Dienstag, 25. Dezember 2012

Joachim mir graut's vor dir - Herzlichen Glückwunsch lieber Kardinal!


Was haben eigentlich so viele Leute gegen Kardinal Meisner? Sicher, als der vor 25 Jahren Erzbischof von Köln wurde, waren die Kölner nicht begeistert. Dem ehemaligen Kölner Kardinal Josef Frings zugeschrieben wird der Satz, dass auf der Wahlliste aus dem Vatikan stets „ein Neger, ein Chinese und einer, der es werden soll“ ständen. Offensichtlich hatten man auch diesmal einen Anderen erwartet oder schon einen genehmeren Kandidaten im Köcher. Und dann sollte dieser konservative Schlesier kommen...
Aber haben die Kölner nicht schon ganz andere „Immis“ umarmt und aufgenommen? 
Es war sicher ein schwieriger Start, weil das Kölner Domkapitel sich zunächst nicht auf den Berliner Bischof als neuen Kölner Erzbischof einigen konnte. Papst Johannes Paul II. favorisierte ihn, das war bekannt, aber die notwendige Mehrheit kam nicht zustande. Erst als der Vatikan den Wahlmodus veränderte konnte Meisner mit 6 Ja-Stimmen und 10 Enthaltungen zum neuen Kölner Erzbischof bestimmt werden. Diesem Gezerre folgten heftige Proteste aus kirchlichen Kreisen. Kein Bilderbuchstart! Und das wirkt bis heute nach. Ich erinnere mich an einen Domführer, der uns erklärte, dass für jedes neue Amtsjahr eines Kölner Erzbischofs ein Stab im Seitenschiff des Domes aufgehängt wird und dass man die Querstange hierfür schon habe verlängern müssen. Es würde daher mal Zeit wieder von vorn anzufangen. Solche kleinen Spitzen gibt es allenthalben. Selbst treu-fromme Kölner Priester können sich manchmal eine launige Bemerkung über den Kanaal Meister nicht verkneifen. 
Andere - wie der SPIEGEL - schmähen ihn als den „Gotteskrieger vom Rhein“ oder gleich als „Hassprediger“. 
Manche geistlichen Gemeinschaften dagegen, wie das Opus Dei, die Legionäre Christi, der neokatechumenale Weg oder die Gemeinschaft von Jerusalem sind ihm sehr dankbar, weil er ihre Arbeit fördert und sie in seinem Bistum tätig sein lässt. Als zuständiger Bischof für RENOVABIS  steht er für die Kirche im Osten ein und sein Engagement für die Christen in der Türkei ist bekannt. Manchen „Liberalen“ ist er zu konservativ und in ganz konservativen Kreisen dagegen gilt er zu sehr als Mann des Wortes und zu wenig als Einer, der seine Überzeugungen in die Tat umsetzt. Die drücken das allerdings drastischer aus. 
Persönlich, so haben es mir einige Menschen berichtet, die einmal zu einem Besuch bei ihm waren, ist Joachim Kardinal Meisner ein freundlicher, sympathischer und guter Gastgeber. Bei der Einführung des Bischofs von Münster (Felix Genn) erlebte ich mit, wie der Kardinal mit einem kleinen Mädchen ein entspanntes Gespräch führte, um die Wartezeit bis zum Einzug in den Dom zu füllen. Daher stammt das Foto auf dieser Seite.
Aber es wird auch berichtet, dass der Kölner Erzbischof „als Chef“ ein hartes Regiment führt oder führen läßt, wenig dialogbereit sei und durchaus „unchristlich“ streng mit Mitarbeitern (Laien wie Priestern) umgehe, wenn ihm deren Arbeit missfällt oder sie sich allzu „kirchenkritisch“ zu Wort melden. Immer wieder geistern solche Geschichten auch durch die Presse. 
Kardinal Meisner taucht immer wieder mit sehr pointierten Bemerkung in den Zeitungen auf. Ob es wohl klug war, sich zu den Familienverhältnissen des Bundespräsidenten zu äußern? Die CDU weiß zu berichten, dass er ihr das „C“ gern absprechen würde. Misslungen war sicher auch die Bemerkung, das „Richter-Fenster“ im Dom passe besser in eine Moschee. Ein anderes Mal sagte er, dass Kunst „entarte“, wenn sie ihre Mitte als „Gottesverehrung“ verliere. Solche Beispiele gibt es noch mehrere. Die Presse ist da auch sehr aufmerksam und legt schnell den Finger in die sprachliche Wunde. 
Dabei zeigt der Kardinal durchaus Offenheit für moderne Kunst und moderne Medien und überrascht auch sonst immer wieder. Im Bistum gibt es die Kunststation St. Peter, das Domradio, das Domforum und das Kolumba – Museum. Als Prediger höre ich Meisner durchaus gern. Er spricht sehr bildhaft und echt überzeugend. Manchmal wirkt seine darin aufscheinende tiefe Frömmigkeit vielleicht naiv oder überfromm, aber er bleibt glaubwürdig, echt und überzeugend. Doch, das sieht nicht jeder so:
„Joachim, mir graut's vor dir“, der Kölner Autor (und ehemalige Dominikaner) Hans Conrad Zander hat es nicht leicht mit „seinem“ Bischof. In seinem gleichnamigen Buch schildert er eine Szene, wo er dem Erzbischof überraschend am Buffet gegenüber steht und stammelt: „Mein Erzbischof!“ Hier das nun folgende Zitat aus diesem Buch: „Fast berührte seine rote Bauchbinde meinen Gürtel. Über seine Raubvogelnase sah er mir in die Augen. Sanft faßte er meine beiden Hände und legte sie in die seinen. Zwei Worte sprach er leise, nur diese zwei: 'Mein Erzfeind!'". 
