Samstag, 25. Mai 2019

Schon wieder? Luther ante portas!

Haben Sie sich wohl abgesprochen? Zwei Bischöfe vom jeweils anderen Ufer einer doch recht pluralistischen katholischen Kirche haben das Wort vom „Vorabend der Reformation“ in den Mund genommen, um die aktuelle Situation der katholischen Kirche im Westen, in Deutschland zu umschreiben.

Im Norden der Republik, im multireligiösen und vielgestaltigen Ruhrbistum mahnte Ruhrbischof Franz-Josef Overbeck am Samstag bei einem Auftritt in Münster: „Die alte Zeit ist zu Ende.“ „Wir sind in einer Krise und stehen an einer Zäsur, die vielleicht noch tiefer geht als die Reformation, am Anfang der Wirkung eines geistlichen und geschichtlichen Tsunamis.“ Wenn Kirche sich den gegenwärtigen Herausforderungen verweigere, drohe sie völlig belanglos zu werden.

Sein Amtsbruder vom Donauufer im Bistum Passau, Bischof Stefan Oster sagte es in einer Predigt zum 5. Jahrestag seiner Weihe: „Maria hilf! Das rufen wir auch heute, da die Kirche bei uns aber ich meine auch beinahe weltweit durch eine ihrer schwersten Krisen seit der Reformation vor 500 Jahren geht. Und tatsächlich, liebe Schwestern und Brüder, meine ich Anzeichen zu sehen, die der Zeit der Reformation durchaus ähnlich sind. Das Vertrauen in die Kirche, in ihre Lehre und in viele ihrer Vertreter ist fundamental erschüttert.“

Und führt dann in erfreulicher Deutlichkeit aus, aus welchen Bausteinen sich die aktuelle Krise zusammen setzt. Lesenswert! Immer wieder ruft er in dieser Predigt die Gottesmutter um Hilfe an „Maria hilf!“. Schließlich begeht man im Bistum Passau die „Maria-Hilf-Woche“.

„Maria hilf!“, diesen Ruf hatte eine Gruppe katholischer Frauen aus Münster wohl auch im Hinterkopf, als sie die Initiative Maria 2.0 gründeten. Die Idee: Der männlich bestimmten Kirche einmal aufzeigen, was von der Kirche übrig bliebe, wenn die Frauen sich zurückzögen. Zunächst schrieben die Frauen einen Brief an den Papst, der bis heute von fast 32.000 Unterzeichner*innen unterstützt wird. Dem folgte in der vergangenen Woche ein „Kirchenstreik“, der im Mittelpunkt des Widerstandes stehen sollte und mit dem vier prägnante Forderungen verbunden waren: 
  • Kein Amt mehr für diejenigen, die andere geschändet haben an Leib und Seele oder diese Taten geduldet oder vertuscht haben.
    Die selbstverständliche Überstellung der Täter an weltliche Gerichte und uneingeschränkte Kooperation mit den Strafverfolgungsbehörden.
  • Zugang von Frauen zu allen Ämtern der Kirche.
  • Aufhebung des Pflichtzölibats.
  • Kirchliche Sexualmoral an der Lebenswirklichkeit der Menschen ausrichten.
Medial fiel der Samen, den die Frauen ausgestreut hatten, auf sehr fruchtbaren Boden. Viele Gruppen und Organisationen schlossen sich der Bewegung an, die öffentliche Aufmerksamkeit schoss in der „Streikwoche“ durch die Decke. Das Symbolbild von Maria 2.0 war die an eine Ikone angelehnte Darstellung der Gottesmutter, deren Mund mit einem Pflaster verklebt war – eine Anspielung auf eine Erzählung über den Hl. Bernhard von Clairvaux, der einer Mariendarstellung das Schweigen geboten haben soll, als diese das Wort an ihn richtete.

Die Beteiligung an der Streikwoche war sicher bemerkenswert, aber doch längst keine Massenbewegung. Auffallend war allerdings, dass sich vor allem jene Frauen beteiligten, die in den Kirchengemeinden die Arbeit der Frauengruppen und -aktivitäten tragen, ergänzt um einige weitere Frauen und Männer, die durch diese Bewegung in der Kirche neugierig geworden waren: „Es tut sich etwas in der katholischen Kirche!“

Die Bischöfe und die „Kirchentreuen“ reagierten unterschiedlich, mal zurückhaltend, mal vorsichtig solidarisch (aber nie ohne kritische Worte), mal gesprächsbereit, andere ignorierten emonstrativ, was dort geschah. Einige wenige Bischöfe wurden deutlich, so wie Rainer Kardinal Woelki, der die Maria 2.0 als „Fake“ brandmarkte: „Hier in Bödingen (Marienwallfahrtsort) begegnen wir nicht einer Mainstream-Maria. Hier begegnen wir dem Original, hier begegnen wir einer Maria, die nicht irgendwelche Wahrheiten verkündet, hier begegnen wir einer Maria, die nicht verwendet wird zur Durchsetzung kirchenpolitischer Überlegungen."

Ganz ähnlich meldete sich nach tagelangem Schweigen auch der Bischof von Münster zu Wort: Man müsse zwischen Emotion und Sachfragen differenzieren. „Schließlich ist es eine Entscheidung, wie sinnvoll es ist, in Emotionen einzugreifen oder besser nicht, weil Öl ins Feuer zu gießen auch keine Hilfe ist.“ Allerdings gebe es Grenzen, „und zwar dort, wo das Heiligste berührt ist, zum Beispiel die Heilige Messe oder die Verzweckung der Gottesmutter Maria“, erklärte Genn. „Das ist für mich eine unüberschreitbare Grenze – und das will ich ganz offen und ehrlich sagen.“

