der seine Mitschwester mehrfach vergewaltigt hatte. Dieser war damals im vatikanischen Staatssekretariat tätig und ist aufgrund der Vergewaltigungsvorwürfe aus dieser Position schon vor längerer Zeit abgezogen worden, ist aber nach wie vor als Priester Mitglied seiner Gemeinschaft.

Vor staatlichen Gerichten konnte er nicht verurteilt worden, weil er seine Mitschwester nicht mit körperlicher Gewalt mehrfach zum Geschlechtsverkehr genötigt hatte, sondern durch die Macht, die ihm seine priesterliche Position und die Lebenweise in dem Haus der Gemeinschaft gab. Damit allein konnte er sich an seiner Mitschwester vergehen. Schließlich sei es die Schuld der Frau, wenn sie das sexuelle Begehren in einem Mann entfache. So wird auch heute noch argumentiert und auf diesen Nenner läßt sich die Haltung der Doris-Wagner-Basher in den sozialen Netzwerken und die Haltung der Verantwortlichen in der Gemeinschaft bringen.

Gerade schrieb in einer Diskussion jemand: „mag alles sein, aber die Autorin war keine Jugendliche,sondern eine erwachsene Person, die ja dann auch den zweiten Priester, der sie oder den sie verführt hat, heiratete. Jetzt vermarktet sie ihre Story, bald haben wir sie bei Markus Lanz sitzen.“

Hm, ich weiß nicht ob man damit die Diskussion abtun sollte. Ich denke, die Kirche kann gerade aus den Erfahrungen von Doris Wagner lernen und sie könnte Fehler vermeiden, die ihr ja aktuell in der neuen Mißbrauchsdiskussion (nach McCarrick u. Co. und der MGV-Studie) so schmerzhaft auf die Füße fallen.

Die Vorwürfe gegen P. Hermann Geißler scheinen erst einmal gar nicht so schwer zu wiegen. Aber im Kontext ihrer Erfahrungen im Werk sind sie alles andere als bedeutungslos. Für Doris Wagner bekamen sie ein doppeltes Gewicht, da sie schon konkreten Mißbrauch erlebt hatte und nun eine erneute Belästigung erfuhr, Grenzüberschreitungen im persönlichen Umgang und dann sogar bis in den Beichtstuhl hinein.

„Was ist schon ein Kuß?“ „Es kann ja auch freundschaftlich gemeint sein...“ „Früher gab es ja deshalb die Beichtgitter.“ Wenn ich diese Gedanken aus einer Facebook-Diskussion weiter denke schüttelt es mich. Beichtgitter, um den Beichtenden vor dem Priester zu schützen? Mir kommt sofort das Spottlied vom „Karmeliter“ in den Sinn. „War einst ein Karmeliter, der Pater Gabriel...“ Brrr... Nein!!!

Der Mißbrauch der Beichte im Kontext von sexuellem und geistlichem Mißbrauch ist für mich wirklich schwerwiegend. Für das staatliche Recht zählt das nichts, aber für einen gläubigen Menschen ist die Beichte eigentlich der sicherste Raum, den die Kirche zu bieten hat. Hier kann ich mich – durch den Dienst des Priesters – ganz öffnen, entblößen, bin ich vor Gott - nackt.

Hier erwarte ich, dass der Priester nicht weniger ist als reinster Stellvertreter Christi und Ohr Gottes. Jedes Versagen an dieser Stelle wiegt schwer wie Blei, schwerer als ein Mühlstein. Der Mißbrauch der Beichte hat Folgen und die Zerstörung einer geistlichen Berufung ist nicht nichts. Auch nicht für die Kirche, bevor sie durch den Mißbrauchsskandal in neues, grelles Licht gestellt wurde. Selbst wenn kein Gericht dieser Welt hier die Verfolgung aufnehmen würde.

Ich habe mich nach der Lektüre geschüttelt und geschämt ob dieser Perfidie. Dass nun der Pater, der den eigentlich sicheren Raum der Beichte zerstört hat (haben soll) (für mich ein Angriff auf das Heiligste überhaupt, selbst wenn es in der Welt nicht mehr als eine Belästigung am Arbeitsplatz wäre), zurücktritt, ohne Verantwortung für sein Handeln zu übernehmen zerstört auch diese eigentlich gute Geste der Buße und verkehrt sie in das Gegenteil. Er tritt nicht zurück, weil er Verantwortung für das Böse in sich übernimmt, für seine Fehler... Nein, er opfert sich für die Institution, die er zu schützen vorgibt. Er opfert sich für die Kirche allein.

Ich bin sicher, dass P. Hermann Geißler FSO ein liebenswerter Mensch ist, dass er ein opferbereiter Priester ist, ein absolut kirchentreuer Theologe und ein großartiger Mitarbeiter in der Glaubenskongregation. Ich kann lebhaft nachvollziehen, wie schwer es ihm fällt, dieses Amt heute niederzulegen. Vor allem, wenn er in der Rückschau glaubt, dass Doris Wagner ihn und sein Handeln nicht zutreffend geschildert hat.

