Es ist nur ein kleiner Nebensatz, aber er hat die Phantasie vieler Generationen angeregt und beflügelt. Kein Krippenspiel kommt ohne eine möglichst dramatische Herbergssuche aus. Maria spürt schon, dass der Moment der Geburt naht. Josef wird zunehmend unruhig, weil er weiß, dass die Zeit verrinnt. (Dieser Beitrag ist Teil des Blogoezese - Adventskalenders 2016.)
Wohl kaum eine Weihnachtspredigt kommt in diesen Zeiten ohne Hinweis auf all diejenigen aus, die in dieser weihnachtlichen Stunde obdachlos und unbehaust durch die Welt wandern.
In unserer Gemeinde senden wir seit einigen Jahren zu Beginn des Advent eine geschnitzte Figur der Hl. Maria aus, die nach dem Vorbild des Gnadenbildes vom Bogenberg in Bayern gestaltet ist. Maria ist erkennbar schwanger, "guter Hoffnung". Gleichzeitig geht auch Josef auf die Reise, wird von Haus zu Haus weiter gegeben und begegnet in manchen Häusern auch mal seiner Verlobten. Ein Gästebuch (oder besser Gastgeberbuch) begleitet die beiden mit Gebetsgedanken und Freiraum für eigene Notizen. Es ist ungemein berührend, was von den Gastgebern dort niedergeschrieben wird. So wird das Buch von Jahr zu Jahr gehaltvoller.
Die Herbergssuche geht zu Herzen! Dabei haben wir im Grunde kein historisch belastbares Wissen über die Geburt Jesu. Manche Exegeten bestreiten gar den kompletten Bericht des Lukas.
Mangels historischer Sicherheit, kann man als Glaubender mit Fug und Recht dennoch den Weg gehen, die Geburtsgeschichte des Lukas einfach für wahr zu nehmen. Für wahr zu nehmen, jedoch auf einer anderen Ebene als die der historischen Wahrheit allein. Mancher reibt sich daran, dass die Evangelien die Geburtsgeschichte sehr unterschiedlich erzählen. Dabei wäre es wichtig zu sehen, dass Lukas in seinem Bericht mehr will, als eine Story zu erzählen. Er vernetzt den Anfang seines Evangeliums auf vielfache Weise mit den Texten des ersten Bundes. Seine ersten Leser haben diese vielschichtigen Anspielungen vermutlich leichter verstanden haben als wir Heutigen.
Lukas trifft mit seinem Halbsatz von der Herbergssuche sicher nicht zufällig genau den Sinn der poetisch und theologisch höher fliegenden Worte des Johannes: "Das wahre Licht, das jeden Menschen erleuchtet, kam in die Welt. Er war in der Welt und die Welt ist durch ihn geworden, aber die Welt erkannte ihn nicht. Er kam in sein Eigentum, aber die Seinen nahmen ihn nicht auf..." Kann man das eigentlich schöner darstellen als in der gespielten und mitempfundenen Herbergssuche?
Allen historischen Kritikern der Weihnachtsgeschichte sei empfohlen, einmal darüber nachzudenken, dass unsere Vorstellung von der Geburt Jesu sowieso wohl stärker von unseren inneren Bildern, von weihnachtlichen Weisen, adventlichen Liedern und Bildern der Kunst geprägt ist als von einer ganz realistischen Vorstellung des Lebens und Reisens im historischen Israel.
Wohl noch nie habe ich eine Krippe gesehen, die sich realistisch an der Lebensweise der Zeitgenossen Jesu orientierte, nämlich an einer Zeit, wo die Ställe unmittelbar an den Wohnraum eines Hauses angebaut waren und sich keineswegs in idyllischer Alleinlage in einsamer Landschaft befanden.