Ganz hoch kochten die Emotionen, als die Fachschaft Theologie an der Universitätskirche in Freiburg ein Transparent mit einer sehr speziellen Mariendarstellung anbrachten: „Maria Vulva“. Hier hatte man die Darstellung der Gottesmutter mit dem Erscheinungsbild der weiblichen Vulva verbunden. Auf y-nachten.de versuchte sich Tage nach dem Sturm der Entrüstung eine Studentin an einer vertiefenden Rechtfertigung der Aktion. Ich habe versucht, mit ihnen darüber ins Gespräch zu kommen, doch auf meine Bemerkung bei fb hat bis dato niemand reagiert: „„Maria Vulva", diese Darstellung ist doch nicht mehr als ein recht kurz gesprungener grafischer Gag, um Aufmerksamkeit zu erzeugen. Über Geschmack kann man normal ja streiten. Aber das hier ist eine völlig unnötige Provokation. Für die anders denkenden Seite übrigens eine Steilvorlage, die das ganze Anliegen diskreditierte. Ich bin durchaus offen für das Gespräch über die Themen, die Maria 2.0 gesetzt hat. Ich kann auch mit den Formen des Protests leben, die dafür gewählt wurden. Aber für diese Aktion hier fehlt mir das Verständnis. Den Frauen von Maria 2.0 hat diese „Solidarität“ einen Bärendienst erwiesen. Das war ein politisches Eigentor. In diese Text hier hätte ich mir endlich etwas Selbstkritik erhofft. ... ausgerechnet die entblößte Vulva zu zeigen und "gegen Missbrauch" darunter zu schreiben ist für mich absolut grenzüberschreitend. Etwas Verständnis für das Befremden normaler Katholiken hätte ich mir in dieser Stellungnahme schon erwartet und nicht ein schlichtes "Vulva hin oder her...". ... Wenn ich ein solches Motiv beispielsweise in einer Maiandacht in der Gemeinde zeigen würde - wäre damit vermutlich das Ende meines pastoralen Dienstes eingeläutet. Mit welchen Argumenten sollte ich das einer normalen Katholikin (selbst wenn diese Maria 2.0 durchaus gut fände) erklären? Es mag sich ja feministischem Denken möglicherweise erschließen, aber außerhalb dieser Blase ist die Grafik doch kaum vermittelbar. Ein Zeichen muss unmittelbar verständlich sein, so lernte ich einst im theologischen Studium.“

„Maria braucht kein Update!“ sagte dagegen die junge Lehrerin Johanna Stöhr und startete im Netz die viel beachtete Gegeninitiative Maria 1.0. „Das Original!“.

Der Streit um den Namen der Aktion ist eigentlich obsolet und bringt nicht weiter. Was soll Maria 1.0 sein? Glaubt jemand ernsthaft, es gibt ein einheitliches, originales Bild und Verständnis der Gottesmutter? Heißt es doch in einem Gedicht von Novalis:
„Ich sehe dich in tausend Bildern,
Maria, lieblich ausgedrückt,
Doch keins von allen kann dich schildern,
Wie meine Seele dich erblickt.“

Mag die Maria der Bibel als das Original gesehen werden, so hat es zu jeder Zeit der Kirchengeschichte ganz neue Perspektiven und Darstellungen der Gottesmutter gegeben. Selbst die Kirchen der Reformation entdeckt sie nach 500 Jahren zaghaft wieder, wie eine aktuelle Initiative zu Maria und Nikolaus im europäischen Kultur-Kontext zeigt.
Nicht zu vergessen wären hier auch die Marienerscheinungen der vergangenen 150 Jahre, die ein sehr spezielles Bild von Maria zeichneten, einer Maria als manchmal allzu treue Verbündete einer klassischen Gestalt von Kirche, allerdings auch manches Mal mit geradezu verstörenden Botschaften, die die Axt an die Wurzeln der katholischen Kirche zu legen instande wären. Seit einigen Jahren nervt in diesem Sinne: „Die Warnung“ gläubige Christen.
Maria 4.0 ?

Ich denke, man darf sich getrost darauf einigen, dass Maria alles Andere ist, als die stille, folgsame und vor allem schweigsame Frau, der man in der Kirche den Mund verbietet. Sie eignet sich auch keinesfalls zur Sedierung aufmüpfiger Gläubiger oder als Motiv des Banners, das dem kämpfenden Heer voran getragen wird. Eher ist sie diejenige, der man jede Sorge und jedes Anliegen sagen kann und mit deren fürbittender Hilfe so mancher problematische Knoten zu lösen wäre. Eine „Verzweckung der Gottesmutter“, ja das sollten wir in jedem Fall vermeiden, weder ist sie die Speerspitze der Kirchenreformen, noch ist sie Briefträgerin von Mahnbriefen an allzu unbotmäßige oder unfromme Katholiken.

Ich finde, Maria 2.0 kann man auch als Aufforderung verstehen, unter den Verkrustungen süßlicher Frömmigkeitsgeschichte die wahre Gestalt der heiligen Gottesmutter wieder frei zu legen. Dazu muss man nicht allen katholischen Kitsch beiseite räumen, aber doch im Herzen und im Beten konstatieren, dass das Bild Marias vielgestaltig ist und dass tausend Bilder nicht reichen, ihr gerecht zu werden. Und neben der rheinischen schönen Madonna hat auch das Gnadenbild von Banneux Platz, neben dem Vesperbild von Telgte auch Maria lactans von Jean Fouquet, ja und von mir aus auch das Marienbild von Lisa Kötter aus Münster.

Ich habe mich nicht an einer der Aktionen von Maria 2.0 beteiligt. Und auch nicht wenige Leute getroffen, die das alles sehr, sehr skeptisch sahen. Selbst unter den Teilnehmerinnen und Teilnehmern. Wobei die Punkte zur Thematik der sexuellen Gewalt und auch des spirituellen Missbrauchs völlig unstrittig sind.

Spannend wird es bei den Themen: Weihe der Frauen, Zölibat und kirchliche Sexualmoral. Hier scheiden sich die Geister. Und hier wird es auch schwierig.

Die Protestaktion fällt in eine Zeit, wo junge Leute für den Schutz der Umwelt und des Klimas demonstrieren und der Politik Beine machen. In diesen Tagen ist es dem Youtuber „Rezo“ - zunächst allein und dann mit Unterstützung von 70 anderen Youtube-Stars gelungen, die CDU und andere etablierte Parteien wie die SPD, aber auch die AfD unter Druck zu setzen. Man beobachtet wie in einem Brennglas, dass sich eine Kluft auftut, zwischen den althergebrachten Weisen, Politik zu machen, politische Entscheidungen zu treffen und einer lauten, bunten und entschlossenen Protestbewegung. Wir wissen heute noch nicht, wohin uns das führen wird.

In dieser Klemme steckt nun auch die Kirche. Sie muss auf die drängender werdenden Anfragen aus der Mitte ihrer Anhängerschaft reagieren, Anfragen, die durch die Entwicklungen in der Gesellschaft, durch Skandale in der Kirche und eine rasante Modernisierung in zahlreichen Lebensbereichen einen gehörigen Rückenwind bekommen. Die Argumente derer, die altüberlieferte Haltungen, Überzeugungen und Formen bewahren möchten finden immer weniger Gehör. Solche Argumente überzeugen nicht mehr, weil sich mehr und mehr auch der Bezugsrahmen hierfür verändert.

Was sich gesellschaftlich in Sachen Frau und Mann im vergangenen halben Jahrhundert getan hat, dass kann man leicht ermessen, wenn man Werbefilmchen der 60er Jahre schaut. Und manche ältere Dame kann da erhellende Erlebnisse aus ihrem Leben beisteuern.

