Beinahe aus heiterem Himmel überraschte
der emeritierte Papst Benedikt XVI. die katholische Welt mit einem
umfassenden Schreiben zu einigen Aspekten der Krise, in die die
katholische Kirche durch die Aufdeckung lange unter der Decke
gehaltener Fälle körperlicher, spiritueller und gar sexueller
Gewalt, geraten ist.
Überraschend, dass der 91jährige,
265. Bischof von Rom sich aus dem selbst gewählten Leben in Stille
und Zurückgezogenheit erneut zu einem derart
öffentlichkeitswirksamen Thema zu Wort meldet. Sicher auch ein
Zeichen, dass ihn die aktuelle Krise zuinnerst berührt.
(Morgen
feiert er übrigens seinen 92. Geburtstag.)
Sein 15seitiger Artikel, den er aus
Notizen zusammenstellte, die er sich in den vergangenen Jahren zu
diesem Thema gemacht hatte, erschien in deutscher Sprache im
bayrischen Klerusblatt, einer Zeitschrift, der er über Jahrzehnte
eng verbunden war. Sein Sekretär, Erzbischof Georg Gänswein
beteuerte dieser Tage, dass Benedikt den Text eigenhändig verfasst
habe.
Liest man die Kommentare und Analysen
in weltlichen wie theologischen Zeitungen und verfolgt die
Diskussionen in den sozialen Medien … muss es im Grunde mindestens
zwei völlig unterschiedliche Variationen dieses Aufsatzes geben. Auf
der einen Seite beinahe frenetischer Jubel, auf der anderen Seite ein
vollständiger Verriß, der jede Achtung vor der Lebensleistung des
Joseph Ratzinger vermissen läßt. Gemäßigte Stimmen sind selten,
im Grunde gibt es nur „Pro und Contra“. Inzwischen melden sich
auch Fachtheologen reihenweise zu Wort, die zwar unwesentlich
gemäßigter reagieren, aber je nach kirchenpolitischer Ausrichtung
ablehnend bis freudig. Die deutschen Bischöfe verhalten sich derzeit
noch auffällig zurückhaltend.
Wie wenig manche vollmundige
Kommentatoren dabei über Benedikt XVI. wissen, das offenbarte
ausgerechnet der CICERO in einem Tweet: „Als er noch Papst war,
hat er geschwiegen über den massenhaften sexuellen Missbrauch von
Kindern. Jetzt meldet sich Papst Benedikt plötzlich zu Wort. Sein
Beitrag dürfte jedoch nicht dazu beitragen, die Aufarbeitung zu
befördern.“
Und ein im Grunde stets besonnener
Priester schreibt auf facebook: „Die Kritiker Benedikts XVI.
schäumen nun vor Wut. Sie können das Licht der Wahrheit nicht
vertragen, da sie sich auf die Finsternis eingelassen haben. Jetzt
schmerzen ihre Augen.“
Das ist eine Atmosphäre, in die hinein
Kardinal Müller, einst enger Mitarbeiter des emeritierten Papstes,
inzwischen aber außer Dienst gestellte Präfekt der
Glaubenskongregation, mit spürbarer Freude etwas Öl ins lodernde
Feuer gießt, so gerade eben in einem Interview mit der DPA:
Ex-Papst Benedikt XVI. habe mit seinem
Schreiben als Einziger etwas Sinnvolles zur Missbrauchsdebatte in der
katholischen Kirche beigetragen. „Benedikt hat in seinem
Schreiben die Eiterbeule aufgestochen“. „Mit seinen 92
Jahren hat Benedikt XVI. einen Text verfasst, der intelligenter ist
als alle Beiträge auf dem römischen „Missbrauchsgipfel“ und der
neunmalklugen Moral-Experten bei der Deutschen Bischofskonferenz
zusammen. Man sucht überall nach Schuldigen, umschleicht aber wie
die Katze den heißen Brei“, sagte Müller. „Und das ist
das falsche materialistische Menschenbild mit der Reduktion der
Sexualität auf eine Ware und egoistische Genussmittel.“
Wie mag das den Menschen in den Ohren
klingen, die in den letzten Monaten durchaus sehr sinnvolle Beiträge
zur Missbrauchsdebatte geleistet haben?
