Die Rede von Alexander Gauland beim „Kyffhäusertreffen“ Anfang September 2017 schaffte es in den letzten Tagen tatsächlich sogar noch einmal in die Lokalteile unserer Dinslakener Zeitungen. Der Grund dafür war eine offenbar anregende Unterrichtsreihe im Voerder Gymnasium. Am Ende dieser Unterrichtsstunden stand ein aus vier einzelnen Leserbriefen zusammengestellter „offener Brief“ an Alexander Gauland.
Ich bin gespannt, ob Gauland darauf reagiert. Ich fürchte, beeindrucken wird ihn diese Wortmeldung aus der Feder junger Leute wohl nicht, denn schon in der aufgeheizten Vorwahlatmosphäre gab es viel Kritik. Damals schrumpfte diese (kurze) Rede auf einen noch kürzeren Satz zusammen: Wenn Franzosen und Briten stolz auf ihren Kaiser oder den Kriegspremier Winston Churchill seien, „haben wir das Recht, stolz zu sein auf Leistungen deutscher Soldaten in zwei Weltkriegen“. Und zuvor: „Man muss uns diese zwölf Jahre nicht mehr vorhalten. Sie betreffen unsere Identität heute nicht mehr. Und das sprechen wir auch aus. Deshalb haben wir auch das Recht, uns nicht nur unser Land, sondern auch unsere Vergangenheit zurückzuholen.“
Aufschrei! Aufregung! Nazi-Rufe!
Komisch, dachte ich damals. Inzwischen wissen wir doch längst, wie AfD-Wahlkampf funktioniert. Und immer noch fallen alle darauf hinein und verbreiten diese Botschaften auch noch quer durch das Land. Die Debatte hat mich jedenfalls nicht motiviert, mir die gesamte Rede einmal anzuhören.
Trotzdem machte mich neugierig, was Jugendliche aus meiner Stadt zu dieser Rede zu sagen hatten. Mein erster Eindruck: „Aha, sie gehen zunächst auf Gauland zu.“ Dann folgt aber im Grunde nur die schon anderswo oft geäußerte Kritik. Mein abschließender Eindruck: „Das wird unter Gaulands Getreuen niemanden beeindrucken!“ Doch einen engagierten AfD-Unterstützer aus meinem Umkreis schien es doch zu beeindrucken. Er verfasste eine scharfzüngige Replik, die er über Facebook veröffentlichte und auch als Leserbrief den Zeitungen zustellte.
„Da setzt sich ein „mutiges“ Häuflein Oberstufenschüler - angestoßen und unterstützt von ihrem LK-Lehrer – bewaffnet mit dem unerschöpflichen archive.org- und erweiterten Wikipedia-Wissens eines Geschichts-Leistungskurslers gemütlich hin, den Big Mac in der linken, das Smartphone in der rechten Hand, vielleicht gar noch ein Che Guevara-Konterfei als Sticker an Shirt oder Schulbeutel und textet in sein sprachgesteuertes Endgerät einen „Offenen Brief“ an Alexander Gauland, in welchem es der interessierten Leser-Welt die seiner Auffassung nach einzig korrekte Sicht auf Millionen Deutsche in Uniform darlegt.“ Das alles sei "Mainstreamgefasel".
Huch, dachte ich. Da ist aber einer sauer! Also schenkte ich gestern abend Herrn Gauland 17 Minuten meiner Zeit und hörte mir seine Rede an. Und das Filmchen würde ich auch empfehlen, denn der reine Text ist das Eine, die Art des Auftritts und die Rufe des Publikums ergänzen allerdings, was am nackten Text noch fehlt.
Der Kyffhäuser, den ich vor einigen Jahren nach dem Mauerfall einmal besuchen konnte, ist ein mythologischer Ort, vielfach aufgeladen durch die Geschichte, Mythen und Sagen und deren Inszenierung in den vergangenen Jahrhunderten. Hier stimmt sicher der Vorwurf Voltaires „Geschichte ist die Lüge, auf die man sich geeinigt hat.“ Kern der mythologischen Aufladung des Ortes ist die Sage, dass in einer Höhle des Kyffhäuserberges Kaiser Friedrich I. (Barbarossa) schläft. Er schläft, um einst als Messias, als Erlöse mitsamt seinen Getreuen eines Tages zu erwachen, das Reich zu retten und es wieder zu neuer Herrlichkeit zu führen. Das sogenannte „Kyffhäusertreffen“ ist eine Aktion der von Björn Höcke angeführten „Bewegung“ „Der Flügel“ innerhalb der AfD. Offenbar möchte man sich am Mythos des Kyffhäuser bedienen und die dortigen Auftritte mit diesen historischen Mythen aufladen.