Aber ich glaube auch, dass er ein bedürftiger Mensch ist. Dass er wie jeder Mensch ein soziales Wesen ist und sich nach Nähe, Liebe, Zuneigung, Zuwendung, ja auch nach körperlicher Nähe sehnt, nach einer Umarmung, nach Trost. Jeder Mensch sehnt sich danach. Als Kind erfährt er diese Zuwendung in unterschiedlichster Weise durch Mutter, Vater, Geschwister, Familie. Als Jugendlicher und Heranwachsender dann zunehmend durch zuvor fremde Menschen, denen man in Zuneigung oder Liebe verbunden ist. Diese Kommunikation in Nähe und Distanz einzuüben, das ist eine wahre Kunst. Allzu oft geht das – meist eher in einzelnen Situationen im Leben – manchmal aber auch auf ganzer Linie daneben. Jeder kennt eine solche Geschichte. Nicht selten gehen damit Verletzungen und Enttäuschungen einher. Gut, dass ich das hier für mich selbst nicht ausbreiten muss.

Als Priester, Ordensmann, zölibatär lebender Mensch ist die Einübung in diese Kunst eine doppelte Herausforderung, die jeder anders meistert oder daran scheitert.

P. Hermann Geißler ist im Kontakt mit Doris Wagner offenbar vor einigen Jahren gescheitert. Er hat Grenzen nicht bemerkt, Grenzen verletzt, Wunden zugefügt und bestehende Wunden vertieft. Offenbar ohne das in dieser Dimension zu merken. Es wäre gut gewesen, wenn er (sofern er später zur Einsicht gekommen ist), auf seine ehemalige Mitschwester in guter Weise zugegangen und um Vergebung gebeten hätte für sein Verhalten, für seine Fehler. Und das nicht stammelnd „wenn ich damals unwissentlich und unwillentlich einen Fehler gemacht haben und Dich vielleicht verletzt haben sollte...“ sondern geradeaus, offen, ehrlich, in echter Demut und Reue. Dann wäre der Rücktritt heute vielleicht unnötig gewesen.

Insofern bringt das Buch von Doris Wagner und die ehrliche Auseinandersetzung mit der Geschichte, die sie uns erzählt, im Kleinen die ganze Tragik des Umgangs der Kirche mit Mißbrauch und den Opfern auf den Punkt.

Selten wird derart klar aufgedeckt, warum die Kirche aktuell diese Demütigungen in der Öffentlichkeit ertragen muss. Wegen ihrer eigenen Fehler und weil sie nicht in der Lage ist für ihre Sünden Buße zu tun, weder der Einzelne noch die Institution. (Ausnahmen gibt ist, die sehe ich wohl...) Ich würde jedem Bischof, jedem Beichtvater und jedem Ordensverantwortlichen empfehlen das Buch „Nicht mehr ich“ zu lesen.

Es ist notwenig, dass Täter und Mitverantwortliche eingestehen: Ja, wir haben gesündigt, ja, ich habe gesündigt, ich trage Mitverantwortung für konkrete Vorfälle…“ „Nein, es sind nicht „die Homosexuellen“, es ist nicht „die sexuelle Revolution“, es ist nicht „ewig lockt das Weib...“, es ist nicht „das Konzil“, nicht... Und auch nicht der Zölibat, die Kirche an sich, oder die Sexualmoral … Ja, das auch, aber erst kommt die Einsicht und dann kann man auch noch die begleitenden Faktoren in den Blick nehmen.

Es wäre wünschenswert, wenn wir endlich auf allen Ebenen die Signale hören würden und zu unserem Versagen stehen. Gerade jetzt ist nicht die erste Vordringlichkeit, die Heiligkeit der Kirche zu verteidigen und meinem Mitbruder über den Mund zu fahren, der sich vielleicht etwas unpräzise ausgedrückt hat (Stichwort: DNA oder „Kirche neu erfinden“, oder...).

Doris Wagner hat gerade eben auch ein Buch unter dem Titel „Geistlicher Mißbrauch“ auf den Markt gebracht. Es ist nicht notwendig, in ihren beiden Büchern, ihrer Teilnahme an einem Film und ihren öffentlichen Auftritten „das Evangelium“ oder schlicht die „reine Wahrheit“ über den Mißbrauch in der Kirche zu sehen. Aber es ist auch nicht nötig ihre Erfahrungen in Frage zu stellen und kleine Unstimmigkeiten aufzudecken um das Ganze zu diskreditieren.

Ihre Anfragen müssen wir unbedingt an uns heranlassen und über Konsequenzen nachdenken. Und vor allem auch Konsequenzen ziehen, handeln und die Kirche insofern verbessern, dass niemand mehr in die selben Fallen gehen muss und dieselben Fehler begeht, wie die Menschen um Doris Wagner herum. Und dass niemand mehr zum Opfer wird.