Wenn es eine dem Postillion ebenbürtige
katholische Satireseite gäbe, wäre man versucht zu denken, es habe
sich einer einen gelungenen Scherz erlaubt. Aber das ist offenbar der
Duktus eines katholischen Kardinals auf dem Höhepunkt der größten
Krise, die die katholische Kirche seit vielen Jahren durchlebt.
Christen streiten auf dem Niveau gewisser politischer Parteien um die
richtigen Schritte zu einen neuen Aufbruch in der Kirche.
Wobei zur Ehrenrettung der Politik wäre
noch zu sagen: Dort ist der Konflikt im besten Falle etwas
inszeniert, um die Wähler zu motivieren und Themen zu profilieren.
Hinter den Kulissen wird meist manierlich diskutiert und um Lösungen
gerungen. Und nach der Sitzung trinkt man auch mal ein Bier. In der
Kirche geht es aktuell offenbar eher um Leben und Tod, Himmel und
Hölle, unumstössliche Wahrheit und Abfall vom Glauben. Kardinal
Müller über die Gegenseite: „Das sind Leute, die weder glauben
noch denken!“
Kein Wunder, dass viele Menschen dieser
Art von Kirche kopfschüttelnd und enttäuscht den Rücken kehren.
Ja, es gibt höchst unterschiedliche Auffassungen, wie angemessene
Reaktionen auf die Krise aussehen könnten und wie die Krise zu
überwinden ist. Aber ich bin schon der Meinung, dass wir als
Christen auf andere Weise für unsere Überzeugungen streiten
sollten. So, dass wir uns dabei noch in die Augen schauen können.
Und so, dass wir einander in der Hl. Messe noch mit ehrlicher
Überzeugung den Frieden wünschen können.
Grundsätzlich gehe ich erst einmal
davon aus, dass eine Jacqueline Straub, die für das Priestertum der
Frau streitet, ein Joachim Frank, der als Journalist für eine
liberalere Kirche eintritt, ein Kardinal Sarah, der zutiefst erfüllt
ist von altüberlieferten liturgischen Gesten und Haltungen, dass ein
Papst Franziskus, ein Bischof Oster und ein Bischof Wilmer alle nach
dem rechten Weg im Glauben suchen, den Weg, auf den Jesus Christus
uns sehen möchte. Es ist hohe Zeit die Spaltungen zu überwinden und
die Spalter zur Mäßigung zu rufen. Unser Streit sollte ein Niveau
haben, wie es die Apostelgeschichte vom Streit zwischen den Aposteln
Petrus und Paulus berichtet. Wir sollten unserem kirchenpolitischen
Gegenüber nicht böse Absichten unterstellen und alle gemeinsam um
den richtigen Weg ringen. Das gelingt nur, wenn wir uns an Evangelium
und Tradition ausrichten, wenn wir bereit sind zu lernen und zu
verstehen und dem Anderen mit Vertrauen und Freundlichkeit gegenüber
treten. Vor allen großen Kirchenreformen hätten wir da aktuell erst
einmal genug zu tun. Es kracht gewaltig im Gebälk der katholischen
Kirche. Wir müssen aufpassen, dass wir nicht in Kürze in den Ruinen
unserer Kirche im Regen stehen.
Ich glaube, wir müssen als Menschen
guten Willens und unterschiedlicher Überzeugung mehr miteinander
nach neuen Wegen Ausschau halten, vor allem nach gemeinsamen
(Pilger-)wegen. Die Spalter und Durcheinanderbringer – die es
durchaus auch gibt – sind mit etwas gutem Willen leicht zu
identifizieren. Wie Papst Benedikt XVI. in seinem Schreiben sagt, so
duldet Gott in seiner Kirche das Unkraut und den Weizen. Wir sollten
nicht allzu vorschnell beginnen die falschen Pflanzen auszureißen.