Hier konnte Alexander Gauland eine Rede halten. Meine erste Erkenntnis: So langweilig ist der Mann gar nicht! Man merkt ihm an, dass er politisch mit allen Wassern gewaschen ist. Gauland hat ja in seiner Biografie eine intensive Geschichte als Spitzenpolitiker der CDU. Die Rede kreist um das Thema deutsche Kultur, sie reißt viele Themen an – aber im Grunde geht es doch nur ein Eines, eine umfassende Replik auf einen Satz der Integrationsbeauftragten der Bundesregierung und einen Angriff auf Aydan Özoguz, in der Gauland offenbar einen zentralen politischen Gegner erblickt hat. Sicher nicht zufällig, verkörpert sie doch in Person einen Gegenentwurf zu einem zentralen Themenfeld der AfD-Politik.
Im Grunde dreht sich die ganze Rede Gaulands um eine unkluge Wortmeldung der SPD-Politikerin, die in einem Tagesspiegel – Text behauptet hatte: „Eine spezifisch deutsche Kultur ist, jenseits der Sprache, schlicht nicht identifizierbar.“ Sie antwortete damit auf die wieder aufgeflammte Diskussion um das Stichwort einer „deutschen Leitkultur“. Politisch klug war diese Formulierung sicher nicht und in dieser Formulierung ist das ja auch schlicht falsch. Eine Steilvorlage für jemanden wie Alexander Gauland.
Ihr hält Gauland nun entgegen, was er als deutsche Kultur erkannt hat. Er erinnert an bedeutsame Gestalten der deutschen Geschichte und Kultur und stellt die Frage, ob Özoguz dies alles nicht kenne und ob eine solche Frau überhaupt geeignet sei, die Integration von Ausländern, für die sie ja verantwortlich sei, in irgendeiner Weise voranzubringen. Gauland ruft aus, er würde nicht zulassen, dass diese reiche Geschichte von einer türkischstämmigen Deutschen entsorgt würde.
Als Gauland erstmals auf Özoguz zu sprechen kam, kommt Leben in die Versammlung auf dem mythischen Hügel, erklangen aus dem Publikum die Rufe „Abschieben“ und „Entsorgen!“
Gauland rechnet vor, dass in den Parteiprogrammen der „Altparteien“ nur fünf mal von Deutschen die Rede sei und 400 mal nur von Menschen gesprochen würden. („Pfui! Pfui“ - Rufe aus dem Publikum.) Nur im AfD-Parteiprogramm sei immerhin 15 mal vom deutschen Volk die Rede, denn „Wir sind die Partei der Deutschen!“. Man ehre und achte die Farben und historischen Traditionen Deutschlands.
In Anspielung an abgehängte Bilder des Soldaten Helmut Schmidt in Wehrmachtsuniform vereinnahmt er den Sozialdemokraten als „patriotischen Deutschen“. Zur deutschen Geschichte gehörten „Staufenberg und Rommel“ und die Schlachtfelder von 1870 – 1918, deren Namen er, abschließend mit Verdun, aufzählt.
Das Ganze gipfelt dann in den schon oben zitierten Sprüchen über die deutsche „falsche Vergangenheit“, die aber die Identität der heutigen Deutschen nicht mehr betreffe, da man damit ja schon gründlich aufgeräumt und aufgearbeitet habe, was vom Publikum mit begeisterten „Gauland, Gauland!“ - Rufen quittiert wird.
Mit Verweis auf Bismack bekennt der Redner sich zu Bismarck und zur Zusammenarbeit mit anderen Ländern, ein starkes Deutschland im Verbund mit Russland – England – Frankreich und beendet seine Rede mit einem historischen Zitat aus der von Schiller gestalteten Sage von Wilhelm Tell:
„Seid einig, einig, einig.
Wir wollen sein ein einzig Volk von Brüdern,
in keiner Not uns trennen und Gefahr.
Wir wollen frei sein, wie die Väter waren,
Lieber den Tod, als in der Knechtschaft leben.“
Da sitze ich nun vor dem Computer, während der Applaus nach der Rede gerade verklungen ist. Und schüttele mich! Ich bin in der Tat etwas erschüttert. Aber nicht so sehr über die Inhalte der Rede, sondern über die Atmosphäre und den Applaus, immer an den falschen Stellen, sowie die Zwischenrufe, die mir genauso verkehrt vorkommen.
Denn Jubel und Applaus gab es nur, wenn spitze Bemerkungen fielen, gegen politische Gegner oder das, was man in der AfD als Mainstream der Geschichtsbetrachtung und „Schuldkult“ interpretiert.
Man ist ja durchaus geneigt, Gauland zuzugestehen, dass hier und da mit unserer Geschichte „gerechter“ und weniger einseitig umzugehen wäre. Mir fallen durchaus Lücken im Geschichtsbewußtsein meiner Mitmenschen und im Geschichtsunterricht meiner Kinder auf. Vielleicht macht es ab und an Sinn, die Lehrpläne einmal zu überarbeiten. Vermutlich verdiente dieses Fach auch mehr Gewicht gegenüber den anderen Kernfächern.