Es ist so, der historische Kern der Weihnachtsgeschichte wird vielfach von Bildern und Vorstellungen überlagert. Und ich glaube inzwischen: das ist auch gut so. Die Wirklichkeit der Weihnacht ist nicht mit der Lupe zu ergründen. Es braucht wohl einen vielschichtigen Zugang, damit sich die Botschaft der Menschwerdung für Herz, Sinn und Verstand erschließt.
In diesem Sinne müßte man eine westfälische Weihnachtskrippe parallel zu einer orientalischen Krippe betrachten und dazu auch noch eine solche in den Blick nehmen, die in einem afrikanischen Dorf steht. Und unerläßlich ist, dazu die Worte der Evangelien hören und zu verkosten in ihrer ganzen Fülle...
Da geht es um eine Wahrheit, die sich manchmal in rätselhaften Worten verhüllt. Sehr schön drückt das Angelus Silesius in einigen Versen aus, die praktischerweise sogar auf Weihnachten Bezug nehmen:
"Halt an, wo läufst du hin - der Himmel ist in dir! Suchst du Gott anderswo. Du fehlts ihn für und für. Wird Christus tausendmal zu Bethlehem geboren und nicht in dir, du bleibst noch ewiglich verloren."
Auch dieser poetische Text taugt nicht zum "wörtlich nehmen" doch steckt eine Wahrheit darin, die zu Herzen geht. Wie im Bericht von der Herbergssuche auch.
Im Krippenspiel ist das Symbol der Herbergssuche die Tür. Auf der einen Seite dieser Tür steht jemand, der sein Zuhause, seine sichere Herberge verteidigt. Er ist beschäftigt mit allem Möglichen, mit Vermietung und Versorgung, mit Ruhe und Ordnung, mit Geld zählen und damit, die Geschäfte der nächten Tage zu planen.
Und vor der Tür stehen Maria und Josef. Auch sie suchen sichere Herberge, suchen Wärme, Liebe, Hilfe, Annahme. Und die suchen sie mehr für ihren Sohn als für sich selbst. Doch sie dürfen die Schwelle nicht überschreiten. Die sichere Herberge des Einen zwingt sie in die Unwirtlichkeit der Nacht, ohne Ob-Dach. Der Stall, den sie schließlich finden – dieser Stall hatte keine Tür, die man sicher verschließen konnte. Er blieb - gastfrei offen - sogar für die Hirten auf dem Felde.
Doch wesentlicher als die Frage, wo nun genau der Stall stand, wie er aussah und welche Tiere und Menschen ihn bevölkerten, viel wesentlicher ist die Frage, ob wir bereit sind, unser Herz dem Herrn der Welt zu öffnen. Ob wir bereit sind ihn einzulassen und seinen Ruf zu hören: "Folge mir nach...."
Ich vermute, dass der Halbsatz, mit dem Lukas die Herbergssuche beschreibt, bedeutsame Folgen in der Geschichte des Christentums hatte. Gastfreundschaft hat einen hohen Stellenwert im Christentum bekommen, selbst dann, wenn wir Gäste aufnehmen, die sich möglicherweise der Gastfreundschaft nicht wert erweisen. Bei unserer Herbergssuche mit den Figuren der Gottesmutter und ihres Bräutigams machen wir übrigens die interessante und wohl auch lebensnahe Erfahrung, dass Maria gut unterkommt. Josef holt man sich weniger gern ins Haus... Dennoch ruft der Verfasser des Hebräerbriefes den Gläubigen zu: "Vergesst die Gastfreundschaft nicht; denn durch sie haben einige, ohne es zu ahnen, Engel beherbergt."
Der Hl. Benedikt weiß in seiner Regel um die Bedeutung der Gastfreundschaft: "Vor allem bei der Aufnahme von Armen und Fremden zeige man Eifer und Sorge, denn besonders in ihnen wird Christus aufgenommen. Das Auftreten der Reichen verschafft sich ja von selbst Beachtung."