Wobei die Lektüre des Buches zeigt, dass die beiden sich eigentlich gar nicht so spinnefeind sein können und ich vermute, dass der Kardinal durchaus das ein oder andere Zander-Buch im Regal stehen hat. Nicht nur, weil sie sich in grundsätzlichen Auffassungen über den Glauben (Thomas von Aquin, traditionelle Liturgie, Zölibat u.ä.) näher sind als viele glauben, sondern weil der Kölner Erzbischof durchaus Humor hat. Obwohl, damit hat Zander recht ... in Sachen Religion und Glaube versteht Meisner wenig „Spaß“. Es wäre spannend einmal zu hören, was er wohl vom Heiligen Filippo Neri denkt?
Ich finde aber, es lohnt sich wirklich Meisners Gedanken zur Kenntnis zu nehmen. Er ist durchaus ein Mann des Wortes. In seinen Interviews, seinen Texten, seinen Predigten gibt es immer wieder überraschende, anrührende, überzeugende Formulierungen und Gedanken. Es ist interessant, was er auf www.direktzumkardinal.de den unterschiedlichen Fragestellern (aus verschiedenen kirchlichen „Lagern“) antwortet. Er weicht auch schwierigen Fragen nicht aus und findet – wie ich meine – durchaus gute und richtige Worte. Vielzitiert ist dieses: „Liturgie ohne Diakonie ist Götzendienst.“ Im Welt – Interview mit Paul Badde anläßlich seines goldenen Priesterjubiläums sagte er: „Wenn der Mensch nicht mehr nach oben transzendieren kann, transzendiert er nach rechts und links. Er stillt seinen Ewigkeitshunger an den Gütern dieser Welt und wird doch nicht satt.“ Beim Katholikentreffen in Dresden 1987 sagte er prophetisch: „Wir wollen aber in diesem Land, das unsere Heimat ist, keinem anderen Stern folgen als dem von Betlehem." Und das angesichts des roten Sterns, der allgegenwärtig war. Im Welt-Interview findet sich auch ein vielzitiertes Wort, das gerade besonders in konservativen Kreisen die Runde machte: „Wir können der Entsakralisierung ein Ende machen. Das heißt: Wir müssen aus unseren Kirchen wieder Gotteshäuser machen, wo zu allererst die Liturgie das Mysterium des Glaubens feiert. Zum Beispiel: Wir haben das eucharistische Fasten abgeschafft, wir haben die Kommunionbänke abgeschafft, wir knien nicht mehr nieder - und haben nichts dagegen getan, dass damit auch Ehrfurchtlosigkeit und Banalisierung um sich griffen. Das konnte nicht gut gehen. Wenn wir das Mysterium der Eucharistie wieder aufleuchten lassen, kommen die Menschen von allein zu uns zurück. Wenn es nicht einfach ein Freundesmahl ist, wo man hingeht oder genauso gut nicht, sondern die Teilhabe am Erlösungsopfer Christi. Deshalb feiern wir nächstes Jahr ja auch in Köln den Eucharistischen Kongress, der dieses Bewusstsein wieder ins Zentrum rücken möchte.“ Das ist ein echter Meisner. Wer aber nun glaubt, der Kardinal wird jetzt allenthalben die Kommunionbänke wieder neu einbauen lassen, dürfte falsch liegen. Es kommt – und das weiß er sehr wohl - auf die innere Haltung an. Aber, die äußerlichen Stützen, die Gesten und Riten haben nun einmal auch innere Auswirkungen. Das wirkt aber nicht automatisch und vermutlich braucht jede Zeit eigene Mittel, um Ehrfurcht und Anbetung auszudrücken. Es geht also eher um eine Suchbewegung: „Wie können wir wieder neu empfinden und auch zum Ausdruck bringen, dass es Christus selbst ist, der im Mysterium der Eucharistie in unser Leben eingeht?“ Das kann das Knien beim Kommunionempfang sein, doch manchmal ist das „Knien“ auch demonstrative Kirchenpolitik oder zur Schau gestellte Frömmigkeitsübung und das ist das genaue Gegenteil von dem, was der Kirchenmann Meisner möchte. 
So dürfte es schwer sein, über die schillernde Persönlichkeit des Kardinals und Erzbischof von Köln, Joachim Meisner ein umfassendes Portrait zu verfassen. Auch mir ist das nicht gelungen. Ich kenne auch bisher kein ausgewogenes Werk oder einen gelungenen Artikel und bin für Hinweise dankbar. Aber, mir scheint, weder seine Gegner, noch seine „Fans“ werden ihm wirklich gerecht. 
So bleibt mir heute nur, ihm zu gratulieren (er hat heute Geburtstag (nun ja, nicht mehr ganz) und feierte vor einigen Tagen sein goldenes Priesterjubiläum) und ihm Gottes Segen für die weiteren Jahre seines priesterlichen und bischöflichen Wirkens zu erbitten. 
Vielleicht wäre es ja gut und richtig, wenn der Hl. Vater ihm als nunmehr 79jährigen die Last des aktiven Bischofsamtes von den Schultern nimmt. Und ich bin sicher, er meint es ehrlich, was er im bereits zitierten Interview aus Zitat eines anderen Kardinals berichtete, dass der, „nachdem er pensioniert war, ... da endlich mehr tun konnte als in der Zeit, als er so viel tun musste. Er brauchte keine Konferenzen mehr zu leiten, keine Sitzungen, konnte kranke Priester besuchen, Einkehrtage halten. Jeden Morgen ging er über den Domplatz, kaufte Brötchen und führte viele Gespräche.“ Dass er das ausgiebig tun kann, das wünsche ich ihm von ganzem Herzen. 

