Dienstag, 28. August 2018

Die heilige Kirche als "Kinderficker-Sekte"

Kinderficker-Sekte!

So darf man nach dem Beschluss eines Berliner Amtsgerichtes seit 2012 meine katholische Kirche straflos nennen. 
Kinderficker-Sekte! Dieses Wort tut weh, sehr weh!
Aber weit schmerzhafter ist der Mißbrauch selbst, das Leid, das Kinder und Jugendliche erdulden mußten in Räumen und durch Menschen der Kirche. 
Auch wenn immer wieder Kirchenleute und Wissenschaftler darauf hinweisen, dass die Zahl der kirchlichen Mitarbeiter, der Priester, Bischöfe und Kardinäle die zu Mißbrauchern werden nicht höher ist als unter Sportlehrern, Erziehern und Familienvätern, so kann darin keinerlei Trost liegen. Jesus sagt ja in der Bibel: „Bei euch aber soll es nicht so sein.“ - und dieses Wort gilt unbedingt auch mit Blick auf Menschen, die ihren Einfluß und ihre Macht über andere Menschen ausnutzen, um ihre Triebe zu befriedigen. Und das völlig unabhängig davon, ob es sich um Kinderpornografie handelt, um „einvernehmlichen Sex“ mit Volljährigen, um Beziehungen mit Schutzbefohlenen, mit jungen Leuten in der Jugendarbeit, in Seminaren oder in der Studentenseelsorge. Bei euch aber soll es nicht so sein! Da darf die immer stärker sexualisierte Gesellschaft nicht als Entschuldigung herhalten.

In immer neuen Wellen erschüttern die Mißbrauchsfälle in der katholischen Kirche Gemeinde und Gesellschaft. Die Menschen haben ein durchaus feines Gespür für Unwahrhaftigkeiten. Man kann nicht anders als zu konstatieren: der gute Ruf der Kirche, das Renomee ihrer Seelsorger ist auf lange Zeit ruiniert. Zumindest, was ihre Stellung in der Öffentlichkeit angeht. Man muss geradezu froh und dankbar sein, dass es trotz der schrecklichen Nachrichten der letzten Jahrzehnte überhaupt noch Familien gibt, die sich in Kirche und Gemeinde engagieren und ihre Kinder den Gemeinden in Katechese, Jugendarbeit und Ferienlager anvertrauen. Ich bin zutiefst dankbar für dieses Vertrauen. Glücklicherweise ist die Mißbrauchsprävention im kirchlichen Leben sehr wichtig geworden. Hier wird inzwischen oft großartige Arbeit geleistet.

Vertuscher auf allerhöchster Ebene – der Fisch stinkt vom Kopfe her?

Nachdem in den letzten Jahren schon zahlreiche erschütternde Mißbrauchsfälle bekannt wurden richtet der Bericht einer Grand Jury der Justizbehörde von Pennsylvania nun den Focus auf das Verhalten und Versagen von Bischöfen, hier in sechs amerikanischen Bistümern. Es ist mehr als erschütternd zu lesen, wozu geweihte katholische Männer offenbar in der Lage sind. Da fehlen mir absolut die Worte. Man verstummt vor so viel Abartigkeit. Insbesondere wenn davon berichtet wird, dass Priester einander die Opfer zuführen, Kinder entsetzlich quälen, auspeitschen oder mit Kreuzen markieren bzw. gar Fotos machen, wo nackte Kinder wie gekreuzigt hingelegt werden. UNBEGREIFLICH! 
Dazu kommt der bizarre Fall des amerikanischen Kardinals Theodore McCarrick, der ganz offensichtlich intime Beziehungen pflegte und Übergriffe auf Seminaristen und mindestens einen  minderjährigen Jungen ausübte. Er unterhielt ein Ferienhaus, wo diese Personen mit ihm in einem Bett schlafen mußten. Dies war – wie zu hören ist – seit Jahren, ja Jahrzehnten gerüchteweise in breiten Kreisen der amerikanischen Kirche bekannt. 