Schaut man in die Kirchengeschichte zurück, so muss man konstatieren, dass Macht und Einfluß der Frauen gerade in unserer Zeit durchaus zurückgegangen sind. Hubert Wolf hat darauf aufmerksam gemacht, welch machtvolle Position manche Ordensobere in vergangenen Jahrhunderten hatte. Unter einer Äbtissin arbeiteten häufig viele Priester und hatten sich ihrer Weisung zu beugen. Bis heute werden gern Legenden und Geschichten heiliger Frauen erzählt, die Päpsten, Kardinälen und Bischöfen Paroli boten oder ihnen geschätzte Ratgeberinnen waren. Unter den Bedingungen einer feudalen Welt gerieten Frauen immer wieder in machtvolle Positionen, die ihnen auch gegenüber der Kirche Bedeutung verliehen. Und dies, obgleich die Männer weitaus häufiger die Macht in Händen hielten. Heute sind diese Zeiten vorbei, in der katholischen Kirche haben zwar manche Politikerinnen bzw. auch einige adelige Frauen noch Positionen, die durchaus Achtung und Ehrerbietung verdienen, aber durch die weitgehende Trennung von Kirche und Staat hat sich die ganze Situation deutlich verändert. Größe und Finanzkraft der schrumpfenden Klöster haben zudem zu einem Verlust an Einfluß und Gestaltungskraft geführt. Einstmals gab es große Orden, die sich in der Kranken- und Kinderpflege engagierten, die heute nur noch mit Mühe die eigenen Schwestern betreut bekommen. Ich glaube, man kann durchaus sagen, dass sich auch hierdurch die Fragen der „Machtverteilung“ in der Kirche in einer ganz neuen Dringlichkeit stellen.

(Ja, hier wird vorausgesetzt, dass es in der Kirche natürlich nie um Macht geht, sondern immer nur um Dienst. Mir fällt nur gerade kein Begriff ein, der Dienst, Verantwortung, Aufgaben, Macht … und was noch so dazu gehört auf einen prägnanten Nenner bringt.)

Die Bischöfe sind aktuell sehr beflissen, fähige Frauen auf wichtige Verwaltungspositionen zu berufen und in vielen Gemeinden sind Ordensschwestern und Pastoral- und Gemeindereferentinnen tätig. Aber die wesentlichen Entscheidungen treffen für die Kirche doch in weit höherem Maße als in anderen gesellschaftlichen Lebensbereichen die Männer, insbesondere die geweihten Männer.

Pfarrers und Bischöfe haben im Laufe der Jahre eine Fülle von Aufgaben auf sich vereint, die mit Gestaltung, Macht, Einfluß, Geld zu tun haben. Eine Entwicklung, die sich in den letzten Jahrzehnten deutlich verschärft hat. Und dies auch und gerade in Zeiten stattlicher Kirchensteuereinnahmen. Das halte ich durchaus für eine kirchengeschichtlich einmalige Situation. Sehr viel Energie wird auch darauf investiert, dass dies so bleibt, dass Strukturen so verändert werden, dass die großen Linien nach wie vor durch die klassisch, kirchliche Hierarchie gezogen werden. Für mich liegt darin der Hauptgrund der Zusammenlegung zahlreicher Pfarren zu Großpfarreien.

Hier stellt sich ernsthaft die Frage nach einer guten Aufgabenteilung zwischen Priestern und nicht geweihten Männern und Frauen. Die Priester (und Bischöfe) leiden dabei durchaus an der Überfülle ihrer Macht, die auch mit einem Berg an Aufgaben und Verantwortlichkeiten einher geht.

In diesem Kontext muss man sich die Frage stellen, ob sich in unserer Religion nicht überhaupt die Kirche als Institution (nicht als mystische Größe) allzu breit gemacht hat. „Entweltlichung“, das ist seit dem Besuch von Papst Benedikt XVI. in Deutschland die Herausforderung an die Kirche. Es muss sich etwas ändern. Entweder in der Frage, ob wirklich nur die Männer zum priesterlichen Dienst berufen sind oder ob auch Frauen Priester werden können. Oder, inwieweit die Institution sich zurücknehmen muss, um Energie und Kreativität der Laien frei werden zu lassen, die sich nicht im Erhalt kirchlicher Strukturen, in der Verwaltung der kirchlichen Machpositionen erschöpft, sondern in der Verkündigung des Evangeliums. Ich glaube, wenn die Kirche daran festhalten möchte, dass der Priester Christus als Mann repräsentiere, und dass dieser der Gemeinde als Braut Christi gegenüber stehe. Wenn ihr diese Symbolik so wichtig ist, die ja möglicherweise auch durch die Tatsache unterstützt wird, dass Jesus 12 Männer in den Jüngerkreis aufgenommen hat, dann muss sich auch die Rolle des Priesters in der Gemeinde wandeln. Der Priester muss nicht das Haupt jeglichen gemeindlichen Tuns sein, auch die Apostel traten in vielfacher Hinsicht immer wieder in den Hintergrund, wenn es nicht um ihre spezifische Berufung und Sendung ging. Angefangen schon in dem Moment, wo Christus in Fesseln aus dem Garten Gethsemani abgeführt wurde.

Kirche als Institution raubt uns aktuell sehr viel Energie. Hier ist etwas aus dem Gleichgewicht geraten. Sicherlich wäre es unklug, im Sinne einer schlanken Kirche zahlreiche segensreiche Einrichtungen und Initiativen gezielt zu beenden. Nur ein Beispiel: Prävention von sexueller Gewalt und spirituellem Missbrauch braucht auch Struktur und Organisation. Dennoch: der Aufwand für die kirchliche Struktur muss in einem vertretbaren Verhältnis zum Aufwand für die Verkündigung des Evangeliums stehen. Vielleicht ist es ein Anfang, wenn jede*r kirchlich Engagierte einmal schaut, wie viele Stunden er/sie von seinem Engagement für den einen oder anderen Bereich aufwendet.