Freitag, 7. Dezember 2012

Hindenburg contra Brandt


Mit Spannung habe ich die Diskussion in meiner Heimatstadt Voerde um die Umbenennung der Hindenburgstraße verfolgt. Ich bin etwas enttäuscht, dass sie nicht „tiefer“ ging. Ich habe wahrgenommen, dass sich die Diskussion vor allem auf Paul von Hindenburg als Nationalisten und Wegbereiter Hitlers zuspitzte. Ich sehe mich sicher nicht als Freund der historischen Gestalt Hindenburg und als Kriegsdienstverweigerer sind mir seine militärischen Erfolge und seine militärische Laufbahn wirklich suspekt. Aber die Entscheidung, die Hindenburgstraße in Willy-Brandt-Straße umzubenennen, scheint mir auch keine Lösung zu sein, die einen gordischen Knoten elegant durchschlägt und der komplexen Lebensgeschichte beider Persönlichkeiten gerecht wird.
Dass die Münsteraner ihren Hindenburgplatz in Schloßplatz umbenennen, das kann ich noch gut verstehen. Wird so doch deutlich, dass die Stadt ein herrliches Schloß besitzt und dass hier nicht von einem Exerzierplatz preußischer Soldaten die Rede ist. Auch weiß jeder aus dem Monopoly-Spiel, dass ein Haus am Schloßplatz teurer sein muss als eines an der Schlesierstraße. Aber selbst die Sylter erreichen ihre Insel weiterhin über den Hindenburgdamm und wer kann schon die historische Tatsache verdrängen, dass der damalige Reichspräsident selbst diesen Damm eingeweiht hat. Aber, historische Tatsachen, das ist ein gutes Stichwort. Die Person Hindenburgs wird umstritten bleiben. Und das ist gut so!
Leider wissen viele Schüler heute nur noch wenig darüber, aber die Namen Hindenburg, Bismarck, Moltke hatten in den Jahrzehnten vor der Machtergreifung Hitlers einen besonderen Klang, der teilweise zum Mythos stilisiert wurde und bis zum heutigen Tag nachhallt. Heute sehen wir all das zu Recht kritisch, obwohl uns durch den zunehmenden zeitlichen Abstand geschichtliches Wissen und konkrete Erinnerung verloren geht. Aber, was wird eigentlich besser, wenn wir Hindenburg aus dem „Straßenbild“ tilgen? Wäre es nicht sinnvoll, sich mit seiner Persönlichkeit und mit seinen Leistungen und seinem Versagen auseinanderzusetzen? Ich kann mir vorstellen, dass es durchaus einen Erkenntnisgewinn bringen könnte, Hindenburgs Anteil an der Machtergreifung differenziert zu betrachten und auch sein „erstes Leben“ mit in den Blick zu nehmen. Vielleicht sind ja durchaus achtenswerte Verdienste darunter, die auch dann noch leuchten dürfen, wenn sein Versagen als „Steigbügelhalter Hitlers“ benannt wird. Einen "netten" Aspekt bringt Wikipedia und weist darauf hin, dass Paul von Hindenburg das einzige deutsche Staatsoberhaupt ist, das jemals vom Volk direkt gewählt wurde.
Möglicherweise hätte es ja auch eine andere, salomonische Lösung gegeben, indem man an die (wenigen) Straßenschilder die Ergänzung „Ulica Zabrze“ angeschraubt hätte, was in der Summe die Straße nicht nach Hindenburg selbst benannt hätte, sondern nach dem gleichnamigen Städtchen in Oberschlesien, mit dem unsere Stadt Voerde durch manche Bewohner durchaus mehr verbunden ist als mit dem Generalfeldmarschall. Und Hitler würde – wenn er es könnte – sich wegen der polnischen Namensergänzung sicher im Grabe umdrehen.
Sicher, Zabrze hat sich selbst auch 1915 den neuen Namen „Hindenburg“ gegeben, nach eben diesem Generalfeldmarschall. Aber zu dieser Zeit war der noch ein unumstrittener Volksheld und kein Greis, der den weltgeschichtlichen Fehler machte, Hitler alle Macht in die Hand zu geben und der sich für dessen Machtinteressen allzu widerstandslos gebrauchen ließ. Hindenburg selbst konnte dessen verbrecherische Potential allenfalls erahnen. Er stand im Krisenjahr 1932 in seinem 85. Lebensjahr. Mitte 1934 ist er gestorben. Die weiteren Folgen seiner Entscheidungen musste er nicht mehr miterleben.
Aber mal ehrlich! Im Leben eines jeden Menschen, erst recht eines Politikers gibt es reichlich Licht und reichlich Schatten. Wer möchte heute Martin Luthers Bedeutung wegen seiner Ausfälle gegen die Juden verneinen, welche Waldorfschule dürfte noch an Rudolf Steiner erinnern, wegen seiner rassistischen Überzeugungen und wer noch Richard Wagner hören oder spielen. Darf noch eine Straße nach von Moltke (dem Generalfeldmarschall) heißen oder gar nach einem der deutschen Kaiser, wenn wir nicht in der Lage sind, einen Menschen in all seiner Gebrochenheit zu sehen. Wenn wir unser christliches Erbe ernst nehmen, dann gibt es den Aspekt, dass Schuld klar benannt wird, aber auch Vergebung möglich sein muss. Aber Vergebung wäscht keine Biografie rein, dennoch ist ein Neuanfang möglich. Heute hat man den Eindruck, dass manche „Sünden“ nicht mehr vergeben werden und betroffene Prominente für immer in der Versenkung verschwinden. Allerdings – Vergebung setzt auch Einsicht und den Willen zur Umkehr voraus.
Keine Frage, es gibt Lebensläufe, da ist das Dunkel so groß und der Schatten so lang, dass sich jede Form von öffentlicher Achtung und Gedenken verbietet. Und die Überzeugung, dass dies nicht geht, kann auch im Laufe der Jahre noch nachträglich wachsen. Aber ist das bei Paul von Hindenburg wirklich der Fall?

Montag, 12. November 2012

SPIEGEL infiziert vom Kreuz.net – Stil?