Kann man stolz sein auf die Leistungen von Soldaten in zwei Weltkriegen? Mir geht dieses Gefühl völlig ab, selbst wenn ich an meinen eigenen Urgroßvater denke, der im 1. WK Soldat war und meinen Großvater, der im 2. WK einer Granate zum Opfer fiel und dessen Wehrmachtsbriefe ich einmal lesen konnte. Stolz auf deren „Leistungen“? Ich weiß das gar nicht, was sie konkret geleistet hatten. Stolz bin ich auf ihre Sorge um die ihnen anvertrauten Menschen, seien es Kameraden, sei es die Familie, die Kinder. Stolz wäre ich, wenn ich sicher sagen könnte, sie haben sich nicht an Kriegsverbrechen beteiligt. Aber wenn doch? Ich weiß nichts darüber, und alles, was ich über Krieg weiß, sagt mir, dass die „Leistungen“ der Soldaten auf der einen oder anderen Seite der Front für sich genommen und auf den Einzelnen geschaut vielleicht achtens- und bewundernswert waren, aber in der Folge doch Zerstörung gebracht haben, Leid, Vernichtung, Verheerung. Was für ein kranker Stolz sollte das sein? Stolz auf Kriegsleistungen an sich? Stolz auf die grandiose naturwissenschaftliche Leistung eine Atombombe gebaut zu haben? Ich kann das nicht! Und, lieber Herr Gauland, mir fehlt auch nichts ohne diesen Stolz. Was fehlt eigentlich denen, die gern "stolz" darauf wären?
Trotzdem gehe ich immer wieder zum Kriegerehrenmal in Vreden und stelle am Namen meines Großvaters eine Kerze ab. Während heutzutage die Gräber unserer Lieben nach 25 bzw. 35 Jahren dem Erdboden gleichgemacht werden, gehen wir doch noch immer Jahr zu Jahr zu den Orten, wo der Soldaten gedacht wird, die in den Kriegen starben. Weil sie zumindest in dem Willen losgezogen sind, ihre Heimat und ihre Lieben zu verteidigen. In der Kirche von Götterswickerhamm sind sogar noch die Soldaten verzeichnet die im „Heiligen Krieg“ gegen Frankreich 1870/1871 ihr Leben lassen mussten. Besonders stolz bin ich auf meine Oma, die ihre beiden Jungs trotz des Kriegstodes ihres Mannes gut aufzog, mit Hilfe ihrer Familie. Stolz bin ich auf sie, die ihrem Mann zeitlebens treu blieb, bis der Tod sie beide dann wieder neu verband – in Gottes Reich!
Und an dieser Stelle läßt Gauland bei mir die größte Befremdung und Unsicherheit zurück. Nämlich dort, wo er das Zitat der die Schiller – Formulierung des Rütli – Schwurs abbricht. So erscheinen mir viel aufschlußreicher als die Rede selbst, die Leerstellen, die der Redner läßt. Denn der Schwur geht ja weiter:
„Wir wollen trauen auf den höchsten Gott
und uns nicht fürchten vor der Macht der Menschen.“
Warum fehlt dieser Satz? Er ist doch ausreichend pathetisch auch (und gerade) für den Kyffhäuser!
Vielleicht, weil zu den Worten „trauen auf den höchsten Gott“ das Schweigen (und der Begeisterungsmangel) der Zuhörer genauso groß gewesen wäre wie bei der Nennung der Namen Heine, Lessing oder Goethe?
Und dann wird mir klar, was bei der ganzen Rede fehlte. Es kam keine einzige Person darin vor, die für die reiche religiöse Geschichte unseres Landes steht, keine Person, die für den gläubigen Aspekt des Redens vom christlichen Abendland stehen könnte. Kein Wort von Bonifatius, Karl dem Großen, Thomas von Aquin, von Albertus Magnus, von Bruno von Köln, von Petrus Canisius, Gertrud und Mechtild von Hackeborn, Elisabeth von Thüringen, Adolph Kolping und Alfred Delp. Nur Martin Luther (und sein Deutsch) muss herhalten für die beschworene „Dominanz (einer vergangenen Epoche) deutscher Kultur und Sprache in Europa“.
Und diese gewaltige Leerstelle macht mir viel mehr Sorge als die Provokationen um den Stellenwert „dieser zwölf Jahre“ im Bewußtsein der Deutschen oder die Diskussion, ob man stolz auf die deutsche Wehrmacht sein kann. Und hier würde ich von Herrn Gauland auch gern mal etwas hören. Vielleicht beim nächsten Treffen auf dem Kyffhäuser? Und dann würde ich auch versprechen nicht sechs Wochen zu warten, bis ich mir das anhöre.