Der vatikanische Diplomat und ehemalige Nuntius in Amerika, Erzbischof Carlo Maria Viganò hat nun – als Pensionär – ein 11seitiges „Zeugnis“ veröffentlicht, in dem er zahlreiche Kardinäle und Bischöfe, bis hin zum Papst der Mitwisserschaft und der Vertuschung bezichtigt und ihren gemeinschaftlichen Rücktritt fordert. Damit steht plötzlich auch Papst Franziskus im Focus der Vorwürfe, die aber durchaus auch seine Vorgänger mit treffen. 

Mindestens ein amerikanischer Bischof hat sich nun schon hinter dieses „Zeugnis“ gestellt, ein weiterer den Nuntius hoch gelobt, doch die Diskussion kommt gerade erst in Gang. Es irritiert jedoch, dass Erzbischof Viganò seine Anklagen in der Causa McCarrick mit eher allgemeiner Kritik am kirchenpolitischen Kurs und der Person des amtierenden Papstes verbindet. Zudem scheint McCarrick die Auflagen, die ihm Papst Benedikt auferlegt haben soll, konsequent mißachtet zu haben. Erzbischof Viganò selbst wird sich fragen lassen müssen, warum er sein Zeugnis gerade jetzt vorlegt und nicht schon vorher öffentlich benannt hatte, was doch unter Amerikas Katholiken offenbar weithin geahnt wurde. Auch befinden sich unter den angeprangerten Persönlichkeiten auffällig viele, mit denen er persönlich über Kreuz liegt. Doch selbst wenn man diese persönliche Färbung berücksichtigt, so bleibt die beschriebene Causa McCarrick verstörend genug. Und die benannten Personen werden sich erklären müssen, warum sie geschwiegen haben. Der Papst selbst wollte sich zu diesen Beschuldigungen jedoch nicht äußern. Dennoch wäre es sehr wünschenwert, wenn aus seinem Mund noch klare Worte zu hören wären. Leider drückt sich Papst Franziskus in diesen Runden nicht immer glücklich aus. Warum sagt er nicht einfach: Ich habe davon gehört, aber mir fehlen genauere Informationen und ich möchte auch mit Papst Benedikt darüber sprechen. Auch würde das den Rahmen dieser Gesprächsrunde sprengen, aber wir werden dazu Stellung nehmen.

Wie auch immer – der Fall des ehemaligen Kardinals wirft ein helles Licht auf die Schwierigkeiten, die die Kirche im Umgang mit Mißbrauchsverbrechen hat. Mögen auch die Handlungen des Ex-Kardinals mit dem normalen Strafrecht nicht (mehr) zu bestrafen sein, so verbietet die kirchliche Lehre ein solches Verhalten ja mit allergrößter Klarheit. Es ist mir unbegreiflich, mit welchen Gedankenwindungen sich der Bischof wohl innerlich gerechtfertigt haben mag. Wie hat er nur sein Gewissen erstickt? Und wie konnten über Jahre hierüber Gerüchte kursieren, ja gar Berichte nach Rom geschickt werden, ohne dass jemand klar und eindeutig einschritt? Wenn es tatsächlich unter Papst Benedikt klare Auflagen gegeben haben sollte – wieso wurden sie nicht durchgesetzt? Wieso konnte ein solcher Mann im Vatikan auch später noch ein- und ausgehen? Es dauert sicher nur einige wenige Tage, bis ein junger Geistlicher im Ordinariat zu erscheinen hat, wenn ihm die Beziehung zu einer Frau nachgesagt wird. Und wenn dies der Wahrheit entspricht, wird man ihm nahelegen, die Beziehung zu beenden oder den priesterlichen Dienst niederzulegen. Und meist hat er ohne Abschiedsfeier die Gemeinde zu verlassen. Und dann läßt man so einen „Kardinal“ einfach gewähren? Hat man aus dem Fall Groer oder den Vorgängen im Priesterseminar in Chur gar nicht gelernt? Was haben solche Menschen noch am Altar zu suchen? Viganò bezichtigt den Ex-Kardinal gar der „frevelhaften Feier der Hl. Eucharistie“. Man mag sich gar nicht ausmalen, was damit konkret gemeint ist. 