Gemeinhin gilt der Spiegel als Flaggschiff des seriösen und mutigen Journalismus. Aber bei manchem Artikel beschleicht einen die Sorge, ob hier doch keine neutralen und investigativen Reporter am Werk sind, sondern Praktikanten, die ihre private, etwas uninformierte Meinung beim SPIEGEL – online wie auf ihrem facebook-Profil kundtun. So erschien am 11. November 2012 (hoffentlich nicht auch noch um 11.11 Uhr) ein Artikel, aus dem ich hoffentlich einige prägnante Sätze zitiere darf: „Verdikt gegen Toleranz - Vatikan wettert gegen gleichgeschlechtliche Ehen“ - so lautete schon die Überschrift, für den Inhalt beruft man sich auf die Nachrichtenagentur „dapd“.
Und weiter: „Petersdom: Kirchenfürsten stemmen sich gegen gleichgeschlechtliche Ehe - Kampagne für das Ewiggestrige: Der Vatikan hat seine Ablehnung von Eheschließungen von Homosexuellen bekräftigt. Die Kirche halte an der katholischen Lehre fest, auch wenn "politisch korrekte Ideologien in jede Kultur der Welt Einzug halten", ätzte das Papst-Blatt "L'Osservatore Romano". Sollte der SPIEGEL-Journalist da vorher zu lange auf kreuz.net gesurft haben und kann deren Sprachstil eigentlich abfärben?
Dabei war es sicher nicht schwer zu recherchieren, dass die angebliche vatikanische Stellungnahme wohl gar nicht aus der offiziellen Vatikanzeitung stammt, sondern eine eher persönliche Stellungnahme des Papst – Sprechers P. Lombardi in einer regelmäßigen Kolumne bei Radio Vatikan war. Der SPIEGEL dagegen behauptet in seiner Online-Ausgabe, dass auf der Titelseite des L'Osservatore Romano zu lesen sei: „Die Kirche halte an der katholischen Lehre fest, auch wenn "politisch korrekte Ideologien in jede Kultur der Welt Einzug halten.“ Ich halte es für ausgeschlossen, dass die nun wirklich guten Journalisten des „L'Osservatore“ einen so schwammigen Begriff wie den von „politisch korrekten Ideologien“ verwenden. (Ich beziehe die offiziöse Zeitung aus dem Vatikanstaat leider nicht in ihrer italienischen Ausgabe, aber ich würde durchaus eine Wette eingehen, dass dieser Artikel dort so nicht erschienen ist.)
Und weiter lese ich in der angeblichen SPIEGEL-Meldung: „Mit aller Macht stemmt sich die Kirche gegen die zunehmende Toleranz.“ Nein, lieber SPIEGEL-Praktikant, die Kirche stemmt sich überhaupt nicht gegen Toleranz, ganz im Gegenteil. Sie tritt in aller Welt für Religionsfreizeit und für einen menschlichen Umgang mit Menschen anderer Herkunft, anderen Glaubens, anderer Überzeugung und anderen Aussehens ein. Sie engagiert sich dafür, dass die Ehe letztlich das bleibt, was sie seit ihrer „Erfindung“ ist, nämlich eine Verbindung zwischen einem Mann und einer Frau aus der (hoffentlich) Kinder hervorgehen. Für die Kirche ist die Ehe aus ihren Glaubensüberzeugungen und aus einer langen Tradition heraus, ein kostbarer Schatz, den es zu bewahren gilt. Das muss nicht bedeuten, dass die Kirche sich gegen eine rechtliche Regelung anderer Formen von Partnerschaften engagiert (ruhig auch mit Feier im Standesamt) und das heißt erst recht nicht, dass sie intolerant gegenüber Menschen mit gleichgeschlechtlicher Orientierung ist.
Ich finde, dass die (vielleicht etwas ironisch-spitze) Anfrage von Pater Federico Lombardi (in seiner Kolumne und nicht in einem „Interview“ mit Radio Vatikan) sehr berechtigt ist!
Wenn nicht, warum wird dann nicht auch Polygamie erwogen und auch Polyandrie (Vielmännerei), natürlich um niemanden zu diskriminieren.“ Mag SPIEGEL-Online diese Bemerkung auch als Beleg für „Intoleranz“ werten, eine Antwort darauf vermeidet der SPIEGEL-Schreiber doch selber auch. Und es ist doch auch so, mit welchem Argument möchte man bei einer vollständigen Öffnung der Ehe eine Form des Zusammenlebens unter Menschen gegenüber anderen denkbaren Formen privilegieren? Letztlich ist es doch – selbst wenn allen unterschiedlichen Formen des Zusammenlebens einzelner Menschen (was zunächst einmal deren Privatsache ist) – entscheidend, den Kindern, die in einer Beziehung zwischen einem Mann und einer Frau geboren werden, einen guten Rahmen für das Aufwachsen und Leben zu ermöglichen. Und aus gutem Grund setzt der deutsche Staat auch für die „eingetragene Lebenspartnerschaft“ gewissen Grenzen. Nicht jeder, der mit einem anderen Menschen zusammenlebt, kann diese auch eingehen. Für eine Frau, die seit Jahren mit ihrer Tante zusammenlebt und die (außer dem Bett) alles andere miteinander teilen, ist diese Möglichkeit schlicht ausgeschlossen. Mit all den negativen Folgen, die das für diese beiden Menschen hat.
Weiter lesen wir in SPIEGEL Online nach einer Aufzählung der Länder, die die Ehe zwischen zwei Frauen oder zwei Männern einführen möchten: „In Deutschland können gleichgeschlechtliche Paare ihre Beziehung seit 2001 offiziell machen.“ Richtig ist, dass es seitdem eine Möglichkeit gibt, diese Partnerschaft in einem rechtlichen Akt eintragen zu lassen. „Offiziell“ waren die meisten dieser Beziehungen schon lange zuvor. Und nach wie vor lehnen es viele Paare (ob homo oder hetero) es ab, ihren Beziehungen einen offiziösen Status zu geben, weil sie meinen, dass die Form ihre Zusammenlebens nur sie etwas angeht und keine staatliche Stelle. Auch diese Haltung findet sicher nicht den Beifall von P. Lombardi, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass dieser deshalb einem Journalisten, der so lebt weniger freundlich entgegenkommt als dem Chefredakteur von Kirche und Leben.
Bei aller Dramatik, die der SPIEGEL in diesen angeblichen „Kampagne der Kirche für das Ewiggestrige“ entdeckt, ist doch eigentümlich, dass sich niemand daran erinnern wird, dass sich Bischöfe vor den Standesämtern angekettet hätten oder dass wütende Gläubige die Trausäle stürmten, um vor 11 Jahren gegen dieses Gesetz zu protestieren.
Natürlich gab es einige kirchliche Stellungnahmen, die aber vor allem ihr Augenmerk darauf legten, dass es nach wie vor einen Unterschied geben sollte zwischen einer staatlicher Anerkennung unterschiedlichster Formen gemeinschaftlichen Lebens und einer Eheschließung. Das bedeutet nicht, dass Katholiken nicht positiv würdigen könnten, was an Gutem auch in anderen Formen des Zusammenlebens geschieht. Eine entsprechende öffentliche und positive Aussage hat ja erst kürzlich noch der als konservativ geltende Berliner Kardinal Rainer Maria Woelki gemacht. Wir leben in einer Gesellschaft, die auf der einen Seite Rechtssicherheit, weitere Förderung und Unterstützung für verbindliche Partnerschaften fordert und auf der anderen Seite lautstark beklagt, dass der Adenauer-Satz „Kinder kriegen die Leute sowieso!“ eben kein ehernes Gesetz ist. Wenn wir in dieser Gesellschaft leben, muss die Frage erlaubt sein, was wir ernsthaft unternehmen, damit unsere Kinder in gesicherten Verhältnissen aufwachsen und dass ein Paar den Mut hat, ein (oder mehrere) Kind(er) zu zeugen (und anzunehmen) und ins Leben zu führen. Die Kirche sagt nicht mehr und nicht weniger: Dafür braucht es einen guten Rahmen, und diesen Rahmen bietet seit mehreren tausend Jahren die Ehe zwischen Mann und Frau. Maßnahmen wie die „eingetragene Lebenspartnerschaft“ dürften auf die Geburtenrate weder einen positiven noch einen negativen Einfluss haben.


Beim Münchener Kirchenradio (sicher auch kein Hort der Intoleranz und Reaktion) kann man lesen, wie die Nachricht auch seriös präsentiert werden kann:

Sonntag, 4. November 2012

"Das Konzil hat die Katholiken lasch gemacht..." Wirklich?