Der Zölibat, die Ehelosigkeit um des Himmelreichs willen, hat seine prophetische Kraft weitgehend verloren. Er ist eher zum Ärgernis geworden. Kaum noch jemand erkennt mehr darin, was die Kirche darin sehen möchte. Der Versuch hier zu vermitteln ist heutzutage zum Scheitern verurteilt. Allein die Verkündigung überzeitlicher Wahrheiten macht diese nicht unmittelbar einsichtig. Wir müssen das Sprechen über Ehe und Zölibat völlig neu lernen. Ich bin skeptisch, ob eine schlichte Aufhebung des Zölibats die Lösung wäre. Nein, ich glaube das nicht. Aber vielleicht müssen wir neu über Ämter und Dienste in der Kirche nachdenken und über die Charismen, die das ehelose und das verheiratete Leben in diese Ämter und Dienste einzubringen vermag. Vielleicht wirklich mehr im Sinne des Matthäusevangeliums: „Wer es fassen kann, der fasse es.“

Zur Sexualmoral habe ich an dieser Stelle schon häufiger Gedanken notiert. Das möchte ich jetzt nicht wiederholen. Wem nützt eine Moraltheologie, die wie ein wunderbares, goldenes Sakramentshäuschen auf dem Sockel steht, aber unerreichbar ist oder auch nur von kleinen Minderheiten gelebt wird. Wir müssen den Schatz der kirchlichen Moralverkündigung wieder neu heben und uns von dem ein oder anderen Schnörkel auch einmal verabschieden. Und dürfen auch hier und da noch dazu lernen. Das wird das Gesamtkunstwerk nicht aus den Angeln heben. „An der Lebenswirklichkeit“ ausrichten kann nicht heißen, die – sehr vielgestaltige – Lebenswirklichkeit als Maßstab nehmen, sondern eine Moralverkündigung möglich zu machen, wo Samenkörner auf fruchtbaren Boden fallen und im Herzen der Betreffenden zu keimen beginnen. Und den ein oder anderen Um- und Irrweg der Menschen auch liebevoll zu begleiten.

Maria 2.0 ist ein Problemanzeiger. Hier sprechen Menschen, denen die Kirche wichtig ist. Auch wenn sie zu Worten und Aktionen greifen, die manche anders kirchenverbundene Menschen irritieren. Es macht keinen Sinn, ihnen, – um in biblischen Worten zu sprechen, den „verlorenen oder besser verlaufenen Schafen“ hinterherzubrüllen und so noch Angst zu machen. Diese Aktionen sind Problemanzeiger in vielfacher Hinsicht. Selbst mit noch so berechtigter Kritik an der Aktion kommen wir nicht einen Schritt weiter. Wir müssen feststellen, dass gewisse Aspekte des kirchlichen Lebens heute nicht einmal mehr von jenen verteidigt und vertreten werden, die das kirchliche Leben weitgehend stützen. Die Argumente sind wirkungslos geworden. Soll die Kirche der Zukunft etwa nur noch aus jenen bestehen, die - sicher wichtige - aber oft auch nur sekundäre - Überzeugungen der Kirche zu 100 Prozent teilen? Mir ist extrem unbehaglich mit Maria 2.0, aber nicht in erster Linie wegen mancher schriller Wortmeldung, sondern wegen grundsätzlicher Probleme, die sich hier aufdecken. Allein mit Top-Down-Verkündigung und Katechese ist da nichts zu retten. Und auch nicht mit "anathema sit".

Ich finde es unverantwortlich, dass Bischöfe so reden, wie kürzlich Konrad Zdarsa, der meinte, es stehe jedem frei, "das Schiff der römisch-katholischen Kirche zu verlassen“. Auch wenn er sich dabei auf Papst Franziskus beruft, der das aber scherzend sagte, um deutlich zu machen, dass es doch unzweifelhaft sei, dass man gemeinsam katholisch bleiben wolle.

Wir haben als Kirche einen schwierigen, geistlichen Weg vor uns. In direkter Konfrontation können wir diese (geistliche) Auseinandersetzung nicht gewinnen.
„Nichts ist verloren durch den Frieden, alles kann verloren werden durch den Krieg", so lautete der eindringliche Appell des Papstes Pius XII. in einer Rundfunkbotschaft am 24. August 1939. Dieses weise Wort gilt auch am Vorabend der 2. Reformation, wo man schon die ersten Hammerschläge Luthers an der Tür zu hören meint.

Viele der "heute gängigen Forderungen", vor allem auf dem Gebiet der Sexualität und dem Verhältnis der Geschlechter zueinander, würden das bisherige Menschenbild, Glaubens- und Kirchenverständnis so verändern, "dass uns letztlich eine neue Kirchenspaltung droht", warnte Bischof Oster in der schon zitierten Predigt. Vor 500 Jahren hat die katholische Kirche hier den Kairos verpasst und notwendige Reformen erst später im Konzil von Trient, vielleicht sogar erst im 2. Vatikanum angepackt. Hoffen wir, dass unsere Bischöfe mit den Rufen nach Reformen heute verantwortlicher umgehen, als es den Bischöfen und dem Papst damals gelang. Im Lutherjahr wurde ja hierzu vielfältig geforscht und veröffentlicht. Vielleicht bleiben wir ja diesmal davor verschont „zu spät zu kommen und vom Leben bestraft zu werden.“

Ich denke, es ist nicht falsch zu sagen, dass sowohl die katholische wie auch die evangelische Kirche bis zum heutigen Tag unter den Folgen der Reformation leiden. Die Kirchenspaltung hat beiden Seiten ein schweres Erbe auferlegt und es wäre wirklich erstrebenswert, wenn wir mit großer Entschiedenheit auf allen Seiten dem Gebet Jesu für seine Jünger folgen (Joh. 17):

Hier zitiere ich dies in ökumenischer Verbundenheit aus der Luther-Übersetzung:

„Heilige sie in der Wahrheit; dein Wort ist die Wahrheit. Wie du mich gesandt hast in die Welt, so habe auch ich sie in die Welt gesandt. Ich heilige mich selbst für sie, auf dass auch sie geheiligt seien in der Wahrheit. Ich bitte aber nicht allein für sie, sondern auch für die, die durch ihr Wort an mich glauben werden, dass sie alle eins seien. Wie du, Vater, in mir bist und ich in dir, so sollen auch sie in uns sein, auf dass die Welt glaube, dass du mich gesandt hast. Und ich habe ihnen die Herrlichkeit gegeben, die du mir gegeben hast, auf dass sie eins seien, wie wir eins sind, ich in ihnen und du in mir, auf dass sie vollkommen eins seien und die Welt erkenne, dass du mich gesandt hast und sie liebst, wie du mich liebst.



Sonntag, 12. Mai 2019

Deutschland - ein Kirchenstaat: Macht dem ein Ende! Hä?

(c) Giordano-Bruno-Stiftung:
Die säkulare Buskampagne 2019,
Foto vom Bus (1). Foto: Evelin Frerk

Mein Lieblingsatheist hat mal wieder einen rausgehauen: Im STERN erschien dieser Tage ein langer Artikel, in dem Michael Schmidt – Salomon den Lesern die humanistische Welt erklärt. Mein erster, kurzer Kommentar dazu in einem Diskussionsforum mit Atheisten und Gläubigen:  „Nachrichten aus dem Paralleluniversum der Giordano-Bruno-Stiftung“. Eine Provokation, die einen der Gesprächspartner dort so aufgebracht hat, dass er mir Sehnsucht nach einer Theokratie, einen Gottesstaat vorwarf.