Dazu muss ich nicht zum Jünger von Doris Reisinger/Wagner werden. Ich glaube auch nicht, dass sie der Doktor ist, der die Not der Kirche heilt. Aber sie stellt eine wichtige Diagnose. Die richtige Antwort dürfte nicht sein, die Diagnose in Frage zu stellen, sondern die richtige Therapie zu finden.

Ich habe auch Bedenken, ob das alles stimmt, ob ihre Diagnose in jedem Detail stimmt... Weil ich beide Bücher nicht hier liegen habe (eines ist verliehen, das Andere kaufe ich vermutlich nicht) und nicht konkrete Zitate einbringen kann, knüpfe ich meinen Gedanken an die treffenden Titelformulierungen an. Das erste Buch hieß: „Nicht mehr ich.“ Hier beklagt sie sehr zu Recht, wie sie in ein enges Korsett der Ordensspiritualität gezwängt wurde, mit wenig Rücksicht auf ihre Persönlichkeit. In eine ähnliche Tendenz, wenn auch grundsätzlicher durchdacht geht jetzt das Buch „Geistlicher Mißbrauch.“

Ich bin sicher, dass Nachfolge Christi auch bedeutet, sich formen zu lassen. Wir haben in der Kirche eine lange Tradition der Selbstüberwindung, des Abstandnehmens von den eigenen Bedürfnissen, des Überwindens des eigenen Wollens. Nachfolge in einem Orden, in einer Gemeinschaft bedeutet unbedingt, sich in vorgegebene Formen einzubringen, sich durch die Gemeinschaft formen und führen zu lassen. Der Gehorsam gehört nicht umsonst zu den evangelischen Räten. Aber wir müssen auch eingestehen, dass der Grat zwischen Formung und Mißbrauch schmal ist. Es ist immer die Frage, woran hier Maß genommen wird.

Das Maß kann nicht das Maß eines – möglicherweise sehr fehlerhaften – Hausoberen oder Novizenmeisters sein. Es braucht eine Ausgewogenheit zwischen Formung und Freiheit. Hier wäre es leicht alles Mögliche, selbst altehrwürdige Traditionen, mit dem Stempel „spiritueller Mißbrauch“ zu versehen, obwohl manches letztlich die Kandidatin, den Kandidaten frei macht.

Das Maß, an dem wir uns zu orientieren haben, ist Jesus Christus, der Mensch geworden ist und mitten unter uns gelebt hat. Das Maß ist nicht ein idealisierter Heiliger oder ein hoch verehrter Gründer, das Maß ist auch kein Petrus, kein Simon Zelotes und kein Judas.

Jesus hat sie alle – wie jeden von uns – in seine direkte Nachfolge berufen. In die Nachfolge in der ganzen Fülle seines Evangeliums. Und da gilt „der Sabbat ist für den Menschen da...“ genauso wie „nehmt euer Kreuz auf euch...“ „lasst die Toten ihrer Toten begraben...“ und „ich werde euch zu Menschenfischern machen“ gleichermaßen.

Aber jeder Weg der Christusnachfolge ist ein sehr eigener und sehr persönlicher Weg, mit Höhen und Tiefen und immer angewiesen auf den, von dem wir singen:

„Herr, dir ist nichts verborgen;
du schaust mein Wesen ganz.
Das Gestern, Heut und Morgen,
wird hell in deinem Glanz.
Du kennst mich bis zum Grund,
ob ich mag ruh’n, ob gehen,
ob sitzen oder stehen,
es ist dir alles kund.“

Donnerstag, 17. Januar 2019

Auf ein Neues! Jahr 2019: Der Kirchenfrust und seine Folgen...

Pfarrer Thomas Frings, der „So kann ich nicht mehr Pfarrer sein“ - Frings hält bald einen Vortrag im Bistum des Hl. Vaters in Rom. Sein Buch hat – verbunden mit seinem konsequenten Verzicht auf die Pfarrstelle einer großen Münsteraner Innenstadtpfarrei - 2016 einigen Wirbel ausgelöst und offenbar einen Nerv getroffen. Inzwischen gibt es das Buch auch auf italienisch. Offenbar sind die Pfarrer in Italien und auch die im Bistum Groningen in den Niederlanden nicht weniger frustriert als hierzulande.
Die Kirchenzeitung im Bistum Münster hat die Gelegenheit genutzt, mit Pfarrer Frings darüber zu sprechen. Der ist inzwischen doch wieder irgendwie Pfarrer im Erzbistum Köln, bzw. wie er selbst präzisiert, er sei nun nur noch Priester und übe „priesterliche Tätigkeiten aus.“
Ganz offenbar hat das Nachbarbistum ihn irgendwie wieder auf diese Spur setzen können. Wer weiß, vielleicht erscheint demnächst ja ein neues Buch mit dem Titel: „So kann ich wieder Priester sein.“ Darauf wäre ich tatsächlich gespannt.