Offene Ohren und Herzen für die Opfer

Nein, der Mißbrauch von Kindern, Jugendlichen, Erwachsenen ist nicht deshalb schlimm, weil er die heilige Institution Kirche beschädigt, ja zerstört. Auch nicht, weil die Verbrechen ihrer Diener das Zeugnis des Evangeliums verdunkeln. Der Mißbrauch ist schlimm, weil er genau zu den Worten passt, die Jesus über die menschlichen Versuchungen spricht: „Wer einem von diesen Kleinen, die an mich glauben, Ärgernis gibt, für den wäre es besser, wenn ihm ein Mühlstein um den Hals gehängt und er in der Tiefe des Meeres versenkt würde. ... Wenn dir deine Hand oder dein Fuß Ärgernis gibt, dann hau sie ab und wirf sie weg! Es ist besser für dich, verstümmelt oder lahm in das Leben zu gelangen, als mit zwei Händen und zwei Füßen in das ewige Feuer geworfen zu werden. Und wenn dir dein Auge Ärgernis gibt, dann reiß es aus! Es ist besser für dich, einäugig in das Leben zu kommen, als mit zwei Augen in das Feuer der Hölle geworfen zu werden. Hütet euch davor, einen von diesen Kleinen zu verachten! Denn ich sage euch: Ihre Engel im Himmel sehen stets das Angesicht meines himmlischen Vaters.“ (Wobei die alte Einheitsübersetzung zutreffender von „zum Bösen verführt“ spricht. Wie das Jesus-Wort weiter geführt werden müßte, bezöge man es auf den amerikanischen Ex-Kardinal überlasse ich Ihrer Phantasie.)

Büßen und Beten für die Täter?
Die „Väter“ haben gesündigt – den Söhnen werden die Zähne stumpf?

Natürlich ist es eine verständliche Haltung, dass Menschen, die im Kontext der Mißbrauchsfälle eine völlig reine Weste haben, nicht in die ganze Sache mit hineingezogen werden möchten. Aber es ist so, dass wir alle, die wir uns mit der katholischen Kirche identifizieren, in ihr und für sie arbeiten, in gewisser Weise in Mithaftung genommen werden für die Taten unserer verbrecherischen „Schwestern und Brüder“. Spürbar wird das unmittelbar, wenn es um Geld geht, Geld, das zur Entschädigung, „Wiedergutmachung“, für therapeutische Maßnahmen an Menschen gezahlt wird, die die Mißbräuche überlebt haben. Da wären zunächst die Täter selbst in der Pflicht, jeden Cent, den sie nicht fürs eigene Überleben brauchen, für die Opfer abzugeben. Aber das wird nicht reichen. Paulus hat oft recht in seinen Briefen, denn es gilt auch hier: wenn ein Glied leidet, dann leiden alle anderen mit. Und als diejenigen, die der „Kinderficker-Sekte“ verbunden bleiben, tragen wir die Schuld der Täter mit. In viel klarerer Weise als dies der Verein eines mißbrauchenden Fußballtrainers zu tun hat oder die Schule eines mißbrauchenden Lehrers. Eben weil die Kirche mehr ist als eine Institution.

Und von daher hat der Papst auch recht, wenn er in seinem aktuellen Schreiben das ganze Gottesvolk mit einbezieht und zu Buße und Fasten aufruft. Auch wenn das manch einem Katholiken sauer aufgestoßen ist. Wir hängen (leider) alle mit drin, auch wenn wir persönlich absolut unschuldig sein sollten. Mir kommt das rätselhafte Wort aus dem Buch Exodus in den Sinn: „Ich suche die Schuld der Väter an den Kindern heim, an der dritten und vierten Generation, bei denen, die mich hassen.“ Auch wenn das exegetisch hier sicher nicht passt. 

Die Spannung greift Bischof Ackermann in seiner Stellungnahme zum Papstbrief auf. „Sicher wird die Frage gestellt werden, warum der Papst dieses Schreiben an das ganze Volk Gottes richtet, wo doch die Schuld und Verantwortung in erster Linie bei den Priestern, den Bischöfen und Ordensoberen liegt. Spricht der Papst nicht allzu leicht in der Wir-Form und nimmt damit diejenigen in der Kirche mit in Haftung, die aufgrund des skandalösen Verhaltens von Priestern selbst eher zu den Leidtragenden gehören? Der Brief wird sich diese Frage gefallen lassen müssen. Zugleich lässt der Papst keinen Zweifel daran, dass er dem Klerus allein nicht die notwendige Kraft zur Erneuerung zutraut.“

Mehr als gute Worte - Was wird konkret getan?