Nachdem wir uns im Gespräch nicht darauf einigen konnten, dass Michael Schmidt-Salomon (MSS) unfair und populistisch argumentiert, will ich meinen Eindruck an dieser Stelle einmal ausführlicher darlegen, zumal die Giordano-Bruno-Stiftung (GBS) in diesen Tagen wieder ihre große Anti-Kirchen-Kampagne starten will.

Dabei steht mir, ich muss es ehrlich gestehen, noch ein wenig das sogenannte „Wort zum Karfreitag“ im Wege, bei dem MSS im Stile des „Wort zum Sonntag“ eine süffisante Rede gegen die Ausgestaltung des gesellschaftlichen Rahmens für diesen christlichen Feiertag und das damit einhergehende Verbot lauter und fröhlicher Veranstaltungen forderte. Persönlich habe ich gar nichts dagegen, dass niemand Rücksicht auf christliche, muslimische oder staatliche Feste nehmen muss und finde, dass er seine private Lebensgestaltung deshalb auch nicht einschränken muss. Aber, welchen Sinn machen dann eigentlich noch staatliche Feiertage, die einen gewissen Inhalt religiöser Natur oder historischen Gedenkens transportieren wollen? Ich denke, da braucht es immer mal wieder die Diskussion und den gesellschaftlichen Konsens, der dann aber auch für einige Zeit durchgetragen wird. Wie feiern wir einen Festtag und warum tun wird das? In einem evangelischen Land macht daher ja ein freier Fronleichnamstag auch wenig Sinn. Und wo Festinhalte von einer Gesellschaft nicht mehr begangen oder gefeiert werden, brauch es auch keine freien Tage mehr. Mal ganz zu Schweigen davon, dass gerade der Karfreitag doch die humanistische Grundhaltung des Mitgefühls in außerordentlicher Weise in den Mittelpunkt stellen könnte. Ob sich Mitleiden und Mitfühlen allerdings mit Klamauk und lauten Tanzpartys so leicht verbinden lassen, das möge sich die GBS selbst fragen. Aber ab und an ist es ja auch gut, sich einmal abzulenken, vom ganzen Elend dieser Welt.

Kirchenstaat? Nein Danke", mit diesem plakativen Spruch ist der Bus der säkularen Buskampagne beschriftet. Dazu kann ja auch jeder Christ (mit Ausnahme einiger kleiner Splittergruppen nur aus ganzem Herzen Ja sagen). Ehrlich gesagt fällt mir auch so recht kein Land ein, wo man noch von einem Kirchenstaat reden kann, naja, vielleicht noch der Vatikan. Aber gegen den feudalistischen Kleinstaat des Papstes scheint man ja nicht protestieren zu wollen. Sonst stände der Bus – italienisch beschriftet – am Tiber und nicht in Deutschland. Weniger plakativ als der Spruch lautet denn auch das hiermit verfolgte Ziel der GBS:  „Die konsequente Trennung von Staat und Kirche sowie die strikte Beachtung des Verfassungsgebotes der weltanschaulichen Neutralität des Staates."

Da wird nun spannend, was damit gemeint ist. In dieser allgemeinen Formulierung fände er auch unter Christen sicherlich eine satte Mehrheit an Zustimmung. Aber, hören wir auf MSS:
„Unsere Kampagne richtet sich ausdrücklich nicht gegen die Kirche. Wir werben für einen weltanschaulich neutralen Staat. Dafür können auch gläubige Menschen eintreten.“

Na, da bekomme ich doch etwas das Gefühl, da will mir einer Sand in die Augen streuen. Dieses Werben für einen „säkularen Staat“ begründet der Philosoph so, dass der Staat ja in den letzten Jahren vielgestaltiger, pluraler, säkularer geworden sei und mehr und mehr herausgefordert wäre, auf dem Spiel feld der Religionen und Weltanschauungen zum „unparteiischen Schiedsrichter“ zu werden. Dass dies aktuell noch nicht gelänge sähe man daran, dass man heute den Christen Rechte gewähre, die den Muslimen z.B. nicht offen stünden.  Was er konkret damit meint, erklärt er leider nicht. Mir will auch im Grunde nichts einfallen, womit man diese Behauptung illustrieren könnte. Mal abgesehen davon, dass sich die vielgestaltigen Organisationsformen des Islam nicht so recht in den organisatorischen Rahmen einer „Körperschaft des öffentlichen Rechts“ einfügen lassen wollen.

Auf die kritische Frage des Interviewers, ob die GBS nun die sozialen Einrichtungen wie Caritas und Diakonie in Frage stellen wolle, antwortet dieser: „Wir sprechen uns nicht prinzipiell gegen die Kooperation, wohl aber gegen die Kumpanei von Staat und Kirche aus.“ Um dies zu erläutern bringt MSS das putzige Bild, dass erst die Weimarer Republik vor 100 Jahren Staat und Kirche getrennt habe, aber die Scheidungspapiere habe man bis heute nicht unterzeichnet. Daher gebe es eine Kumpanei bzw. eine staatliche Bevorzugung von Caritas und Diakonie gegenüber anderen Trägern.
„Es gibt in dem Bereich keinen wirklichen Wettbewerb – und die Kirchen verdienen sehr gut daran. Mit reiner Wohltätigkeit hat das wenig zu tun.“

Diese Behauptung wird immer wieder gerne aufgestellt und kaum ein Stammtischabend und kaum ein Facebook-Forum, wo das nicht auf den Tisch gebracht wird. Man wundert sich, dass ein Philosoph auf diesem Niveau argumentiert. Natürlich ist da auch was dran. Caritas und Diakonie tummeln sich hier im weiten Feld sozialen Engagements. Hier finden wir vom Krankenhaus, über den Kindergarten bis hin zum Hospizdienst zahlreiche soziale Angebote unterschiedlichster Träger. Ihnen allen gemeinsam ist, dass ihre Mitarbeiter über schlechte Bezahlung und ihre Träger über eine kaum auskömmliche Finanzierung jammern. 

In den Jugendjahren der Bundesrepublik haben die Väter und wenigen Mütter unseres Staates den Gedanken gehabt, die Gleichschaltung der sozialen Dienste und Initiativen zu beenden. Nie wieder sollte die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt (oder andere Organisationen) das Leben der Menschen von der Wiege bis zur Bahre bestimmen. Daher gründete man große Wohlfahrtsverbände mit gewerkschaftlichem, sozialistischen, christlichem, jüdischen Hintergrund. Heute ist diese Landschaft noch viel bunter als damals, weil sich auch noch viele kleinere, freie Träger gründe(te)n, die soziale Aufgaben im Auftrag der Kommune, des Landes oder des Bundes erfüllen möchten. Meist steht dahinter eine kreative Idee oder eine konkrete Notlage, auf die man antworten möchte.