Papst Paul VI., Foto von Lothar Wolleh
(http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0)
via Wikimedia Commons
Es ist ein eher unscheinbares, grünes Büchlein aus meinem Bücherschrank: „Kleines Konzilskompendium“ heißt es. Es fasst alle Konstitutionen, Dekrete und Erklärungen des 2. Vaticanums in einem Band zusammen, Herausgeber waren damals Karl Rahner und Herbert Vorgrimler. Soeben hat Peter Hünermann eine neue Auflage der Texte veröffentlicht, ein Werk in lateinisch mit der deutschen Übersetzung. Kürzlich hat sich mal jemand öffentlichkeitswirksam an die Brust geklopft und gesagt: „Ich bekenne, ich habe die Texte des 2. Vatikanischen Konzils noch nie komplett gelesen.“ Mich würde ja wirklich einmal interessieren, wie viele Gläubige oder gar Priester die Texte wirklich komplett gelesen und nicht nur überflogen oder sich auf „Kerntexte“ beschränkt haben. Wer kann schon für sich beanspruchen, ein solche komplexes Werk komplett zu kennen und zu verstehen? Schließlich geht es nicht um ein Buch wie die Dogmatik des heutigen Erzbischofs Prof. Dr. Gerhard Ludwig Müller, die aus der Feder eines einzigen Wissenschaftlers stammt, dessen Denken man nach einigem Studieren kennen könnte. Nein, es ist die Essenz jahrelanger Dialoge unter mehr als 2000 Kirchenführern. Da verbergen sich die Feinheiten oft im Detail, man erinnere sich nur an die Auseinandersetzungen um das kleine lateinische Wort „subsistit“. Konzil macht also Mühe, und die scheuen viele. 
Aber zurück zum Ereignis selbst: Vor 50 Jahren, am 11. Oktober 1962, zogen rund 2.800 Kardinäle und Bischöfe zusammen mit Papst Johannes XXIII. zur Eröffnung des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962-65) feierlich in den Petersdom ein. Das Konzil sollte das wichtigste kirchliche Ereignis des 20. Jahrhunderts werden. Der Papst selbst hatte von „Aggiornamento“, vom Heutig-Werden der Kirche gesprochen. Das Konzil leitete umfangreiche Veränderungen in der katholischen Kirche ein. Beschlüsse wurden allerdings nicht nach dem Prinzip „die Mehrheit hat recht“ gefällt, sondern in einem langen Prozess der Suche, des Nachdenkens, des Gesprächs und des Gebetes. Daher wurde den einzelnen Dokumenten des Konzils mit hohen Mehrheiten zugestimmt. Einzig ein unbedeutender Text über die Massenmedien erhielt mehr als einhundert Gegenstimmen (ca. 7 %). Bei wichtigen Texten waren nur einzelne Konzilsväter anderer Meinung. 
Für viele Christen war dieses Konzil mehr als eine Wegmarkierung, sie sehen es als Kehrtwende der Katholischen Kirche mitten hinein in die moderne Welt. Unter den Anhängern unterschiedlicher theologischer Richtungen ist in der Folge – immer wieder – Streit entbrannt. Auf der einen Seite stehen heute, nach 50 Jahren die, die betonen, das Konzil könne einzig im Licht der jahrhundertelangen Tradition der kirchlichen Verkündigung richtig gelesen und verstanden werden. Andere entdecken im Konzil einen Bruch mit dem, was Kirche vorher war. Und Vertreter dieser Überzeugung gibt es interessanterweise sowohl in der Piusbruderschaft (und ähnlichen Richtungen) als auch bei den Anhängern einer „Kirche von unten“. 
Gerne berufen sich die Kirchenreformer auf einen „Geist des Konzils“, für den sie die muntere Aufbruchstimmung nach der großen Kirchenversammlung als Beweis anführen. Manchmal hat man in der Rückschau durchaus den Eindruck, dass der Rückenwind für manche Reformen nicht ausschließlich der Hl. Geist gewesen sein kann. Und dass man aus der Ungeduld mit manchem Reformstau in der Kirche die anstehenden Reformen allzu radikal anpackte.
Doch die sehr kleine Gruppe der Konzilsskeptiker und Gegner war von Anfang an nicht leise. Gern zitiert wird von ihnen ein Papst Paul VI. zugeschriebener Ausspruch, durch das Konzil sei der „Rauch Satans, ... durch irgendeinen Riss in den Tempel Gottes eingedrungen sei.“ Dieses Wort stammt aus einer Predigt, die der Hl. Vater in freier Rede am 29. Juni 1972 gehalten hat. Und er bezog es auf die vielen Unsicherheiten und Auseinandersetzungen, die es in der Folge des Konzils in der Kirche gegeben hat. Es ist also mitnichten ein Urteil über das Konzil, eher eines über die Vertreter der allzu liberalen und der traditionalistischen Streithähne. Offensichtlich war da ein in der Vergangenheit eher verborgen schwelender Konflikt an die Oberfläche gedrungen. Die offene Aussprache beim Konzil wurde plötzlich auch in der allgemeinen kirchlichen Öffentlichkeit gepflegt. 
Kürzlich wurde der durchaus anerkannte Philosoph Robert Spaemann in der WELT über das Konzil befragt. Und neben manchem Bedenkenswerten spricht er dem zweiten Vatikanische Konzil ein hartes Urteil: Es habe eine „Epoche des Niedergangs" der katholischen Kirche eingeleitet. „Das Konzil hat die Katholiken lasch gemacht", sagt Spaemann und „Es ist alles so welk geworden." Die Kirchenversammlung sei Teil einer Kulturrevolution in den westlichen Staaten gewesen und habe zu einer „Anpassung" der Kirche an die säkulare Welt geführt, kritisierte Spaemann. Erst zum Ende des Interviews kommt der Philosoph zu der Erkenntnis, dass die Konzilstexte auch viele richtige und wichtige Aussagen enthalten. Alle Ultrakonservativen klatschten begeistert Beifall!