Seine priesterliche Tätigkeit wird er in Zukunft in der Kölner Innenstadt entfalten als Teil eines Seelsorgerteams unter dem ehemaligen Generalvikar Dr. Dominik Meiering.
Natürlich fragt die Kirchenzeitung kritisch nach, was der „verlorene Sohn des Bistums Münster“ in Köln gefunden habe, was er in Münster nicht entdecken konnte. Seine Antwort ist interessant. Zunächst einmal zitiert er seinen Chef mit der Antwort auf eine grundsätzliche Frage: „Wie kann Kirche sein, wenn sie als Pfarrgemeinde für die meisten Menschen nicht mehr relevant ist? Dafür setzt sich hier in Köln der Leitende Pfarrer Dominik Meiering mit aller Vehemenz ein: Lasst uns suchen, wie es gehen kann. Denn so, wie es war, geht es nicht mehr.“

Diese Überzeugung ist inzwischen in der Kirche weit verbreitet. Als Bischof Felix Genn vor einigen Jahren einmal feststellte: „Es ist nicht so, dass die Zeit der Volkskirche zu Ende ginge, nein, sie ist längst zu Ende“, da ging noch ein aufgeregtes Raunen durch die Reihen. Es gab Widerspruch, aber auch viel Zustimmung.
In ihren Ansprachen und bischöflichen Worten zum neuen Jahr gingen viele Bischöfe in diesem Jahr aber schon weiter. Der Mainzer Bischof Peter Kohlgraf ist überzeugt, dass die klassische, an einen festen Ort gebundene, territoriale Pfarrei in einer mobiler werdenden Welt immer weniger den Lebenswelten vieler Menschen entspreche. Und es sei niemandem gedient, "ein altes Ideal von Pfarrei aufrechtzuerhalten".

Damit bringt er auf den Punkt, was landauf, landab in den Bistümern geschieht. Das uralte Bistum Trier legt aktuell fast 900 eigenständige Pfarreien zu „Pfarreien neuen Stils“ zusammen, nur noch 35 Pfarreien dieser Art sollen übrig bleiben. Im Bistum Essen, in Gelsenkirchen sind inzwischen Pfarreien entstanden, die mehr Gläubige umfassen als im ganzen Bistum Görlitz leben. Wenn auch dort mit älteren Traditionen und auf weiterem Raum. So unterschiedlich das in den Bistümern gehandhabt wird, die gute alte überschaubare Pfarrei gehört ganz offenbar der Vergangenheit an. Um diese Strukturreformen umzusetzen, scheuen Bistümer nicht einmal davor zurück, Pfarreien mit tausendjähriger Geschichte aufzuheben und als Teil einer Pfarrei neuen Stils wieder auferstehen zu lassen.

Wohin man als Seelsorger kommt hört man aus den Reihen der Engagierten viel Frust über diese Entwicklungen, wenngleich diese sich auch bemühen, die guten Seiten der umfassenderen Kooperation ebenfalls zu unterstreichen.

Aber, wir wollen ja Lösungen sehen und daher habe ich gespannt auf die Antwort von Pfarrer Frings auf die nächste Frage des Interviewers gewartet: „Haben Sie denn auch schon etwas gefunden, wie es gehen kann?“
„Der Startschuss zu diesem Projekt war erst im Herbst letzten Jahres, da braucht es schon noch Zeit. Im März wird es eine große Veranstaltung geben, zu der alle eingeladen sind, die mitmachen und vorangehen wollen.“

Ich halte das für ein ehrliches Bekenntnis. Ja, die bisherige Gestalt der Kirche vergeht, ja sie ist zu einem guten Teil bereits vergangen. In den Gemeinden versuchen viele Menschen die lieb gewordene, gute alte Zeit des Katholizismus weiter am Leben zu erhalten. Für viele Menschen steckt darin nach wie vor Halt und Lebensinhalt. An manchen Stellen entsteht in den Gemeinden oder auch darüber hinaus auch Neues, Schönes, Wertvolles. Woran es uns aber mangelt, das ist eine gemeinsame Vision zur Zukunft der katholischen Kirche in Deutschland.
Albrecht von Croy bringt es auf katholisch.de so auf den Punkt: „Viele Stimmen, keine Melodie. Die Stellungnahmen reichen von Ratlosigkeit über gewagte Thesen oder Binsen zur leichten Panik. Das, verehrte Eminenzen und Exzellenzen, ist keine abgestimmte Kommunikation, das ist ein dissonanter Chor.“

Ja, der Bischof von Mainz hat sicher recht, wenn er sagt, dass die klassische Pfarrei von den Katholiken, die auf ihrem Territorium wohnen nur einen kleinen Teil erreicht. Nach meiner Erfahrung ist es ein gutes Drittel, die in irgendeiner Weise aktiv am Gemeindeleben teilhaben. Mal werden es mehr sein (wenn man noch auf stabile soziale Dorfstrukturen bauen kann), mal werden es weniger sein (wenn man sich in der Diaspora einer großen Stadt bewegt). Aber in allen Reden zum anbrechenden Jahr 2019 fehlt mir neben der depressiven Analyse die Vision einer Zukunft.