Es ist doch die große Angst aller Kämmerer, dass sich die Kirchen aus diesem Bereich zunehmend zurückziehen, weil auch bei ihnen die Mittel immer knapper werden. Dann fällt so manches wieder voll in die Haushalte der Städte, Kreise und Länder zurück. Ich kenne kaum einen Pfarrer, der allein aufgrund der Bilanzen seiner Kindergärten, Krankenhäuser und Pflegedienste  einen ruhigen Schlaf pflegt. Dass der Betrieb sozialer Einrichtungen kein besonders vergnügungssteuerpflichtiges Unterfangen ist und auch nicht „sehr gut daran verdient“ wird, kann man ja auch schon daran erkennen, dass die GBS jedenfalls ausweislich ihrer Homepage nicht als großer Träger sozialer Dienste unter die Leute geht. Vielleicht klänge dann mancher vollmundige Satz auch weniger knallig.
Natürlich liegt ein großer Teil der sozialen Dienste in den Händen kirchlicher Träger und sicherlich ist dort auch – aus verschiedensten Gründen – nicht alles Gold. Ich sehe aber keine Gewähr, dass irgendetwas besser würde, wenn all diese Dienste wieder unter staatliche Obhut gerieten. Und viele Dienste, die durch freie und kirchliche Träger angeboten werden, machen eine wirklich gute Arbeit, die sie mit Stolz den Prüfungsbehörden und Geldgebern gegenüber verantworten. 

Der wesentliche Unterschied zu einem völlig freien Markt hier ist, dass gerade die Absicht zur Gewinnerzielung ausgeschlossen wird. Dass dies auch anders sein kann, sieht man aktuell ja in der Diskussion um Altenpflegeeinrichtungen in privater Trägerschaft und deren von den Investoren erwarteter Gewinnspannen. Wer zahlt denn hier die Zeche am Ende?

Im Interview wird auch darauf hingewiesen, dass es doch inzwischen zahlreiche weitere freie Träger gibt, die sich in diesem „Markt“ tummeln. MSS bügelt das mit der Bemerkung ab, dass es ja noch Regionen gäbe, wo 80 % aller Kindertageseinrichtungen in kirchlicher Trägerschaft seien.  Angeblich, obwohl sich die Menschen in der Region etwas Anderes wünschen würden. Ich würde MSS wünschen, dass er wahrnimmt, dass sich diese Situation in einem rasanten Wandel befindet. Auch von Seiten der Kirche gibt es Interesse daran, Kindergärten für die Familien zu betreiben, die sich für ihre Kinder kirchliche Kindertageseinrichtungen wünschen. In meiner Heimat ist die Situation inzwischen so, dass wir nur gut ¼ der Kindertageseinrichtungen betreiben, aber 1/3 der Familien möchte bei uns einen Platz. Es ist bedauerlich, so vielen Menschen absagen zu müssen und zieht manche persönliche Enttäuschung nach sich. 

Nun kommt es im Interview zu den beliebten Themen Kirchenaustritt und Arbeitsplatz in kirchlichen Einrichtungen. Da sieht MSS die Religionsfreiheit in Gefahr. Anhänger der GBS finden bei der Caritas keinen Arbeitsplatz, wenn sie nicht wenigstens Mitglied einer Kirche oder anderen Glaubensgemeinschaft sind. Auch dieses Problem erkennen wir als Kirche und fragen uns zunehmend, wie man mit Leuten, die selbst nicht mehr kirchlich glauben und praktizieren das katholische Profil einer Kita, eines Krankenhauses, einer Schule oder einer Beratungsstelle bewahren kann. Ich denke, man würde sich – wenn auch aus unterschiedlicher Sicht – in dieser Diskussion auf Kompromisse einigen können. Wohl aber am Ende zum Leidwesen der weltanschaulich neutralen Strukturen des Staates, der zusätzliche Aufgaben zu schultern hätte, ginge es nach der GBS. Denn, dass ein humanistischer Träger wie ein Giordano-Bruno-Wohlfahrtsverband derartige Dienste übernähme würde sich ja auch mit der gewünschten Neutralität nicht besser vertragen als die Trägerschaft der AWO oder der jüdischen Zentralwohlfahrtsstelle. 

Gestreift wird übrigens noch die „Kumpanei des Staates“ mit den Kirchen z.B. in der Frage der Misshandlungen in der Heimerziehung, die in Heimen staatlicher wie kirchlicher Trägerschaft bedauerlicherweise gleichermaßen vorkam und analog im Umgang des Staates mit den Täterorganisationen kath. und ev. Kirche mit Blick auf die in deren Einrichtungen vorgekommenen Fälle sexueller Gewalt gegen Kinder und Schutzbefohlene. Zu diesem traurigen Thema kann ich nur schwer etwas beitragen. Im Evangelium heißt es klar: „Bei euch aber soll es nicht so sein…“ Für praktizierende Christen ist es schwer zu ertragen, dass „unsere Leute“ auch nicht besser handelten als jene, denen Jesu Wort: „Wer einen von diesen Kleinen etwas antut, für den wäre es besser…“ nicht in den Ohren klingt.

Auch die Staatsdotationen werden noch schnell hingeworfen. Damals wären es ja selbst Kirchenfunktionäre gewesen, die diese Regelungen unterzeichnet hätten. Soweit ich mich aus dem Geschichtsunterricht erinnere gab es damals alles Andere als „Kumpanei“ zwischen Staat und Kirche. Im Gegenteil, man nannte das damals „Kirchenkampf“ und der wurde von der Kirche wirklich als Unterdrückung und Krieg erlebt. Allerdings konnte sich damals noch niemand vorstellen, dass Gesellschaft ohne Glauben und entsprechend ohne Kirche funktionieren könnte. Man stand daher vor der Aufgabe, den Kirchenbesitz zu enteignen und dennoch eine Finanzierung der Kirche sicher zu stellen, die deren Funktion weiter gewährleistete. Hier führte man dann unter Protest der Kirchen die direkte Finanzierung bestimmter kirchlicher Dienste (die berühmten Gehälter der höheren Geistlichen und den Unterhalt gewisser kirchlicher Einrichtungen) durch den Staat und die Kirchensteuer als Eigenanteil der Gläubigen zur Kirchenfinanzierung ein. Aus heutiger Sicht war das ein doppelter Segen für die Kirche. Sie entkam der Situation, dass Bischöfe auch Landesfürsten waren und Klöster Grundherren, die von ihren Untertanen Abgaben forderten. Und sie kam zu einer langfristig auskömmlichen, gerechteren Finanzierungsbasis. Sicherlich ist das alles weit von einem Ideal entfernt, aber so billig wie es gern und auch hier diskutiert wird, ist es nicht. Ich fürchte einfach, dass der Geschichtsunterricht zwischen den Siegen und Niederlagen des Kaisers Napoleon und der Wirtschaftskrise der 1930er Jahre einige Kapitelchen überschlagen hat. 