Advent, Weihnachten, das ist für uns Westeuropäer etwas fürs "Gemüt". Vielleicht inzwischen sogar schon so sehr für Gemüt, das in all der Lichter und Glühweinseligkeit zugedeckt wird, was für ein Licht dort in eine dunkle Welt kommt. Es ist ein Licht, wie es wohl niemand erwartet hatte. Der neu geborene König macht sich klein. Gott erscheint auf Augenhöhe, mehr noch, er streckt uns die Arme - um Nahrung, Wärme, Liebe bettelnd - entgegen und schließt so erst recht unser Herz auf.
Wenn Maria und Josef an unsere Tür klopfen, dann stellt mir das die Frage: "Bist Du wirklich bereit den Herrn zu empfangen? Erwartest Du ihn mit ganzem Herzen? Bist Du wachsam, öffenest Du die Tür für den Herrn, wenn er kommt..."
Es ist leider so, heute bleiben viele Türen und Herzen fest verschlossen. Jesus, die menschgewordene Liebe Gottes, als kleines, schutzloses, abgewiesenes Kind: Nicht gewollt! Nicht erwünscht! Nicht aufgenommen. So ist es geschehen und so ist es Realität bis auf den heutigen Tag.
Wir sind alle sehr uns selbst beschäftigt. Damals wie heute ist in unserer Welt kein Platz für einen allmächtigen Gott, und noch weniger, wenn dieser so ohnmächtig, so armselig, so schutzlos und ohne Glanz und Gloria in diese Welt kommt.
Und weil wir ihm keinen Raum geben, ihm, dem Heiland der Welt, sind wir auch in der Gefahr, uns selbst zu Gott aufzuspielen und alle Grenzen zu vergessen. Jeder Blick in die Zeitungen zeigt es, wir Menschen wollen das Leben in die Hand nehmen und schießen so oft über jegliches Maß hinaus. Plötzlich sinkt der Wert des menschlichen Lebens und wir nehmen Maß, entscheiden, wer wert ist in unserem Land auf die Welt zu kommen, wer es wert ist, in unserem kostbaren Land leben zu dürfen, welches Leben noch lebenswert ist. Wo immer wir nicht mehr Maß nehmen am Wert des menschlichen Lebens (selbst Mensch zu werden, das war Gott nicht zu gering), da übernehmen unmenschliche Faktoren die Macht, da regiert das Geld, der Markt, der starke Mann, die weiße Rasse, die Gewalt der Waffen und die brutale Hand des Stärkeren.
Es ist leider so: Jesus, die menschgewordene Liebe Gottes, als kleines, schutzloses, abgewiesenes
Kind: Nicht gewollt! Nicht erwünscht! Nicht aufgenommen!
So stand und steht es mit unserer Welt. Das sieht Johannes ganz klar und blickt dabei über das Holz der Krippe hinaus schon bis zum Holz des Kreuzes: Für den Sohn Gottes war und ist kein Raum in der Herberge.
Gott kommt in die Welt und gibt allem Maß und Mitte. Weihnachten ist viel mehr als heile Familie, Gemüt und Gefühl, Lichterglanz, Geschenke und Glühweinseligkeit. Wir dürfen nicht am Kind in der Krippe - an Jesus - vorbei feiern. Ohne das Kind, ohne den Heiland Jesus Christus, ohne die Menschwerdung verkommt das Fest zur Konsumorgie. Und die Türen unserer Herzen und Häuser bleiben dabei fest verschlossen. Da sitzen wir dann gemütlich in der sicheren Herberge und Er? Er bleibt draußen.
Möge es in diesen Tagen für jeden von uns Wirklichkeit werden, was Angelus Silesius so geheimnisvoll wahr beschreibt:
"Halt an, wo läufst du hin -
der Himmel
ist in dir!
Suchst du Gott anderswo.
Du fehlts ihn für und für.
Wird Christus tausendmal
zu Bethlehem geboren
und nicht in dir,
du bleibst noch ewiglich verloren."