Ich bin sehr gespannt, welche konkreten Maßnahmen nun folgen werden. Und wie die Katholiken der Welt in die Entscheidungsprozesse mit einbezogen werden. Wenn der Papst im Gespräch mit Mißbrauchsopfern in Irland jedoch davon spricht, dass zur Zeit keine weiteren Maßnahmen geplant seien, dann frage ich mich, ob wir wirklich damit rechnen können, dass das verstörende Problem an der Wurzel angepackt wird. 

Kann die Kirche überhaupt über Sex reden?

Eine dieser Wurzeln ist sicherlich die Sexualmoral der Kirche. Die ist natürlich durch das Fehlverhalten und die Verbrechen eines Teils der Kleriker nicht auf einmal unlogisch und ungültig. Doch hat die Glaubwürdigkeit der kirchlichen Moralverkündigung sehr darunter gelitten. Ohne das glaubwürdige, gute und anständige Vorbild der Kirchenleute wird es schwer werden, die Menschen von diesem Weg zu überzeugen. Wenn nicht einmal die Priester „keusch“ leben, warum sollen sich normale Menschen an „einengende“ Vorgaben halten?

Aber das eigentliche Problem ist nicht die Morallehre der Kirche an sich. Es geht eher um eine überzeugende Übersetzung in die Bedingungen der heutigen Zeit. Die Prinzipien der Morallehre sind und bleiben von geradezu ewiger Gültigkeit. Aber der Kirche muss es gelingen, zu einem reifen Umgang mit der menschlichen Urkraft der Sexualität zu kommen. Und dies insbesondere bei ihren Mitarbeitern, bei Katecheten, Pastoralreferenten, Ordensleuten und Priestern. Diejenigen unter ihnen, die in Ehe und Familie leben, haben dabei ganz andere Entwicklungschancen durch die gelebte Partnerschaft als es Priester haben. Das ist eine Herausforderung, auf die es neue Antworten braucht. Wir brauchen im zölibatären Priestertum und in den Orden nur solche Menschen, die mit ihren sexuellen Trieben umgehen können, worauf auch immer die sich ausrichten. Mir ist ehrlich gesagt der homosexuelle Kaplan, der keusch und zölibatär lebt deutlich lieber als der Pfarrer, der ab und an in der nächsten größeren Stadt eine Prostituierte aufsucht. Und dieser auch noch lieber als ein Priester, der Kinder anfasst und missbraucht. 

Vielleicht ist es wirklich notwendig, einmal ganz offen und systematisch hinzuschauen, wie der Zölibat durch die Priester gelebt wird. Es gibt ganz bestimmt eine sehr große Bandbreite legitimer, priesterlicher Lebensweisen. Aber die Kirche sollte sich auch die Frage stellen, inwieweit die besondere, hervorgehobene Stellung eines Priesters und das Leben im Zölibat auch negative Einflüsse auf des Denken und Verhalten der Geistlichen haben könnte. Kennt nicht jeder von uns Priester mit ganz besonderen Marotten? Wer gibt einem Priester liebevolles Feedback, wenn er sich eher „spezielle“ Verhaltensweisen angewöhnt? Und zwar möglichst eine Person – auf Augenhöhe. Dies scheint mir umso wichtiger, als die klassische Pfarrhaushälterin seltener wird. Das Leben in der Familie, der Nachbarschaft, in Vereinen und in intensiven Freundschaften schleifen bei uns Menschen manche Ecke rund. Selbstredend darf jeder Mensch Ecken, Kanten und Marotten haben und kein Priester ist deshalb ein schlechterer Priester. Aber es gibt auch echte Fehlentwicklungen, denen man frühzeitig wehren könnte. 

Selbstverständlich steht es auch einem Priester zu, einen Fehler zu machen. Oder auch mehrere. Aber dann kommt es auch darauf an, wie er mit seinen Fehlern umgeht. Doch wenn der Fehler kein Fehler mehr ist, sondern ein Verbrechen, wenn es nicht ein Besuch bei einer Prostituierten war oder spontaner Sex im Urlaub, sondern ein Mißbrauch an Kindern … dann müssen Konsequenzen folgen. Und hier müssen unbedingt die staatlichen Strafverfolgungsbehörden einbezogen werden. 