In dem Interview darf natürlich auch die Abtreibungsgesetzgebung nicht fehlen. Hier wird ebenfalls ein interessantes Geschichtchen präsentiert. Grob zusammengefasst habe der gute Kanzler Schmidt die Fristenlösung eingeführt. Diese sei aber von katholischen Funktionären unter den Bundesrichtern wieder gekippt worden. Schwangerschaftsabbrüche und die Information darüber durch Ärzte sei  daher bis heute gesetzeswidrig. Und das sei nur eine Folge staatlich-kirchlicher Kumpanei. 

Damit diskriminiere man nicht nur Millionen konfessionsfreier Menschen, sondern auch Jüdinnen und Musliminnen. Hm, soweit ich mich erinnere ist Abtreibung auch für gläubige Juden und Muslime keineswegs erlaubt! Und ich halte es durchaus für eine bedrängende humanistische Frage, inwieweit ein Kind im Leib der Mutter Anspruch auf Schutz hat. Ich kann mir ehrlich nicht vorstellen, dass ein Humanist sich die Haltung „Mein Bauch gehört mir!“ einfach so zu Eigen macht, sondern dass er durchaus das Recht der Mutter und das Lebensrecht des Ungeborenen in Beziehung setzt und hier abwägt. Jedenfalls kenne ich einige Philosophen, die hier sehr differenzierte und abwägende Meinungen vertreten. Da muss man natürlich nicht die kirchliche Haltung des Schutzes ungeborenen Lebens vom Moment der Zeugung an vertreten. Und ich sehe in der Kirche auch niemanden, der mit der aktuellen Gesetzeslösung in Deutschland vollständig einverstanden wäre. Ja, es gibt unglaubliche Verhärtungen in der Diskussion über die Frage des Schutzes der ungeborenen Kinder, wie uns die maßlosen Reaktionen auf entsprechende Protestaktionen von Abtreibungsgegnern in ganz Deutschland immer wieder lautstark vor Augen führen. „Hätt‘ Deine Mutter abgetrieben, wärt ihr uns erspart geblieben…“ Ich hoffe noch immer, dass Christen und Humanisten in vielen Punkten keine Gegner sondern eigentlich natürliche Verbündete sind.

Ähnlich wird auch die Frage der „Freitodbegleitung“ in das Interview eingebracht. Auch hier ist die Kirche der Bremser an der humanistischen Lokomotive.

 „Unsere Gesetze sind quasi von der Wiege bis zur Bahre religiös bestimmt.“ Der Zynismus dieses Satzes geht einem erst auf, wenn man eine Weile über die Konsequenz des Gesagten in Sachen ärtzliche Freitodbegleitung und Abtreibung nachdenkt.

„Das Beste kommt zum Schluss!“
Auf den Einwand des Fragestellers, dass die Kirchen doch nicht „nur rückwärtsgewandte Organisationen“ seien, die „sich in alle Belange des Lebens einmischen“: „Sie geben immer noch vielen Menschen Halt und Orientierung, sie stehen für Werte ein.“ Kommt dann MSS Unterscheidung humanistischer und christlicher Werte. Der Aspekt, der mich besonders aufregt:

„Ich glaube, viele Menschen verwechseln die humanistischen Werte mit den christlichen Werten. Christliche Werte waren zum Beispiel die körperliche Züchtigung von Kindern oder der Kuppelparagraph. Die Gleichberechtigung von Mann und Frau, Meinungsfreiheit, Selbstbestimmung – all das, was bei uns im Grundgesetz steht, sind humanistische Werte.“

Das ist eine perfide Aschenputtel-Taktik. Die guten ins humanistische Töpfchen, die Schlechten ins gierige Kröpfchen der Kirche. Selbstverständlich wird MSS genügend Beispiele finden, um die Sünden der Kirche und die Sünden von Kirchenmännern in diesem Kontext zu präsentieren. Es gab das sicherlich auch genug. Aber wenn man sowas diskutiert, muss man entschieden an die Wurzeln zurück gehen. Und das wären bei christlichen Werten die Werte Jesu, die Werte des Evangeliums. Oft genug wurden diese in der Kirchengeschichte verdunkelt, das ist keine Frage. Erst recht da, wo sich die Kirche mit der Macht verbündet hatte oder sich Machtstrategien nur das christliche Mäntelchen umhingen. Ähnliche ließe sich auch mit dem Deckmantel des Humanismus trefflich betreiben. Christliche Werte, das sind Nächstenliebe, das ist auch Feindesliebe, das ist auch Unterstützung und Hilfe für jene, die meine Hilfe gerade nötig haben, das ist Rücksichtnahme auf Kinder, das ist Sorge für Arme, Alte und Kranke, das ist Achtung vor den Eltern und vor alten Menschen, das ist Achtung vor dem Eigentum der Anderen, das ist, sich nicht selbst zum Herrscher und Unfehlbaren zu erheben, sondern über sich einen Gott zu sehen, dem man für sein humanes Handeln verantwortlich ist. Das ist Ehrlichkeit, Gradlinigkeit… und manches mehr.

Ich sehe nirgends die Perikope des Evangeliums, wo Jesus Kuppelei verdammte oder zur Züchtigung von Kindern aufrief. Nein, das was nach MSS christliche Werte „waren“, das waren und sind schon immer Handlungen gewesen, die Gott missfallen (auch wenn Menschen das sicher über Jahrhunderte auch schon mal anders sahen.) Ich halte auch nichts davon die ganze Sache umzudrehen und für alle Gute „Christlichkeit“ zu beanspruchen. Dem hohen Anspruch des Evangeliums sind Christen manches Mal nicht gerecht geworden. Oder sie haben das Wort Jesu verdreht und verbogen.

Sowenig das Wort „christlich“ jeder Handlung heiligt, die damit gestempelt wird, so wenig wird das Wort „humanistisch“ Menschen an ethisch schlechten Handlungen hindern.

Die Geschichte ist voller Beispiele, wo Christen sich für Arme, Alte, Kranke aufgeopfert haben. Ja, es gibt die Idee der „Hexenverfolgungen“, die aus einer unseligen Mischung von Aberglauben und Christentum entstanden ist. Aber es gab auch auf allen Ebenen der Kirche immer Widerstand dagegen, ich erinnere hier nur an Friedrich Spee oder an die päpstlichen Verdammungen des Hexenglaubens. Übrigens bis in die heutige Zeit, wo dieser in manchen Regionen Afrikas weiterhin lebendig ist.