In dem Interview fällt u.a. der interessante Satz, dass es eine Tatsache sei, „dass Tausende von Priestern schon während des Konzils ihren Dienst verlassen haben.“ Diese Bemerkung, die in noch übertriebenerer Formulierung gerne in den ultrakonservativen Zirkeln kolportiert wird, machte mich neugierig. Aber, selbst wenn es stimmen würde, wäre das denn ein Beleg für die Behauptung, dass die Kirche seit dem Konzil „lasch“ und angepasst sei? Mir erscheint die Bemerkung unlogisch, denn ich frage mich, warum sollten „moderne“ Priester ihren Dienst aufgeben, wo es doch einen erkennbaren Aufbruch in der Kirche gab? Und auf der anderen Seite, warum sollten „traditionelle“ Priester ihren Dienst aufgeben, wenn die Kirche bis zu diesem Tag so makellos und rein da gestanden hätte, wie es heute in der Rückschau so gern behauptet wird. Daher sollte man prüfen, ob überhaupt stimmt, woran Spaemann zu glauben scheint. Daher müsste man eine entsprechende Statistik bemühen. Doch, belastbare Zahlen über Priestern und Ordensleute, die ihren Beruf oder ihren Orden verlassen haben, scheinen eher in den Giftschränken der Diözesen zu liegen. Wenn, dann gibt es Schätzungen und Mutmaßungen oder konkrete Geschichten rund um Priester die wegen einer Frau ihr Amt verließen. Daher schaue ich einfach mal auf die „positive Seite“ und die öffentlich verfügbaren Informationen. Die Zahl der Priesterweihen jedenfalls nimmt während des Konzils nicht ab. Sie bleibt konstant bei über 500 Priestern in Deutschland und geht danach aber bis 1994 kontinuierlich auf unter 200 zurück. Heute liegt sie bei unter einhundert. Inwieweit das Konzil hier „schuldig gesprochen werden kann“? Ich halte das für unwahrscheinlich. Die vatikanische Kongregation für den Klerus veröffentlicht die Information, dass es 1914 insgesamt 323.890 Kleriker auf der Welt gab, 1927 waren es 351 Tausend, 1961 (vor dem Konzil) 406 Tausend und 1970 (nach dem Konzil) 425 Tausend. Bei dieser Zahl ist es dann in der Folge geblieben, sie stieg bis zum Jahr 2001 auf 439 Tausend Priester, Bischöfe und Diakone. Einen „Konzilsknick“ kann ich hier nicht erkennen. Im Gegenteil, noch nie in der Geschichte der Kirche gab es mehr Kleriker als heute. 
Als Pastoralreferent komme ich mit vielen Menschen zusammen. Nur äußerst selten erlebe ich, dass jemand der Kirche seiner Jugend im Sinne der Konzilsgegner hinterhertrauert. Die Erinnerungen sind positiv geprägt, aufgrund von Erlebnissen in der katholischen Jugend und mit den Jugendseelsorgern. Den Umbruch der Konzilszeit haben die meisten von ihnen aber in guter Erinnerung, wenngleich auch von Konflikten zwischen traditionellen Pfarrern und allzu munteren Reformern berichtet wurde. Beklagt wurde das ein oder andere Mal, dass der liturgische Aufbruch auch mit der Beseitigung lieb gewordener Traditionen einherging, manchmal gar mit der Beseitigung kirchlicher Kunstwerke.
In negativer Erinnerung haben viele Menschen, die die „vorkonziliare“ Kirche noch erlebt haben, dass diese durch eine gewisse Enge gekennzeichnet war, die von vielen als Zwang und Druck erlebt wurde. Vermutlich konnte dies nicht anders sein, die Kirche lebt ja nicht im luftleeren Raum, ihre Sozialgestalt entwickelt sich im Dialog mit der gesellschaftlichen und staatlichen Ordnung, die sie umgibt. 
Das Konzil, für den großen Wandel in der Bedeutung des Christentums in der heutigen Gesellschaft  schuldig zu sprechen, dürfte in etwa so gerecht sein, wie eine Verprügelung des Postbeamten, weil dieser eine schlechte Nachricht überbracht hatte. Wir erleben in Europa sicherlich schon seit Beginn des 20. Jahrhunderts eine Krise von Kirche und Glauben, die im Kern sogar mehr ist. Sie ist eine Krise der seit der Antike überlieferten Form von Religion. Und diese Krise hat ihren Höhepunkt bis heute noch nicht erreicht. 
Das Konzil reagierte vor 50 Jahren auf diese Krise und versuchte die Substanz des Glaubens im Dialog mit seiner Umwelt zu wahren. Es versuchte, was alle anderen Konzilien auch versucht haben und was mehr oder minder gelungen ist. Aber die Krisen der vergangenen Zeiten sind vergangen, die Glaubenskrise von heute hält noch an. 
Vielleicht täten wir alle gut daran, die Texte des Konzils neu zu lesen und uns auch mit der Vor- und Nachgeschichte des Konzils vertraut zu machen. Dieses große Ereignis der Kirche fand nicht im luftleeren Raum statt. Die Auseinandersetzungen und historischen Umwälzungen des frühen 20. Jahrhunderts müssen mit betrachtet werden. Ich nenne nur die Stichworte: Kulturkampf, katholisches Milieu, Faschismus, Kommunismus, Individualisierung, Säkularisation. Man mag es drehen und wenden, aus welcher kirchenpolitischen Richtung auch immer. Eines ist klar, am Konzil führt kein Weg vorbei. 
Was bringt intelligente Menschen wie – unter anderem - Robert Spaemann eigentlich dazu, das 2. Vatikanische Konzil als Ursprung allen Übels und Quelle aller negativen Entwicklungen zu sehen? Was bringt traditionalistische Katholiken dazu, im Konzil den Anfang vom Ende der katholischen Kirche zu entdecken?
Manchmal scheint es, als wäre der Wunsch nach einem Automatismus der Verkündigung oder Automatismus der Weltverbesserung der Vater des Gedankens. Natürlich wäre es (vielleicht) schöner, wenn die Verbreitung des Glaubens weniger Mühe erforderte, wenn es weniger kritische Anfragen und ein der Kirche wohl gesonnenes staatlich-gesellschaftliches Umfeld gäbe. Aber in der heutigen Gesellschaft kann der Glaube nicht mehr verordnet werden. Früher mag er so etwas wie ein Betriebssystem der Gesellschaft gewesen sein, eine vorgegebener Orientierungsrahmen, aus dem allenfalls kleine Ausbrüche möglich waren. Heute aber muss der Glaube einen Deutungsrahmen für die Welt bieten, den sich ein Christ aus Einsicht und Überzeugung hineinbegibt. Der Glaube ist nicht mehr unmittelbar plausibel. Und es fällt schwer, unseren Zeitgenossen einsichtig zu machen, warum aus Tugenden wie Selbstbeschränkung, Verzicht auf völlige Freiheit, Verzicht auf freie Zeit durch Gebet, Gottesdienst, Einsatz für andere ein möglicherweise glücklicheres, gelingenderes Leben zu erhoffen ist. Für viele erscheint der Glaube als zusätzliche Last in einem sowieso schon anstrengenden und komplizierten Leben. Und ebensoviele vermissen nichts, wenn sie keinen Glauben praktizieren. 
In diese Situation sind wir als Kirche gestellt, in diese Situation dürfen wir einen Gott verkündigen, der uns Vater ist, der der allmächtige Schöpfer unserer Welt ist und in Jesus Christus an unserem Leben und Leiden Anteil nimmt. Er schenkt uns seinen Geist. „Macht euch keine Sorgen, was ihr sagen sollt. Denn der Heilige Geist wird euch in der gleichen Stunde eingeben, was ihr sagen müsst. (Lk 12,11b-12)“
Das Spaemann-Interview: www.welt.de/kultur/medien/article110261782/Das-Konzil-hat-die-Kirche-lasch-gemacht.html
www.clerus.org/clerus/dati/2003-06/22-6/totalclerge.htm - mehr zu den Zahlen der Diakone, Priester und Bischöfe.