Die Ausbildung der Priesteramtskandidaten (und anderer kirchlicher Mitarbeiter) 

Es sollte doch möglich sein, den Priesteramtskandidaten in der Ausbildung zu vermitteln, dass sie auf ihre Neigungen aufmerksam achten sollen. Warum sollte jemand der spürt, dass ihn der Umgang mit Kindern sexuell erregt, dass er sich zu besonders jungen Frauen oder Männern hingezogen fühlt, nicht das Gespräch mit einem eigens beauftragten Priester der Diözese suchen, der gemeinsam mit dem Betreffenden nach Auswegen und Therapien sucht. Es gibt doch in manchen Bistümern auch Ansprechpartner für Süchte, warum nicht für sexuelle Fragen? Das wäre doch eine möglicherweise hilfreiche Maßnahme und wenn hierdurch auch nur ein einziger Mißbrauch verhindert würde. 

Der Gedanken erscheint ihnen etwas „gewagt“? Warum denn nicht? Für kaum einen Beruf erhält der Bewerber so viel menschliche Begleitung und Formung wie für den Priesterberuf. Da sollte man solche Dinge nicht ausblenden. Aber ich fürchte obwohl sich Manches verbessert hat, konnte die Kirche insgesamt in diesen Fragen noch immer nicht zu einer einheitlichen, verständlichen, heutigen Sprache und zu einer klaren Haltung finden. Noch immer müssen wir eher verschwurbelte Erklärungen und Kommentare aus dem Mund kirchlicher Akteure hören. Besonders für die allgemeine Öffentlichkeit machen theologische und semantische Schnörkel keinen Sinn. Den Vergebungsbitten und Ankündigungen müssen Taten folgen, sichtbare und spürbare Veränderungen. 

Wir sollten als Kirche ganz genau hinschauen, aus welchen Motiven jemand Priester werden möchte. Und diese in ihrer ganzen Breite und Farbigkeit erforschen. Es gibt da neben „Berufung“ sicher einen ganzen Fächer an Motivationen bis hin zu möglichen pädophilen Neigungen vor denen man durch eine Flucht ins „keusche“ Priesterleben zu fliehen versucht – statt sich in Therapie zu begeben. 

Was ist eigentlich „Klerikalismus“?

Papst Franziskus spricht häufig von der Gefahr des „Klerikalismus“. Das ist ein schillernder Begriff.  Man hat etwas das Gefühl, dass der Papst beim Mißbrauch durch Priester sehr auf den Aspekt des Machtgefälles fixiert ist und die Vielschichtigkeit dieses Phänomens nicht ausreichend wahrnimmt. Auch Priester die ausdrücklich nicht „klerikal“ auftreten, können zu Mißbrauchern werden, gerade weil sie den Jugendlichen nahe sein wollen.

Jeder Priester muss in der Lage sein, seine Triebe zu beherrschen (auch jeder Pastoralreferent, selbst wenn er ledig sein sollte), selbst wenn eine 20jährige, sehr attraktive Jugendliche bewußt Sex mit ihm will. Und auch dann noch, wenn Alkohol und eine aufgeladene Stimmung im Spiel ist. Das ist nicht zuviel verlangt. Gewisse innerliche Grenzen braucht es, die man im Umgang mit Kindern und Jugendlichen nicht überschreitet, niemals. Zu Recht verlangt die Kirche dies auch von den Eheleuten. 

Nur kein Aufsehen! Nur niemanden bloßstellen!

Ich spüre bei mir selbst, dass ich geneigt bin, den entsetzlichen Skandal zu verharmlosen. Ich kann mir auch vorstellen, dass ich gar nicht genau hinsehen möchte, wenn mir jemand erzählt, ein Pfarrer habe eine Beziehung oder ein anderer würde mit den Kindern gemeinsam duschen gehen oder hätte ein Kind unsittlich angefasst. Ich habe das einmal erlebt, als mir Gemeindemitglieder vor Jahren einmal erzählten, sie hätten meinen damaligen Pfarrer mit einer Frau in einem Einkaufzentrum gesehen und er habe eine Beziehung mit dieser verheirateten Frau. Man fängt an, nach entlastenden Erklärungen für Dinge zu suchen die jenseits der eigenen Vorstellungswelt liegen oder die einfach zu schmerzhaft, unangenehm, schrecklich sind.