Ich erinnere an die Wurzeln der heutigen medizinischen Versorgung und des Krankenhauswesens, die allesamt im Christentum und in den Hospitälern liegen, die von frommen Bruderschaften erfunden und später von Krankenpflegeorden fortgeführt wurden. In jüngster Zeit: Was wäre die Hospizbewegung ohne engagierte evangelische und katholische Christen? Die Begleitung von Menschen in der letzten Phase ihres Lebens erschöpft sich eben nicht nur im ärztlich begleiteten Freitod.

Ja, ich höre schon die Einwände, lieber MSS; was ist mit liberaler Demokratie, was ist mit Sklaverei, was ist mit Religionsfreiheit, was ist mit Gleichberechtigung der Geschlechter und und und…  Ja, es stimmt! Die Kirche, insbesondere deren Kirchenleitung braucht nicht selten quälend lang für eine gute Einsicht. Aber das beklagen vor allem engagierte und im Kopf bewegliche Christen in aller Welt und sorgen dafür, dass die Dinge in Bewegung kommen. Das geschieht, ich gestehe es ehrlich ein, oft weitaus langsamer als es vermutlich in Vorstand und Kuratorium der GBS möglich ist. Leider kommt die Kirche mit einer so schlanken Struktur nicht aus und beteiligt ihre Mitglieder auf vielen Ebenen und ist vor allem weltweit eng vernetzt. Trotzdem, bei aller gebotenen Gründlichkeit und Multikulturalität würde ich mir auch manchmal schnellere Verbesserungen wünschen.

Ich erinnere an den Widerstand zahlreicher Christen gegen faschistische und kommunistische Systeme, die Würde des Einzelnen und seiner Haltungen und Überzeugungen für wertlos hielten und diese der Volksgemeinschaft oder dem Wohl des sozialistischen Staates unterordneten. Beispiele hierfür finden sich von der Kreuzigung Jesu an bis in die jüngste Zeit, wo christliche Geistliche nach wie vor in den Konzentrations- und Umerziehungslagern Chinas und Nordkoreas verschwinden.

MSS diagnostiziert eine unselige Verbindung zwischen Chauvinismus und Religion z.B. in Polen, Ungarn und in der Türkei. Da ist ihm sicher zuzustimmen. Es gibt offenbar immer die Versuchung, religiöse Überzeugungen mit der Macht der Mächtigen durchzusetzen und einige Christen, die dieser Versuchung erliegen. Das wird von der Mehrheit der engagierten Christen im Übrigen auch öffentlich sehr beklagt.

Diese Situation kann man aber nicht bekämpfen durch eine weitere Schwächung der Kirchen und der Christen, sondern mit dem Gegenteil. Die Mehrheit aller gläubigen Christen weiß, dass mit autoritären Systemen kein Staat zu machen ist und dass die Religion in solchen Systemen immer verliert. Sie erinnern sich noch gut an die Diktatur des Nationalsozialismus und sie wissen, dass gelebtes Christentum nur dann einen Wert hat, wenn es in Freiheit gelebt wird. Christen denken und Handeln anders, weil sie sich an den Werten und am Weg Jesu Christi orientieren. Dieser Lebensweg lebt und strahlt aus – nicht unter Zwang sondern wenn, dann allein aus Einsicht und Entscheidung.  

Sicherlich haben die Kirchen da auch weiterhin noch einen Pilgerweg zu gehen. Anders als MSS glaubt, scheinen sie mir allerdings durchaus mit der modernen Welt Schritt zu halten. Jedenfalls liegen sie nicht immer ganz weit zurück – und manchmal ist es ja auch gut, die „Avantgarde“ im Auge zu halten, aber doch bei denen zu bleiben, die sonst abgehängt würden.

Das kann nur gelingen, wenn wir den einzelnen Menschen stärken…“ Genau, das sehen wir als Kirchen gar nicht anders als MSS und so handeln wir sicherlich in weitgehend allen Bezügen kirchlichen Handelns, was nicht ausschließt, dass es hier und da nach wie vor Widersprüche gibt, auf die hinzuweisen ist.

Auch dass wir Gemeinschaft brauchen „Wir sind alle eine Familie“ mit gemeinsamen Werten und gemeinsamem Erbe, mit dieser Erkenntnis laufen Sie bei uns offene Türen ein. Wir glauben allerdings nicht, dass die Individualität des Menschen durch eine fiktive „Menschheitsfamilie“ absorbiert wird. In der Menschheitsfamilie gibt es auch jeweils kleinere Gruppen, die durch ein gemeinsames (hier christliches) Erbe verbunden sind. Natürlich ist unser Erbe im Guten wie im Schlechten durch rund 1.800 Jahre Christentum in Deutschland geprägt und beeinflusst. Aus dieser Erfolgs- und Leidensgeschichte können wir viel lernen für die Zukunft. Allerdings nicht, indem wir uns von diesem Erbe trennen und einen neuen Humanismus konstruieren, als wäre dies als theoretische Konstrukt gemeinsamer Werte ohne Wurzeln in der Geschichte möglich. 

Das Beste kommt zum Schluß, dass gilt für dieses Interview von MSS gleich doppelt:
Auf die Frage nach einem Land, in dem die Trennung von Staat und Kirche seiner Meinung nach gut läuft? Überlegt er erst und sagt dann:
„Tatsächlich sind wir in Deutschland schon relativ weit. ... Frankreich und die USA, die oft als Musterbeispiel für Laizismus gelten, sind keine leuchtenden Vorbilder. Dort wird die Religion aus der öffentlichen Debatte herausgenommen, aber wir müssen über Religion diskutieren – und mit ihr.“
Da sind wir uns dann am Ende wenigstens einigermaßen einig geworden. Anders als in der „Dialoggruppe“ bei fb.

Man fragt sich, welches Zerr- und Feindbild von Kirche und Christentum dem Denken mancher Aktivisten zu Grunde liegt. Nirgendwo wird das schöner auf den Punkt gebracht als im Kampf gegen einen gefühlten Kirchenstaat Deutschland. Dabei gibt es sicher bedenkenswerte Punkte und vieles wird auch zu Recht kritisiert. Nur ist dieses Interview alles Andere als auf der Höhe der Zeit. Nein, es ist nicht auf philosophischem, sondern auf recht schlichtem Stammtischniveau, wenig differenzierend und ziemlich populistisch. Als Einladung zum Dialog "mit der Religion" empfinde ich das ebenso wenig wie die konkreten Gesprächserfahrungen mit den Anhängern der GBS. Aber wer weiß, vielleicht kommt das ja noch, wenn man mal Regeln humanistischer Gesprächskultur entwickelt.

Hier das Interview mit MSS im STERN: 

Schon im Vorfeld der Aktion wurde ich um einen Gastbeitrag zur Kampagne der gbs (nach einer Wortmeldung bei fb) gebeten: https://www.kath.net/news/67630