Ich muss gestehen, dass das Schreiben
von Papst Benedikt auch mich zunächst verstört hat. Daher habe ich
mir die Zeit genommen es in Ruhe zu lesen. Die Anmerkungen, die mir
bei der Lektüre in den Sinn gekommen sind möchte ich an dieser
Stelle weiter geben. Kritisch, aber auch mit dem gebotenen Respekt
vor der Lebensleistung eines großartigen Theologen und
Kirchenmannes, den ich stets geschätzt, respektiert, zeitweise
verehrt habe. Aber es macht ja auch keinen Sinn, dort nicht zu
widersprechen, wo sich Fragen stellen oder die eigenen Überzeugungen
zum Widerspruch rufen.
Auf den einleitenden Satz Benedikts
z.B. sollten sich doch alle, die die Kirche im Herzen tragen, einigen
können: „Der Umfang und das Gewicht der Nachrichten über
derlei Vorgänge haben Priester und Laien zutiefst erschüttert und
für nicht wenige den Glauben der Kirche als solchen in Frage
gestellt. Hier mußte ein starkes Zeichen gesetzt und ein neuer
Aufbruch gesucht werden, um Kirche wieder wirklich als Licht unter
den Völkern und als helfende Kraft gegenüber den zerstörerischen
Mächten glaubhaft zu machen.“
Diesem Neubeginn möchte der em. Papst
mit seinen Gedanken unterstützen.
Zunächst stellt er den Wandel der
Sexualmoral rund um die sog. 68er – Bewegung in den Mittelpunkt
seiner Überlegungen: „Man kann sagen, daß in den 20 Jahren von
1960 – 1980 die bisher geltenden Maßstäbe in Fragen Sexualität
vollkommen weggebrochen sind und eine Normlosigkeit entstanden ist,
die man inzwischen abzufangen sich gemüht hat.“
Ich kann gut nachvollziehen, dass ihn
dieser Wandel sehr bewegt hat. Er erlebte diesen auf dem Höhepunkt
seiner wissenschaftlichen Laufbahn aus allernächster Nähe mit und
offenbar hat dieser Wandel ihn sehr irritiert und beschäftigt. Mit
Blick auf die Situation der Kirche zieht er das Fazit: „Der
weitgehende Zusammenbruch des Priesternachwuchses in jenen Jahren und
die übergroße Zahl von Laisierungen waren eine Konsequenz all
dieser Vorgänge.“
Dass es nach dem 2.
Vatikanum zu diesen Phänomenen kam, ist ja in der Tat ein
verwirrendes Faktum, das bis dato noch wenig aufgearbeitet wurde.
Es ist sicher berechtigt, diesen 1.
Absatz des Schreibens daraufhin zu befragten, ob hier nicht nur die
negativen Seiten der sexuellen Revolution in den Focus gestellt
wurden. Die ist ja nicht von finsteren Mächten angestiftet worden,
sondern war die Folge eines breiten gesellschaftlichen Wandels.
Dass die Kirche und damit der
emeritierte Papst und langjährige Präfekt der Glaubenskongregation
in der sexuellen Revolution plötzlich keinen Widerspruch zur
kirchlichen Lehre mehr erkennen würde, kann im Grunde auch niemand
erwartet haben. Von daher ist die Betroffenheit vieler Kommentatoren
da etwas scheinheilig.
Problematisch empfinde ich im Text des
ehemaligen Pontifex die sehr allgemein gehaltene Bemerkung zum Ende
des 1. Absatzes: „Zu der Physiognomie der 68er Revolution
gehörte, daß nun auch Pädophilie als erlaubt und als angemessen
diagnostiziert wurde.“
Man darf sicher mit Fug und Recht auch
auf die negativen Folgen und auch die Irrwege der sexuellen
Revolution hinweisen. Da gab es auch mit Blick auf die Sexualität
von Kindern und Jugendlichen ausgesprochen obscure Sichtweisen. Aber
insgesamt gesehen wurde Pädophililie mitnichten als erlaubt und
angemessen betrachtet. Erst recht nicht, wenn man die normalen
Menschen betrachtet, die nicht im Auge des Sturms der sexuellen
Revolution irgendwelche neuen Theorien entwickelten. Bis zum
heutigen Tag haben die Menschen jedoch ein feines Gespür dafür,
dass Kinder (erst recht die eigenen Kinder) vor Grenzverletzungen und
sexueller Gewalt bewahrt werden müssen. Und die zunehmend klareren
gesetzlichen Regelungen zur Verhinderung von Mißbrauch und Therapie
und Bestrafung der (möglichen) Täter sind sicher auch eine Frucht
intensiver Reflexion.