Dieses Phänomen nutzen die Täter gezielt aus, und versuchen die Menschen in ihrem Umfeld einzulullen und ihr Tun zu verschleiern und zu verharmlosen. So ist mancher gern geneigt, den Erklärungen und Verharmlosungen Glauben zu schenken. 

Anders kann ich mir die jahrzehntelange „Vertuschung“ solcher Vorfälle und Verbrechen kaum erklären. Ich fürchte inzwischen allerdings auch, dass es in der Kirche sogar Netzwerke geben könnte, wo Priester solche Verbrechen gegenseitig ermöglichen und verschleiern. Die Erfahrung zeigt, dass die Täter sehr geschickt sind, ihr Umfeld zu manipulieren und dafür auch gewisse Mechanismen des Klerikalismus und der Frömmigkeit zu mißbrauchen und ihr nach wie vor hohes Sozialprestige einzusetzen.

Was tun mit den Tätern?

Der Papst hat auch kürzlich wieder von einer „Null-Toleranz“ für Mißbraucher gesprochen. Das ist sicher richtig. Aber es muss auch sichtbar und für Täter und Opfer spürbar werden. Es darf nicht sein, dass der Mißbraucher gemütlich in einer schönen Stadt lebt und von seiner Rente recht gut leben kann, während das Opfer aufgrund seiner Traumatisierungen jeden Tag mit den Folgen der Taten kämpft und wirtschaftlich nicht auf die Beine kommt. Ob der Rentner nun noch Messen zelebriert oder nicht, ob ihm die Ausübung des Priesteramtes verboten wird oder er sogar laiisiert wird, das spielt keine Rolle wie die Tatsache, dass er nicht spürbar bestraft und an weiteren Taten gehindert wird. Es ist sicher nicht leicht, hier Gerechtigkeit möglich zu machen, zumal das staatliche Recht nicht immer hilfreich ist. Aber wir müssen es versuchen. 

Es stellt sich daher die Frage, was mit Leuten, wie Kardinal McCarrick geschehen soll. Einige facebook-Freunde haben schon sowas wie Inklusenzellen vorgeschlagen, wo man ihn bei Wasser und Brot... Es darf nicht sein, dass sich die Kirche mehr darum bemüht, den Täter angemessen unterzubringen und zu beschäftigen als dem Opfer eine weitgehende Rückkehr ins Leben zu ermöglichen. Natürlich trägt die Kirche Mitverantwortung für die Zukunft des Täters. Allein schon, um weitere Taten zu verhindern. So ganz abwegig fände ich ein geschlossenes „Chorherrenkloster“ mit regelmäßigen Gebeten und Gottesdiensten unter Vorsitz eines unbescholtenen Gefängnisseelsorgers nicht. Ein Haus, in das sie nach der im Gefängnis verbüßten Strafe einziehen. Ein Haus, wo die Bewohner nicht einfach so ihre Zimmer verlassen können, aber doch immer wieder zu Gottesdiensten zusammenkommen. Wo sie durchaus auch eine Zeitlang von den Sakramenten ausgeschlossen werden und therapeutische Hilfe bekommen. Ein Haus mit einer klaren und strengen Regel und der Gelegenheit mit Fasten und Arbeiten überzeugend Buße zu tun und den Opfern so weitere Unterstützung zukommen zu lassen. 

Die Homo-Lobby und der Mißbrauch???

Gerade haben sich wieder zwei Bischöfe zu Wort gemeldet, Kardinal Burke in den USA und der Schweizer Weihbischof Eleganti, die aus der Tatsache, dass die allermeisten Mißbrauchsfälle zwischen Priestern und männlichen Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen angezeigt wurden ableiten, dass man die angebliche Homosexualität der Mißbrauchstäter genauer in den Blick zu nehmen habe. Damit greifen sie Gerüchte um eine „Homo-Lobby“ im Vatikan und verschiedene Skandale der letzten Zeit auf, mit Priestern, die mit Callboys oder in homosexuellen Partnerbörsen verkehrten. 