Die aktuelle Situation der Kirche ist sicher das Ergebnis einer schwerfälligen Kirchenorganisation, sie ist aber auch das Ergebnis von bis zum heutigen Tage kumulierten und nie richtig aufgearbeiteten Fehlern und Verbrechen der Kirchengeschichte. Bei aller Würdigung der historischen Realitäten, wie sie z.B. Manfred Lütz und Arnold Angenendt vorgelegt haben, so zeigt doch auch die aktuelle Mißbrauchskrise, wie schwer es der Kirche fällt, das eigene Versagen so einzugestehen und aufzuarbeiten, dass sie gestärkt aus der Krise hervorgeht. Wenn – wie aktuell – ein Kardinal Wuerl in Amerika erst öffentlich erklären läßt, er habe nie von den Verfehlungen seines Vorgängers gewußt, wenn dann seine (ehemaligen) Bistümer öffentlich erklären müssen, dass er doch darum gewußt habe und der Kardinal schließlich von Erinnerungslücken spricht, dann widerspricht dieses Verhalten allen Erwartungen, die ich an Menschen stelle, die sich als gläubige Christen betrachten.

Aktuell wird wieder um die sündige Kirche gestritten und ob das Idealbild der Kirche als Grundsakrament „Strukturen des Bösen“ umfassen könne, ja diese gar in der DNA tragen könne. Es ist sicher ehrenwert, das Ideal der Kirche im Herzen zu tragen und auch zu verteidigen. Aber dieses Ideal stellt, je stärker es glänzt, das Versagen seiner Vertreter in umso helleres Licht. Mit der Folge, dass im Volk auch der Glaube bröckelt, dass die Realitität sich jemals dem Ideal annähern könnte.

Wie wohltuend wäre es, wenn nach einer inzwischen auch schon fast 20 Jahre schwelenden Mißbrauchskrise, auch Bischöfe und Kardinäle offen ihre Schuld eingestehen und mit ehrlichen Worten ihr Versagen bescheiben. Und dann auch die persönlichen Konsequenzen tragen. Was sollte einen Kardinal Wuerl hindern zu bekennen, ja ich habe um die Verbrechen meines Mitbruders McCarrick gewußt. Ich ziehe die Konsequenz, ich suche nicht nach Entschuldigungen, ich lege mein Amtsgewand in den Schrank und gehe in eine arme Gemeinde meines Bistums, wo ich den herausgeforderten Ortspfarrer bei seinem seelsorglichen Dienst unterstütze. Ich feiere für ihn die Hl. Messen im Seniorenheim, ich besuche die Kranken und mache kein Aufhebens mehr um meine Position, ich lasse mich nicht hofieren und bedienen, sondern biete meinen Dienst dort an, wo auch Jesus auf Erden wandelte – mitten zwischen den Menschen.

Aber selbst wenn es uns gelingen würde, der Kirche als Organisation wieder zu einer idealen und wirkungsvollen Struktur zu verhelfen mit einem attraktiven Angebot für die potentiellen Gläubigen und die realen Kirchenmitglieder. Wäre und würde dann alles wieder gut? Ist die Abwendung vom Glauben an Gott nicht in erster Linie die Folge eines Megatrends den wir mit unserem Handeln allenfalls verstärken oder abschwächen können? Dieser Megetrend hat seine Quellen und Wurzeln in einer zunehmenden Individualisierung, in einer Wohlstandsgesellschaft, in der Globalisierung … Man könnte noch zahlreiche andere Gründe und Umstände aufführen die zu einem gesellschaftlichen Wandel beigetragen haben, der (jenseits des Wandels durch Kriegs- und Kathastrophenereignisse in der Vergangenheit) beispiellos ist. Natürlich kann es heute nicht unsere Aufgabe sein, in einer unübersichtlicher gewordenen Welt den Menschen einen heimeligen Rückzugsraum anzubieten. Unser Auftrag muss vielmehr sein, inmitten der Umbrüche für die Menschen den Himmel offen zu halten und den sinnstiftenden Glauben an einen liebenden Gott überzeugend und möglichst inspirierend vorzuleben. Wozu sicher auch Ruheräume des Glaubens – wie ein Lazarett oder ein Gasthaus sicherlich beitragen können, sofern sie sich nicht in reine Siechenhäuser für sonderbare Persönlichkeiten verwandeln.

Doch zurück zu den Sendungsräumen, Pfarreien neuen Typs, Großpfarreien und Seelsorgsbezirken: bei allem Euphemismus der von Bischöfen und Bistumsverwaltungen versprüht wird: Die Zusammenlegung der Gemeinden und Pfarreien zu immer größeren, unpersönlicheren Verbünden, die Einsparung von Gebäuden und auch von Kirchen ist kein Zeichen von Aufbruch sondern signalisiert das glatte Gegenteil. Unendliche Kraft wird in die dann notwendigen Umstrukturierungen investiert, zahlreiche Mitarbeiter werden darin verbraucht und verschlissen. Die Frustration und innere Emigration ist groß und nimmt zu.