Im Kontext der sexuellen Revolution in
der Gesellschaft im Gefolge der 68er – Bewegung schildert Benedikt
XVI. nun ausführlich einige problematische Entwicklungen in der
Moraltheologie der Kirche. Da geht es um die Bedeutung des
Naturrechts und der Rolle der Bibel, um die (Un-)möglichkeit eine
Morallehre nur auf der Bibel aufzubauen, um Konflikte zwischen den
universitären Moraltheologen und dem kirchlichen Lehramt. Am
Beispiel des Moraltheologen Franz Böckle schildert der emeritierte
Papst den Kernkonflikt, nämlich die These, ob es in der Sicht der
Moraltheologie Handlungen geben könne, die immer und unter allen
Umständen als schlecht einzustufen seien. Hier haben ihm viele
Kommentatoren zum Vorwurf gemacht, dass Franz Böckle (der gegen eine
solche Entscheidung Widerstand angekündigt hatte), zum Zeitpunkt der
Veröffentlichung der entsprechenden päpstlichen Enzyklika bereits
verstorben war.
Hier mag es sich um eine sehr abstrakte
moraltheologische Diskussion handeln, aber mit Blick auf Pädophilie
finde ich, handelt es sich hier ja doch um Taten, die immer und unter
allen Umständen als schlecht einzustufen sind.
Kardinal Müller fasst diese Gedanken
seines Landsmannes mit den Worten zusammen: „Das grundsätzliche
Problem bestehe in einem Zusammenbruch der bürgerlichen Moral und
dem aus seiner Sicht missglückten Versuch "einer katholischen
Moralbegründung ohne das Naturrecht und die Offenbarung".
Interessant – und bedenklich finde
ich die bisher noch wenig beachteten, abschließenden Bemerkungen,
mit denen Benedikt sich Gedanken zur Zukunft des Christentums macht:
„In der alten Kirche wurde das Katechumenat gegenüber einer
immer mehr demoralisierten Kultur als Lebensraum geschaffen, in dem
das Besondere und Neue der christlichen Weise zu leben eingeübt
wurde und zugleich geschützt war gegenüber der allgemeinen
Lebensweise.“ Hiervon ausgehend fordert er „katechumenale
Gemeinschaften“, in denen sich christliches Leben behaupten könne.
Also letztlich, ein Rückzug aus der Welt in Reservate des
Christlichen. Benedikt greift damit einen in jüngster Zeit wieder
populären Gedanken auf, der in manchen christlichen Kreisen
diskutiert wird.
Den 2. Teil seiner Gedanken beginnt
Benedikt XVI. mit der Information, dass sich im Zuge der 68er –
Bewegung in den Seminaren regelrechte Clubs schwuler Seminaristen
bildeten. Für ihn ein Symptom des Zusammenbruchs der überlieferten
Priesterausbildung. Es ist übrigens die einzige Stelle, wo er das
Thema Homosexualität erwähnt, wenn auch nur im Sinne einer
Illustration seiner Gedanken.
Besonders verstörend ist es für mich
als Pastoralreferenten, dass in diesem Zusammenhang in demselben
Absatz neben dem Skandal der homosexuellen Clubs folgendes erwähnt
wird: „In einem Seminar in Süddeutschland lebten
Priesteramtskandidaten und Kandidaten für das Laienamt des
Pastoralreferenten zusammen. Bei den gemeinsamen Mahlzeiten waren
Seminaristen, verheiratete Pastoralreferenten zum Teil mit Frau und
Kind und vereinzelt Pastoralreferenten mit ihren Freundinnen
zusammen. Das Klima im Seminar konnte die Vorbereitung auf den
Priesterberuf nicht unterstützen.“
Dieser Abschnitt liest sich mehr als
sonderbar. Wie soll Priesterausbildung durch den Kontakt mit
verheirateten Männern bzw. bald verheirateten Männern in Gefahr
sein? Welches Seminar meint er eigentlich? In Süddeutschland? Und
geht es nur um das gemeinsame Studium von Priesteramtskandidaten mit
anderen Theolog*innen, die dann auch im Seminar Wohnung nahmen? Junge
Priester und Diakone haben doch schon unmittelbar nach der Weihe ganz
vielfältige Kontakte mit jungen Männern, Frauen, Eheleuten. Warum
sollte es schädlich sein, wenn sie Kommilitonen erleben, die nicht
im Zölibat leben.