Das Bistum St. Gallen hat sich soeben in scharfer Form gegen solche Mutmaßungen verwahrt und sich von den Worten des Weihbischofs distanziert. „Es ist unerträglich, dass die Thematik der Übergriffe mit dem Thema der Homosexualität verbunden wird. Eine solche Aussage ist das Gegenteil von seriösen Anstrengungen, künftig sexuelle Übergriffe zu verhindern und die geschehenen schlimmen Taten an Opfern aufzuarbeiten.“ 

Nein, mit Homosexualität hat Mißbrauch, auch wenn er an 16 – 18jährigen Schülern geschieht, nichts zu tun. Es hat aber sehr wohl mit einer unausgereiften, ungesunden und fehlgeleiteten Sexualität zu tun. Es ist erschütternd, dass es nicht gelingt, solche angehenden Priester frühzeitig zu identifizieren und evtl. die Hilfe von Psychologen und Psychiatern in Anspruch zu nehmen, auch um eine Reifung in der sexuellen Identität zu ermöglichen. Nicht selten gelingt es diesen Personen, ihre Neigungen unter besonderen anderen Stärken, durch theologische und menschlich-kommunikative Qualitäten oder besondere Frömmigkeit zu verbergen. Ob sich solche unausgereifte, kranke Sexualität dann auf junge Männer oder Frauen ausrichtet ist unerheblich. Das Problem sind nicht Priester mit homosexueller Ausrichtung, sondern solche mit krankhaften Neigungen oder mangelnder Triebkontrolle.

Die statistischen Zahlen über Missbrauch auf Homosexualität der Täter bzw. auf homosexuelle Netzwerke zuzuspitzen kommt einer Verharmlosung der ganzen Problematik gleich. Der Missbrauch ist ein Krebsgeschwür, dass die ganze Kirche durchzieht. Dafür gibt es keine einfache Erklärung. Schuld ist nicht einfach der "Modernismus", die "Homo-Lobby" bzw. "die Schwulen" oder die "sexuelle Revolution". Derlei Erklärungsmuster greifen viel zu kurz und verschleiern die Dramatik des Problems, für das es keine ganz einfachen Lösungen gibt.

Wenn es so ist, dass bestimmte Formen des Missbrauchs innerhalb der Kirche gehäuft vorkommen (Ältere männliche Täter nutzen ein Machtgefälle, um sich vor allem älteren Jungen, Jugendlichen und jungen Männern zu nähern), gerade dann muss sich die Kirche fragen, warum sie einen solchen Tätertypus anzieht und welche Mitschuld sie selbst an dieser auffälligen Häufung einer derart fehlgeleiteten sexuellen Orientierung bei ihrem Priestern trägt. Deren pädophile Ausrichtung hat sich nämlich zu weiten Teilen im Schoß und unter dem Dach der Kirche selbst entwickelt.

Dass besonders viele Jungen zu Opfern wurden hat – so zeigt es ja auch der Fall McCarrick - offenbar damit zu tun, dass diese für die Täter leichter verfügbar waren. Möglicherweise liegt auch ein Teil der Erklärung in der Tatsache, dass manche Priesteramtskandidaten sich einer homosexuellen Veranlagung nicht stellen und sie ablehnen bzw. oberflächlich bekämpfen (weil das in der Priesterausbildung ja bis heute nicht gern gesehen wird bzw. sogar durch vatikanische Instruktion die Weihe von Männern mit tiefsitzenden homosexuellen Neigungen ausgeschlossen wird). Auch hierdurch mag es zu Fehlentwicklungen kommen. Hier wäre eine Präzisierung der Vorgaben notwendig, die den Kandidaten völlige Offenheit ermöglicht.


Wie wird es weiter gehen?

Es wird notwendig sein, auch die Macht- und Gehorsamsstrukturen innerhalb der Kirche kritisch in den Blick zu nehmen, inwieweit durch diese Traditionen und Hierarchien die Aufdeckung von Missbrauchsfällen behindert wurde und wird. Es wird sich auch die Frage stellen, inwieweit Laien, Frauen, Mütter, Väter in den Entscheidungswegen und Kontrollinstanzen mit ihrem Sachverstand und ihrer besonderen Sensibilität in solchen Fragen stärker eingebunden werden müssten.