Ich möchte diese Einschätzung mit drei kleinen Beispielen illustrieren:

  • In einer großen Nachbargemeinde erzählt mir die Sekretärin eines Tages, das sie allein mit der Planung der Dienste für Musiker, Küster und Priester viele Stunden ihrer Arbeitskraft aufzuwenden habe. Ein Aufwand, der in den kleinen Einheiten früher gar nicht notwendig war, weil jeder seine Dienste und Zeiten kannte. Das war sicher eintöniger – aber auch verläßlicher. Die Erfahrung zeigt, dass die Organisation und Verwaltung zusätzliche Kräfte und Mittel erfordert um eine Großpfarrei ordentlich zu führen und dass die Synergieeffekte damit schnell wieder aufgezehrt werden.

  • In dem Dorf in der Eifel, wo wir seit fast 20 Jahren Urlaub machen, waren in den ersten Jahren die Gastgeber (Landwirte) kirchlich engagiert, er für seine 600 Seelen-Gemeinde im Kirchenvorstand, sie im Pfarrgemeinderat. Man kooperierte mit drei kleinen Gemeinden, die einen gemeinsamen Pfarrer hatten. Heute sind dort zwei ehemalige Dekanate mit Dutzenden von Gemeinden zu einer Pfarrei zusammengefasst. Sie werden von einem Pfarrer geleitet. Die zentrale Verwaltung sitzt im 20 km entfernten Schleiden. In der Familie ist heute niemand mehr kirchlich engagiert. Mit dem beruflichen Alltag in der Landwirtschaft lassen sich abendliche Sitzungen und lange Anfahrten nicht mehr vereinbaren.

  • In meiner früheren Einsatzgemeinde hatte die 2.000er Gemeinde einen Kirchenvorstand, der sich um eine Kirche, einen Kindergarten und ein Jugendheim kümmerte. 8 Personen kamen da zusammen, eine abendliche Sitzung dauerte eine knappe Stunde, anschließend blieb man noch eine Stunde in geselliger Runde mit dem Pastor zusammen. Der schätze den Austausch in dieser Runde. Und ein oder zwei abendliche Bierchen. Wenn am Kindergarten ein Tor einzubauen war, stand der 75 jährige Pensionär mit einer Schüppe im Loch, während zwei andere KV-Mitglieder den Beton anmischten und ein Bekannter mit dem Trecker bereit stand, den Torpfeiler anzuheben und korrekt ins Loch zu setzen. Heute entscheiden doppelt so viele KV-Mitglieder über die Belange von 10 Kindertageseinrichtungen, die Arbeiten erledigen natürlich Fachfirmen. Die Sitzungen haben sich verdoppelt und dauern dank eines konsequenten Pfarrers von 19.30 – 22.00 Uhr – nicht länger. Um die Organisation kümmert sich eine neue Verwaltungsreferentin.

Es ist an der Zeit, einmal zu evaluieren, ob die versprochenen Effekte einer besseren Zusammenarbeit und von Synergien tatsächlich verwirklicht werden konnten. Ich fürchte, das Ergebnis ist alles Andere als ermutigend.

Sicher ist die Zeit vorbei, da eine Territorialpfarrei für die Menschen auf dem Territorium ein umfassendes geistlich – seelsorgerisches Angebot machen konnte. Die Menschen sind mobiler geworden. Die Seelsorger arbeiten auch schon heute anders als früher, vielleicht noch nicht so flexibel und modern wie sie sollten, aber doch mit Kreativität und Herzblut. Dass mancher nicht aus seiner Haut kann, das ist sicher wahr. Die Frage wäre aber, wie man den Seelsorgerinnen und Seelsorgern da mehr Hilfestellung geben könnte. Vermutlich muss man mehr in gute Begleitung, Seelsorge an den Seelsorgern und Supervision investieren.

Natürlich müssen wir den Wandel der Gesellschaft wahrnehmen und so gut es geht für die Pastoral nutzen. Wir müssen neue Angebote machen, wir müssen alte Angebote schneller verändern, anpassen, modernisieren oder auch mal beerdigen. Wir müssen die sozialen Medien nutzen und im Internet präsent sein. Wir müssen einen guten und freundlichen Service bieten und Begegnungen ermöglichen, die Lust auf mehr machen.

Aber ich bin sicher, dass wir in der Fläche präsent sein müssen und dass die gute alte Pfarrei sich noch lange nicht überlebt hat. Bei aller Mobilität brauchen wir (nicht nur virtuell) Räume, Häuser, Kirchen und vor allem Menschen, durch die wir auch gefunden werden können und in denen Kirche lebt. Und es kann doch wirklich nicht schaden, wenn jeder, der sich in einer Stadt neu niederläßt, mit geringem Aufwand eine Gemeinde finden kann, die für ihn zuständig ist. Das gilt für meine Auffassung gerade für Menschen, die die Angebote der Gemeinde nur sporadisch nutzen. In welcher konkreten Gestalt eine solche Gemeinde bestehen sollte, da kann man sicher ganz viel verändern und an den Lauf der Zeit anpassen.