Sicher prägt es die Atmosphäre in
einer Priesterausbildung, wenn auch andere Personen im Haus anwesend
sind. Das bringt aber höchstens eine gewisse sehr besondere
Atmosphäre in Gefahr, bei der es fraglich ist, ob sie in der
heutigen Zeit überhaupt noch förderlich ist – mit Blick auf den
Einsatz der Priester in den Gemeinden, mitten unter den Menschen.
Über die unterschiedlichen Facetten
der stürmischen Reformen, die einige Bischöfe in ihren Seminaren
für sinnvoll hielten, kann ich mir kein Urteil erlauben. Insgesamt
konstatiert ja auch Benedikt XVI., dass sich die Situation nach
einigen unruhigen Jahren wieder verbessert habe.
„Die Frage der Pädophilie ist,
soweit ich mich erinnere, erst in der zweiten Hälfte der 80er Jahre
brennend geworden.“ stellt er fest. Als sich die Aufmerksamkeit
des Hl. Stuhls auf die Problematik richtete, fand man zunächst
offenbar nicht sofort die richtigen Instrumente, mit den Tätern
umzugehen. Insbesondere ein sog. „Garantismus“, der vor allem die
Rechte des Angeklagten in den Mittelpunkt stellte, erschwerte
offenbar adäquates und konsequentes Handeln.
Benedikt verweist auf einen spannendes
Wort Jesu, welches sagt: „Wer einen von diesen Kleinen, die an
mich glauben, zum Bösen verführt, für den wäre es besser, wenn er
mit einem Mühlstein um den Hals ins Meer geworfen würde“ (Mk 9,
42). Dieses Wort spricht in seinem ursprünglichen Sinn nicht von
sexueller Verführung von Kindern. Das Wort „die Kleinen“
bezeichnet in der Sprache Jesu die einfachen Glaubenden, die durch
den intellektuellen Hochmut der sich gescheit Dünkenden in ihrem
Glauben zu Fall gebracht werden können. Jesus schützt also hier das
Gut des Glaubens mit einer nachdrücklichen Strafdrohung an
diejenigen, die daran Schaden tun. Die moderne Verwendung des Satzes
ist in sich nicht falsch, aber sie darf nicht den Ursinn verdecken
lassen.“
Es fällt hier ins Auge, dass Benedikt
den Satz nicht mit Blick auf die Opfer der Angeklagten liest, sondern
mit Blick auf deren Gläubigkeit, die durch die Handlungen des Täters
gefährdet sei. Das liegt sicher auf der Linie der Verkündigung Jesu
und der Perspektive dass es auch um das ewige Heil des Menschen geht.
Für Benedikt verschärft dieser Aspekt die Greultaten der
priesterlichen Täter noch weit über die unmittelbaren Folgen
sexueller Gewalt hinaus. Aber weitere Worte zu den innerweltlichen
Folgen wären hier doch sehr notwendig gewesen.
An dieser Stelle gähnt in Benedikts
Schreiben leider eine gewaltige Lücke. Hier wäre der Raum gewesen,
über die Folgen der Taten für die Opfer zu sprechen. Über die
notwendige Solidarität mit den Opfern, über Wiedergutmachung und
Hilfe durch die Institution, die den Tätern die Möglichkeit zu
ihren Verbrechen geboten hatte. Auch über Strafen, für diejenigen,
die die Täter haben davon kommen lassen, hätte er etwas sagen
können.