Ich bin inzwischen 51 Jahre alt, als ich geboren wurde war das 2. Vatikanische Konzil gerade vorbei. Seit meiner Kindheit bin ich in der Kirche aktiv, seit mehr als der Hälfte meiner Lebenszeit nun katholische Seelsorger. Eine so beispiellose Krise habe ich bis heute nicht erlebt, bei allem Auf und Ab der vergangenen Jahre. Es ist Zeit für ein entschlossenes Handeln, um das Phänomen an der Wurzel zu packen, denn der Mißbrauchskandal legt einige Schwachstellen der Kirche offen. Auch haben einige Beobachter der Situation deutlich gemacht, dass der Klerus allein nicht die notwendige Kraft zur Erneuerung haben wird und dass hierzu auch die Stimme der Laien gehört und ihr guter Rat berücksichtigt werden muss. Daher stimme ich dem Bischof von Portsmouth in Großbritannien, Philip Egan unbedingt zu, der eine Bischofssynode der Weltkirche zu dieser Thematik fordert.

Bis dahin sollte in den Bistümern der Welt alles getan werden, um mit den Betroffenen des Mißbrauchs auf allen Ebenen ins Gespräch zu kommen, sie bei ihrem Lebensweg nach Kräften zu unterstützen, die Ausbildung der Priester noch weiter zu verbessern, eine offene Gesprächskultur auch über schwierige Fragen zu etablieren, den Geist der Gemeinschaft zwischen Laien, Ordensleuten und Klerikern zu stärken und ihr Miteinander zu fördern und die Augen offen zu halten und Herz und Ohren zu öffnen für die Opfer von Mißbrauch, der ja auch außerhalb kirchlicher Lebenswelten millionenfach geschieht. Die Kirche hat ein so wertvolles und heute leider überaus notwendiges Zeugnis zu geben von einer sehr menschlich gelebten, liebevoll gestalteten Sexualität. Dieses lebenswichtige Zeugnis dürfen wir nicht durch unser fehlerhaftes Handeln, unsere abgehobene Sprache und Fehler in Verkündigung und Kommunikation der Menschheit vorenthalten. 

Herr, erwecke deine Kirche
und fange bei mir an.

Vergebungsbitte von Papst Franziskus:

„Gestern traf ich acht Menschen, die den Missbrauch von Macht, Gewissen und Sexualität überlebt hatten. In Anlehnung an das, was mir gesagt wurde, möchte ich diese Verbrechen zu Füßen der Barmherzigkeit des Herrn legen und um Vergebung bitten.

Wir bitten um Vergebung für Missbrauch in Irland, Missbrauch von Macht und Gewissen, sexuellen Missbrauch durch Mitglieder, die verantwortungsvolle Positionen in der Kirche innehatten, und insbesondere um Vergebung für jeden Missbrauch, der in verschiedenen Arten von Institutionen unter der Leitung von Ordensleuten und anderen Kirchenangehörigen begangen wurden.

Wir bitten auch um Vergebung für die Fälle von Arbeitsausbeutung, zu denen so viele Kinder gezwungen wurden: Wir bitten um Vergebung.

Wir bitten um Vergebung für all jene Zeiten, in denen wir als Kirche den Überlebenden keinerlei Form von Mitgefühl, Suche nach Gerechtigkeit und Wahrheit mit konkreten Taten gezeigt haben: Wir bitten um Vergebung.

Wir bitten um Vergebung für jene Mitglieder der Hierarchie, die diese schmerzhafte Situation nicht angegangen sind, sondern geschwiegen haben: Wir bitten um Vergebung.

Wir bitten um Vergebung für die Kinder, die ihren Müttern weggenommen wurden, und für all die Zeiten, in denen alleinerziehenden Müttern, als sie später ihre Kinder suchten, gesagt wurde, die Suche nach den Kindern, von denen sie getrennt worden waren, sei eine Todsünde - und dasselbe wurde den Söhnen und Töchtern gesagt, die nach ihren Müttern suchten. Dies ist keine Todsünde, es ist das vierte Gebot. Wir bitten um Vergebung.

Möge der Herr diesen Zustand von Scham und Schuld aufrechterhalten und wachsen lassen und uns die Kraft geben, dafür Sorge zu tragen, dass diese Dinge nie wieder geschehen und dass Gerechtigkeit wird. Amen.“

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