Ich werde den Verdacht nicht los, dass es den Bistümern bei all den Zusammenlegungen in erster Linie um zwei Aspekte geht. Man möchte nach wie vor die Zahl der Pfarreien an die Zahl der Priester anpassen, die in einem solchen Bereich die Leitung übernehmen können. Da die Zahlen der Priester sinken und von den verbleibenden Priestern auch viele nicht willens und in der Lage sind kleine Quasi-Bistümer zu verwalten, muss man am Ende den Weg des Bistums Trier gehen und XXXL-Pfarreien gründen. Hier hat gemäß dem Kirchenrecht dann halt ein leitender Pfarrer die Fäden in der Hand. Und zumindest in ganz wesentlichen Fragen geht nichts an ihm vorbei.

Ich vermute, hier könnten wir noch sehr viel von den Organisationsformen der Pfarreien in Lateinamerika oder in Afrika lernen. Sie setzen sehr auf das Engagement und die Leitungs- und Verkündigungs-Fähigkeiten der Katechistinnen und Katechisten.

Der zweite Aspekt ist, dass die Bistümer bestrebt sind, die jeweiligen Pfarreien zumindest verwaltungsmäßig weiter ordnen zu können und unter Kontrolle zu halten. Dahinter steckt vermutlich ganz viel gute Absicht, man möchte den Überblick behalten, vermeiden, dass einzelne Gemeinden randständige Sonderwege gehen. Ich denke an dieser Stelle hat jeder von Ihnen konkrete Erfahrungen vor Augen mit einer in Deutschland sehr gut durchorganisierten Kirche, die nach wie vor irgendwie funktioniert. An unserem Organisationsgrad kann sich manche andere Organisation orientieren.

Ich glaube nicht, dass wir als katholische Kirche das Prinzip einer möglichst flächendeckenden Präsenz aufgeben sollten. Zumindest nicht, ehe es nicht klare Alternativen gibt, für die ein Großteil aller Engagierten sich mit Lust und Engagement einsetzt.

Der katholische Publizist Andreas Püttmann warnt zu Recht vor einer „Demoralisierung der Minderheit, die das Hochamt am Sonntag und die Angebote der "Territorialgemeinde" schätzen.“ Solange nämlich keine neue Gestalt der Kirche erkennbar ist, stellt diese „Minderheit“ den Glutkern des Christentums in unserer Gesellschaft dar. Das ist kein Plädoyer für einen Rückzug in die Ruinen der guten alten Zeit. Wir müssen in den Lebensspuren Jesu und seiner Jünger*innen neue und kreative Möglichkeiten entwickeln, den Menschen die Botschaft des Evangeliums anzubieten und näher zu bringen. Aber dazu braucht es – wie eine Idee aus der anglikanischen Kirche es ins Bild setzt – die tiefen ruhenden Seen genauso wie die munteren Bäche in der Fläche.

Ich fürchte allerdings, dass der Kirchen-Frust und eine gewisse Lethargie unter den Engagierten, auch unter den Seelsorgerinnen und Seelsorgern inzwischen längst zu einer solchen tiefgehenden Demoralisierung geführt hat und dass dieses Problem von den Bischöfen nicht ausreichend gesehen wird.

Eine Bank in Deutschland kann sich auf ein anderes Geschäftsfeld verlegen, kann Investment-Banking machen, kann mit Aktien handeln und es reicht dann, einige Leuchtturm-Filialen zu unterhalten. Aber als Kirche geht es uns um den einzelnen Menschen. Gerade auch um den, der geistlich und finanziell wenig zu bieten hat. Wir brauchen erreichbare Filialen in der Fläche. Wir müssen offen und ansprechbar bleiben. Kein Sportverein käme auf die Idee, die regionale Präsenz aufzugeben und die Leute mit einem besonders tollen Stadion in die entfernte Stadt zu locken. Dann gäbe es über kurz oder lang keinen Nachwuchs mehr. Wir gehören in den Alltag der Menschen. Wenn wir nicht mehr in der alten Sozialgestalt der Pfarrfamilie auftreten können, dann müssen wir andere Wege der Präsenz finden. Das hat die Kirche immer ausgezeichnet, denken wir nur an die Hauskirchen der ersten Jahrhunderte.

Nicht zu vergessen, dass die gemeinschaftliche Feier der Eucharistie, die Feier der Liturgie und des Gotteslobes die Mitte und die Quelle allen christlichen Lebens ist. Wenn es nicht möglich ist, flächendeckend Eucharistie zu feiern, müssen wir mit Hochdruck Formen entwickeln und pflegen, die in den Menschen die Sehnsucht nach dem Mahl am Tisch des Herrn wecken, nähren. Und ihnen die Möglichkeit bieten, immer wieder zu diesem Herrenmahl hinzutreten (wenn es denn nicht mehr Sonntag für Sonntag geht). Dafür sollte ein Priester dann auch schon mal auf eine Sitzung oder ein anderes pastorales Projekt verzichten können/dürfen.