Dienstag, 2. Oktober 2012

Wenn das Geld im Kasten klingt, die Seele in den Himmel springt???


Als deutscher Katholik staunt man, wenn man über die Grenzen schaut. Besonders, wenn der Blick dabei in die Schweiz geht. So wurde vor einigen Jahren berichtet, dass der Bischof von Chur (Wolfgang Haas) finanziell zunehmend auf dem Trockenen saß, weil die meisten katholischen Gemeinden sich weigerten, ihm einen Anteil der Kirchensteuer zu überweisen. So handfest drückte sich der Protest gegen seine Amtsführung aus. Wer hätte einen solchen Aufstand in der so solide und im guten Sinne konservativ erscheinenden Schweiz erwartet. Als Pastoralreferenten hörten wir häufig davon, dass die Schweizer Kollegen in einigen Bistümern von ihren Bischöfen zur Trauassistenz beauftragt wurden, dass sie Kinder tauften, beerdigten und de facto Gemeindeleitung übernahmen. Viele deutsche Kollegen wechselten in dieser Zeit „nach drüben“. In den letzten Jahren geisterten immer wieder Meldungen durch die Gazetten, wo Bischöfe sich erfolglos mühten, Pfarrer aus ihren Ämtern zu entfernen oder andere Veränderungen in der kirchlichen Szene herbei zu führen. Kirchenzeitungen kritisieren in erstaunlicher Offenheit die Bischöfe. Im Bistum Chur soll der Bischof (heute Vitus Huonder) sogar dazu ermutigt haben, aus der Kirche auszutreten und ihre Kirchensteuer zukünftig der bischöflichen Kasse zukommen zu lassen. Beispiele dieser Art ließen sich noch zahlreich aufführen; hier sollen sie allerdings nur illustrieren, dass die Schweizer Kirche völlig anders verfasst ist, als wir das in der deutschen Kirche kennen. Auf der einen Seite gibt es dort die offizielle kirchliche Hierarchie, die bischöflich verfasste Kirche. Daneben entstanden Parallelstrukturen, denn die Kantone in der Schweiz wollten nur eine Kirche anerkennen, die demokratisch verfasst ist und in Finanzfragen Transparenz gewährleistet. Hier gibt es synodale Strukturen und Laien in verantwortlichen Positionen. Allerdings auch eine große Eigenständigkeit gegenüber den Bischöfen. Aus dieser eigenartigen Doppelstruktur erklären sich manche, für uns erstaunliche Phänomene. Es wäre ein wenig so, als wenn in Deutschland das Zentralkomitee der Katholiken gemeinsam mit den Kirchenvorständen der Gemeinden die Finanzhoheit hätte.

Ob das, trotz aller „Demokratie“ wirklich ein Modell für Deutschland ist? Kaum verwunderlich, dass die deutschen Bischöfe keine „Schweizer Verhältnisse“ wollen. Vielleicht lohnt es sich, das aktuelle Dekret der Bischöfe über die Folgen eines Kirchenaustritts vor einer staatlichen Stelle aus dieser Perspektive zu betrachten. 

Der frühere Münsteraner Bischof Dr. Reinhard Lettmann berichtete uns einmal von einer Begegnung mit Papst Johannes Paul II.. Er hatte mit dem Hl. Vater über das Verfahren zur Wahl eines Bischofs in der Münsteraner Diözese gesprochen, worauf der selige Johannes Paul II. schmunzelte und bemerkte: „Ja habe ich in der Diözese Münster dann überhaupt etwas zu sagen?“ Die konkreten Beziehungen zwischen Staat und Kirche sind in den deutschsprachigen Ländern aus vatikanischer Perspektive in der Tat Sonderfälle, die sich aus der besonderen und langen Geschichte der Kirche hierzulande ergeben. Staatskirchenrechtliche Vereinbarungen und Konkordate ermöglichen gewisse Mitsprachemöglichkeiten der Ortskirchen, u.a. bei der Wahl eines Bischofs, die andernorts unüblich sind. 

Die Frage einer Kirchenmitgliedschaft ist in fast allen Ländern der Welt einfach zu beantworten. Katholik ist, wer getauft wurde und nicht wieder vom Glauben abgefallen ist. Und selbst dann gilt: Getauft ist getauft! „Exkommunikation“ macht die Taufe nicht ungültig, eine Rückkehr ist jederzeit möglich. In der Regel ist es die Kirche selbst, die über ihre Mitglieder informiert ist. Eine staatliche Stelle hat da wenig zu sagen. Daher betrachtet man von Rom aus mehr oder minder skeptisch, dass in Deutschland der  Austritt aus der Kirche (in der Regel) vor einer staatlichen Stelle erklärt wird. Andernorts müsste ein getaufter Christ dagegen z.B. vom Pfarrer oder vom Bischof aus der Kirche verwiesen (exkommuniziert) werden und dafür gelten strenge Regeln. Hierzulande ist es möglich, einem – möglicherweise muslimischen oder atheistischen - Amtsgerichtsbeamten gegenüber die Kirchenmitgliedschaft zu beenden. Der interessiert sich überhaupt nicht dafür, ob da einer austritt, weil er sich über seinen Pfarrer geärgert hat und denkt, dass er sich jetzt mal die Kirchensteuer spart, oder ob ein Anhänger der Petrusbruderschaft austritt, weil er seinen Kirchensteuerbeitrag direkt seiner altrituellen Gemeinde zukommen lassen möchte. 

Daher ist es der entscheidende Passus im Dekret der Bischöfe zum Kirchenaustritt, dass der zuständige Pfarrer mit dem Ausgetretenen Kontakt aufnehmen muss, um die Beweggründe für diesen Austritt zu erfahren. Er soll letztlich die Frage beantworten, ob der Ausgetretene nur seiner Pflicht als Kirchenmitglied, einen angemessenen Beitrag für seine Kirche zu geben, entgehen wollte, oder ob derjenige sich womöglich vom Glauben selbst entfernt hat. Diese Regelung hat – zur Überraschung konservativer Kreise – den Segen „von oben“; also jetzt nicht von ganz oben, sondern vom Vatikan. 

In konservativen Diskussionsforen hatte nämlich 2006 ein Rundschreiben des Päpstlichen Rates für die Gesetzestexte wie eine Bombe eingeschlagen, weil es darin heißt, dass der bloße Austrittsakt, beispielsweise vor einem Amtsgericht nicht zur Exkommunikation führe, sondern es dazu auch einer „inneren Entscheidung, die katholische Kirche zu verlassen“ bedarf. Kurz gesagt, würde das die Möglichkeit eröffnen „Katholisch ohne Kirchensteuer“ zu sein. Sehr konservativen Kreisen ist es nämlich schon lange ein Dorn im Auge, was mit „ihrer“ Kirchensteuer alles finanziert wird. Im Grunde finanzieren sie ja mit, was sie verbal heftig beklagen, z.B. die Rätestrukturen in den Bistümern, die katholische Jugendarbeit, die Caritas, den BDKJ, sogar das Zentralkomitee der deutschen Katholiken. 
Es entstand dort die Hoffnung, man könne austreten und trotzdem – oder gerade erst recht – katholisch sein. Dieser Hoffnung haben die deutschen Bischöfe nun einen Riegel vorgeschoben. So erklärt sich die heftige Reaktion quer durch die konservativen Blätter, Portale und Blogs.