Auf dieser Linie liegt auch das sehr
persönliche Beispiel, dass er später im Text anführt: „Eine
junge Frau, die als Ministrantin Altardienst leistete, hat mir
erzählt, daß der Kaplan, ihr Vorgesetzter als Ministrantin, den
sexuellen Mißbrauch, den er mit ihr trieb, immer mit den Worten
einleitete: „Das ist mein Leib, der für dich hingegeben wird.“
Daß diese Frau die Wandlungsworte nicht mehr anhören kann, ohne
die ganze Qual des Mißbrauchs erschreckend in sich selbst zu spüren,
ist offenkundig. Ja, wir müssen den Herrn dringend um Vergebung
anflehen und vor allen Dingen ihn beschwören und bitten, daß er uns
alle neu die Größe seines Leidens, seines Opfers zu verstehen
lehre. Und wir müssen alles tun, um das Geschenk der heiligen
Eucharistie vor Mißbrauch zu schützen.“
Mit den Worten: „Was müssen wir
tun? Müssen wir etwa eine andere Kirche schaffen, damit die Dinge
richtig werden können? Nun, dieses Experiment ist bereits gemacht
worden und bereits gescheitert. Nur der Gehorsam und die Liebe zu
unserem Herrn Jesus Christus kann den rechten Weg weisen.“
beginnt der emeritierte Papst den dritten Abschnitt seiner
Überlegungen und läßt eine sehr tiefgründige Katechese über Gott
und Welt, Offenbarung und den Sinn des Lebens folgen. Hier würde ich
mir von evangelischen Geschwistern wünschen, dass sie den Satz nicht
als Spitze gegen die reformierten Kirchen lesen, sondern als
schlichte Beschreibung des allgemeinen Zustands: In Sachen Glauben
steht die eine Kirche nicht besser da als die andere.
Dann diagnostiziert Benedikt XVI. die
Krise der westlichen Gesellschaften, die vor allem darin begründet
liege, dass in ihr Gott tot sei und dieses sei dann „das Ende
ihrer Freiheit, weil der Sinn stirbt, der Orientierung gibt. Und weil
das Maß verschwindet, das uns die Richtung weist, indem es uns gut
und böse zu unterscheiden lehrt.“
Seine Gedanken gehen dann über in die
These, dass angesichts der schwindenden Maßstäbe die Pädophilie
sich immer weiter ausgebreitet habe. „Wieso konnte Pädophilie
ein solches Ausmaß erreichen? Im letzten liegt der Grund in der
Abwesenheit Gottes. Auch wir Christen und Priester reden lieber nicht
von Gott, weil diese Rede nicht praktisch zu sein scheint.“
Immerhin nimmt er sich selbt
nicht einmal von diesem Vorwurf aus.
Diesen Gedanken des schrittweisen
Verdrängens der Gottesfrage bezieht Benedikt XVI. auch auf das
Altarsakrament. Wo der Glaube an die Existenz Gottes schwindet bzw.
an Kontur verliert, da wird auch die Eucharistie bedeutungsloser bis
hin zum reinen Gemeinschaftsmahl.
Es wird klar, worum es ihm in diesem
Abschnitt geht. Er erwartet für die Kirche Zukunft nicht aus eher
oberflächlichen Reformen der Kirchenstrukturen, nicht aus einem Ende
des Klerikalismus, nicht aus einer erneuerten Sexualmoral, nicht in
einer weitgehenden Gleichberechtigung männlicher wie weiblicher
Glaubender. Die Zukunft der Kirche liegt allein in einem Wachsen im
Glauben, in einer wieder stärkeren Verankerung in Gott und im Leben
nach seinen Weisungen.
In der Tat ist diese Mahnung sicher
nicht unberechtigt. Das Thema wird aktuell in der Kirche ja breit
diskutiert, wenn auch mit offenbar wenig Hoffnung auf einvernehmliche
Lösungen. Vieles, was landauf, landab gefordert wird sind Reformen,
die (noch) nicht zu Ende durchdacht und wirklich aus dem Glauben
heraus getragen werden. „Die Krise, die durch die vielen Fälle
von Mißbrauch durch Priester verursacht wurde, drängt dazu, die
Kirche geradezu als etwas Mißratenes anzusehen, das wir nun
gründlich selbst neu in die Hand nehmen und neu gestalten müssen.