Ich frage mich, ob das Kirchensteuersystem uns nicht in gewisser Hinsicht dabei im Wege steht. Wir haben nach dem 2. Weltkrieg die kirchlichen Geldströme neu geordnet. Was in Deutschland früher in erster Linie den Gemeinden zuströmte wurde nun in den Diözesen gebündelt. Der immer breitere Geldstrom floß zum Bischof und wurde von dort – in möglichst gerechter Verteilung – in die Gemeinden und Einrichtungen geleitet. Es war wahrscheinlich ein Naturgesetz, dass gleichzeitig auch die Verwaltung wuchs und immer mehr Aufgaben übernahm. Das hat viele Vorteile, aber es hat auch Nachteile.

Es ist an der Zeit, den Gemeinden vor Ort wieder mehr Verantwortung zu geben. Die Menschen müssen sehen, wo ihr Steuergeld hingeht. Ja vielleicht sollte es sogar möglich sein, dass sie ihr Geld bestimmten Projekten in der Gemeinde ihrer Wahl widmen. Auf diese Weise würde vielleicht manches Projekt aufblühen und manche, mühsam am Leben gehaltene pastorale Aktivität würde verkümmern, weil sie im Grunde nur von wenigen geschätzt wird. Wie auch immer man die Balance zwischen Gerechtigkeit und Eigenverantwortung neu regelt, es braucht mehr Verantwortlichkeit und Entscheidungsbefugnis vor Ort. Hier sollten die Bistümer großzügig sein. Und sie sollten dringend Macht und Kontrolle wieder nach unten abgeben. Vielleicht könnte man Einrichtungen wie Kindergärten und Krankenhäuser, Caritas und Altenheime nach einheitlichen Regeln finanzieren. Aber für das konkrete Gemeindeleben, den Erhalte von Kirchen und Pfarrheimen brauchen die Leute vor Ort freie Hand. Ich glaube, dann wären auch notwendige und schmerzliche Enscheidungen einfacher zu fällen und weniger Gruppen ständen demonstrierend vor den bischöflichen Generalvikariaten.

Bliebe noch das Problem der Leitung der Pfarreien, für die es keine Priester mehr gibt. Hier plädiere ich nicht zum ersten Mal dafür, das Amt des Pfarrers zu entschlacken und auch dort Kontrolle aufzugeben. Der Pfarrer soll die Leitung haben, aber er muss nicht jede Entscheidung treffen. Leitung im geistlichen Sinne muss neu definiert werden. Dabei darf der Pfarrer ruhig mehr Macht haben als ein Rabbi oder ein Hodscha, die ja ausschließlich auf ihre geistlichen und pädagogischen Aufgaben beschränkt sind. Und so könnte auch unter der Leitung eines Pfarrers ein Team von ehren- und hauptamtlichen Personen die organisatorische Leitung einer Pfarre in die Hand nehmen. Und diese Leute brauchen klar umschriebene Machtbefugnisse und Verantwortungsbereiche. Ein Pfarrer, der über viel zu viele Kirchenvorstandssitzungen klagt, der sollte den Vorsitz in die Hand der Laien geben und nach dem Prinzip der Subsidiarität die Aufgaben, die vor Ort zu erledigen sind in die Hände derer legen, die von den notwendigen Entscheidungen betroffen sind. Und dann vielleicht in einem Kooperations – Kirchenvorstand nur noch die Dinge mit entscheiden, die die grundsätzliche Ausrichtung der Pfarrei(en) und der Seelsorge in dem – seiner Leitung anvertrauten – Gebiet betreffen oder die Auswirkungen über den einzelnen Kirchturm hinaus haben.

Es ist höchste Zeit, dass die Bischöfe zu einem klaren Bild der Situation in den Gemeinden kommen und eine gemeinsame Vision entwicklen. Auch wenn im Süden Deutschlands die Situation der Kirche noch anders aussieht: der Bischof von Hamburg kann ihnen schildern, wohin die Reise über kurz oder lang gehen wird. Kein Bischof sollte sich der Illusion hingeben, dass die gesellschaftlichen Entwicklungen sich einfach so umkehren und seinen Sprengel nicht in irgendeiner Weise betreffen werden. Es gilt schon jetzt Weichen zu stellen, die über die reine Organisationsentwicklung hinaus gehen. Im Mittelpunkt sollten Werte wie Einfachheit, Bescheidenheit, Präsenz, Offenheit, Ehrlichkeit, Verständlichkeit, Partizipation, selbstloses Engagement, Glaubensfreude und Nähe zu den Menschen stehen. Wenn nicht bald die notwendigen Schritte getan werden, fürchte ich, dass wir uns einzig und allein noch auf die Zusage Jesu Christi, dass die Mächte der Finsternis die Kirche nicht zerstören können, verlassen müssten. Aber das käme mir vor wie das Handeln des einen Dieners, der die anvertrauten Talente vergräbt und sicher für seinen Herrn verwahrt. Ich vermute, der Herr erwartet etwas Anderes von uns.