Aber eine von uns selbst gemachte Kirche kann keine Hoffnung sein.“
Mit Reformismus allein wird sich die
Kirche in der Krise nicht wieder erheben. Wenn, dann braucht es
zunächst den Schritt einer Neuentdeckung und Vertiefung des
Glaubens. Und aus dieser Bewegung hinaus können dann auch Reformen
durchgeführt werden. „Hier mußte ein starkes Zeichen gesetzt
und ein neuer Aufbruch gesucht werden, um Kirche wieder wirklich als
Licht unter den Völkern und als helfende Kraft gegenüber den
zerstörerischen Mächten glaubhaft zu machen.“ Mit diesen
Worten war der ganze Aufsatz überschrieben.
Benedikt XVI. läßt nun noch einige
Gedanken zu Hiob und zu einem Abschnitt aus der Offenbarung folgen,
die sich mit dem Gedanken auseinandersetzen, wie es sein kann, dass
in der Kirche so viel Böses neben Gutem existiert. „Ja, es gibt
Sünde in der Kirche und Böses. Aber es gibt auch heute die heilige
Kirche, die unzerstörbar ist. Es gibt auch heute viele demütig
glaubende, leidende und liebende Menschen, in denen der wirkliche
Gott, der liebende Gott sich uns zeigt.“
„Wenn wir uns wachen Herzens
umsehen und umhören, können wir überall heute, gerade unter den
einfachen Menschen, aber doch auch in den hohen Rängen der Kirche
die Zeugen finden, die mit ihrem Leben und Leiden für Gott
einstehen.“
Nein, das ist nicht blanker Unsinn, was
der deutsche Papst hier schreibt. Es sind sehr schöne, spirituelle
Gedanken, wenngleich auch mancher Teilaspekt seiner Darlegungen zu
irritieren vermag.
Verstörend und irritierend ist seine
sehr eindimensionale Sicht auf das Phänomen der Pädophilie, aber
sicherlich auch auf die menschliche Sexualität insgesamt. Auf die in
der kirchlichen Öffentlichkeit diskutierten Aspekte des Skandals
geht er gar nicht weiter ein. Kein Wort über die Folgen einer
restriktiven Sexualmoral, kein Wort zum angemessenen Umgang mit der
menschlichen Sexualität, kein Wort über den Zölibat, kein Wort zur
Situation homosexuell empfindender Priester in einer als homophob
empfundenen Kirche, kaum ein Wort zum Leiden der Opfer...
Mir scheint, Benedikt XVI. ist in
seinem Text sehr gefangen vom Wandel der Sexualmoral in den
vergangenen Jahrzehnten. Das spiegelt allerdings auch die
Erfahrungen, die er in seiner Zeit in Rom als Präfekt der
Glaubenskongregation und später als Papst gemacht hat. Und es
spiegelt sicher auch die unmittelbaren Erfahrungen als Dogmatiker und
Erzbischof von München. Ich kann nicht glauben, dass Benedikt nicht
zu einem weiteren Blick auf die Sünden der Kirche und ihrer
Vertreter fähig sein sollte (auch wenn ihm dies vermutlich mit Blick
auf die aktuelle Mißbrauchskrise nicht sofort in den Sinn kam).
Ich denke sofort an das Spottlied vom
Karmeliter, das ich vor Jahren in einer Aufnahme von Volksliedern
hörte. Leider ist nicht herauszufinden, wie alt es ist, aber das
Phänomen heimlich ausgelebter, gewaltvoller Sexualität unter
Ausnutzung von Machtgefälle, Mißbrauch anderer Menschen, sexuelle
Gewalt dürfte (leider, leider) beinahe so alt sein wie die Kirche
selbst. Pädophilie (und andere Formen verirrter sexueller
Ausrichtung) hat es seit Jahrtausenden gegeben, kaum etwas spricht
dafür, dass dies in geringerem Ausmaß in der Kirche als in der Welt
der Fall war. Vielmehr zeigen sich durchaus kirchenspezifische
Ausformungen dieser Taten, wie auch aktuell in der Tatsache, dass
unverhältnismäßig viele jungen und junge Männer Opfer der
kirchlichen Gewalttäter wurden.
Legion sind die Spottlieder,
Geschichten und Gedichte über die Priester, die keineswegs keusch
lebten und sich an Frauen und Jugendlichen in ihren Gemeinden oder im
Umfeld der Klöster vergingen. Erinnert sei auch an die Schilderungen
der Zustände im Kloster der römischen Nonnen von Sant Ambrogio, in
die auch ein führender Theologe des 1. Vaticanums verwickelt war,
Joseph Kleutgen. Schaut man auf die Zahlen der dokumentierten
Mißbrauchsfälle, so zeigt sich, dass auch in den eher prüden
40er-60er Jahren zahlreiche Fälle dokumentiert sind. Die kurze Phase
während derer Teile der 68er – Bewegung für eine
Entkriminalisierung der Pädophilie eintrat, hatte da noch keinerlei
Auswirkungen. Im Gegenteil, die Pädophilen sprangen hier später auf
einen Zug auf, der ihnen Vorteile versprach. Ein ganz schwieriges
Feld sind ja auch die Sittlichkeitsprozesse unter der
Nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, die zwar genutzt wurden, um
die Kirche zu unterdrücken, die aber nicht ohne reale Straf-Taten
waren.
Es gäbe vielfältige Indizien und
Hinweise für Benedikt XVI. seinen Text noch einmal zur Hand zu
nehmen und zu erweitern.
Manche grundsätzliche Überlegung
bleibt ja dennoch aktuell.
Benedikt hat recht, die Befreiung der
Sexualität von der Moral führt nicht zu einer befreiten Sexualität,
sondern führt auch in problematische Haltungen, durchaus auch in
Missbrauch, Gewalt und Überforderung. Daher braucht eine befreite
Sexualität auch eine moralische Grundlegung um menschlich gelebt zu
werden.
Und eine Kirchenreform macht nur Sinn,
wenn sie getragen ist von einem neuen Aufbruch im Glauben.
Insgesamt finde ich, dass der Text, an
dem uns Benedikt XVI. zu kauen gibt, nicht so schlimm wie es aus den
Federn derer klingt, die vor einem neuen Himmel und einer neuen Erde
erst mal eine neue Kirche erhoffen - aber doch lang nicht so grandios
wie manche Kommentatoren jubeln, weil sie davon Rückenwind für ihre
Form der Restauration der Kirche erwarten.
Ich finde es traurig, dass er – am
Rande – die folgende Bemerkung nieder schreibt. „Vielleicht
ist es erwähnenswert, daß in nicht wenigen Seminaren Studenten, die
beim Lesen meiner Bücher ertappt wurden, als nicht geeignet zum
Priestertum angesehen wurden. Meine Bücher wurden wie schlechte
Literatur verborgen und nur gleichsam unter der Bank gelesen.“
Ja, ich weiß, dass
für manchen Theologieprofessor der Name Joseph Ratzinger ein rotes
Tuch war. Ich kann mir auch manchen Grund dafür ausmalen. Die
theologischen Auseinandersetzungen mit dem Glaubenspräfekten unter
Johannes Paul II. haben nicht nur in dessen eigener Biografie manche
wunde Stelle hinterlassen, die bis heute nicht recht heilen will.
Aber auf der anderen Seite haben auch zahllose
Priesteramtskandidaten, viele Geistliche und Laien seine Texte mit
großem Gewinn gelesen. Sie waren und sind – sprachlich und
inhaltlich – auch dann bereichernd, wenn man dem Autoren nicht in
jeder Hinsicht folgen wollte. Seine theologischen Werke werden noch
immer gelesen und aktuell in einer Gesamtausgabe herausgegeben,
Hochschulen tragen seinen Namen, seine Bücher sind theologische
Bestseller. Sein Beitrag für die Theologie wird nicht vergehen.
Bededikt XVI. ist nicht mehr unser
amtierender Papst. Und er ist erst recht kein Gegenpapst, auch wenn
er der Papst mancher Herzen ist.
Papst Franziskus sagte einmal über
seinen Vorgänger, der nun im Kloster Mater Ecclesiae in den
vatikanischen Gärten lebt: „Er ist für mich wie der weise
Großvater im eigenen Haus, wie ein Papa. Ich habe ihn lieb.“
So möchte ich es auch halten!
Von ganzem Herzen gratuliere ich Papst
Benedikt XVI. zu seinem Geburtstag.
Gottes reichen Segen! Ad multos
annos!