Lustigerweise spitzen manche Autoren (aus beiden „Lagern“) es nun auf die Frage „Sakramente gegen Geld“ zu und zerren damit den alten Ablasshändler Johann Tetzel wieder aus seiner historischen Ecke. Allen voran Reinhard Dörner (mein alter Deutschlehrer von den Beruflichen Schulen in Ahaus) in einer Erklärung des „Zusammenschluß papsttreuer Vereinigungen (ZpV)“: „Sakramente sind demnach käuflich: Wer Kirchensteuer zahlt, kann die Sakramente empfangen. ... Dass die Bischöfe jetzt über Luther hinausgehen, indem sie Sakramente an Geldleistungen binden, verleiht diesem Akt eine eigene Brisanz.“ Es irritiert, dass diese Gruppierungen „Papsttreue“ offensichtlich als Freibrief zu überschäumender Bischofskritik verstehen. Ich glaube, Dörner schießt weit über das Ziel hinaus und führt die Leser in die Irre. Es geht nicht in erster Linie ums Geld. Es ist doch schon heute so, dass die Mehrzahl der Kirchenmitglieder gar keine Kirchensteuer zahlt. Es gibt keine genauen Zahlen, aber man geht von ca. 30 – 35 % Kirchensteuerzahler unter den Kirchenmitgliedern aus. 
Ich bin sicher, dass es den Bischöfen mehr um eine notwendige Klarstellung ging, dass es nicht eine Kirche staatlicher Ordnung und eine weitere (die eigentliche) Kirche geben kann. Daraus würde bald eine gestaffelte Kirchenmitgliedschaft und ein neuer Spaltpilz in der einen Kirche. Das Dekret ist zwar etwas formal geraten, aber es kommt doch darauf an, was man daraus macht. 

Trotzdem sollte man die Einwände der Kritiker nicht leichthin verwerfen. Auch durch das sehr formale Schreiben an diejenigen, die der Kirche den Rücken kehren entsteht ein schiefer Eindruck. So spitzt denn auch der Philosoph Robert Spaemann den Knackpunkt der Neuregelung so zu: „Paradoxerweise sei nun das Zahlen der Kirchensteuer ein wichtigeres Kriterium für die Mitgliedschaft als das Bekenntnis zu zentralen Glaubenswahrheiten.“ Er fragt auch zu recht, wie das mit einer „Entweltlichung“ der Kirche zusammen gehen soll. 
So verständlich der Wunsch der „papsttreuen“ Katholiken ist, dass mit „ihrer“ Kirchensteuer auch nur das finanziert wird, was ihnen genehm ist und Ihrer Auffassung von Katholizität entspricht, so fatal wäre dieser Weg doch in der Wirklichkeit. Dann würden nämlich zahlreiche Anhänger anderer Katholizitäten dieses Privileg auch für sich in Anspruch nehmen. So leicht ist es nämlich nicht zu bestimmen, was ein „wahrer“ Katholik ist, wie z.B. die Diskussion um die Piusbruderschaft zeigt. Und soll demnächst jeder - der Kirche gespendete oder über Kirchensteuer gezahlte - Euro nur dann angenommen werden, wenn die Rechtgläubigkeit des Gebers geprüft ist? 
Oder möchten Herr Spaemann und Herr Dörner und andere in Deutschland die auseinanderdriftenden Strukturen der Schweizer Kirche? Da kommt die katholische Kirche in Deutschland doch beinahe schon überzeugend geschlossen und einheitlich daher. Jedenfalls schon mal so geschlossen, dass jeder Katholik vor Ort und jede Gemeinde für die Fehler und Mitkatholiken andernorts mitverantwortlich gemacht wird. Wer weiß nicht, was man sich bei Familienfeiern oder beim abendlichen Kneipenbesuch alles anhören muss, wenn mann sich als gläubig „outet“.

Ich glaube jedenfalls nicht, dass unter den 120.000 Katholiken, die im vergangenen Jahr aus der Kirche ausgetreten sind, die große Mehrheit deshalb austreten, weil sie die „Irrwege einer dem Papst untreuen deutschen Nationalkirche“ nicht mitzugehen bereit sind, wie es in manchen Kommentaren des konservativen Lagers anklingt. Das ist ein unredliches Argument. Viele, die austreten und nicht mehr formal Kirchenmitglied sind, haben durchaus den / einen Glauben bewahrt, distanzieren sich aber von dem, was sie als Kirche erlebt oder aus der Ferne erfahren haben. Anderen ist der Glaube selbst gleichgültig geworden. 

Sicher, die Kirchensteuer ist ein hinterfragbares historisches Konstrukt. Letztlich hat sie ihre Wurzel in der Entscheidung Napoleons, der Kirche ihren Reichtum, ihr Vermögen zu nehmen und der daraus folgenden Verpflichtung des Staates, die Kirche im Gegenzug „wenigstens auf Sparflamme“ zu finanzieren. Napoleon erhoffte sich hierdurch ein gutes Geschäft, aber schon bald wälzte der Staat diese Verpflichtung weitgehend wieder auf die Kirchenmitglieder ab. So ist es bis heute geblieben. Die Finanzhoheit eines gewählten Gremiums, des Kirchenvorstandes ist ebenfalls eine Folge staatlicher Einflussnahme auf kirchliche Finanzen. Insgesamt kamen aber diese staatlichen Maßnahmen letztlich der Kirche zu Gute und lange Zeit waren alle Beteiligten zufrieden. 

Das ist heute etwas anders geworden, aber bisher hat noch niemand ein Modell entwickelt, wie die Kirchenfinanzierung einer Großkirche funktionieren kann ohne schmerzhafteste Umbrüche in der sozialen Landschaft. Natürlich gibt es an vielen Einrichtungen der Gemeinden, der Bistümer und des Caritasverbandes durchaus Kritikwürdiges. Aber wer glaubt denn, dass es besser würde, wenn wir all diese Einrichtungen in staatliche Hände oder an andere Sozialverbände übergeben? Im Gegenteil! Es wird ganz viel an christlicher Zuwendung nicht mehr geleistet werden und sehr viel Begegnung mit Christus, Kontakt mit Gott wird nicht mehr möglich sein. Wer heute die Haltung von Vereinen wie Pro Familia z.B. in der Abtreibungsfrage etwas entgegensetzen möchte, kann sich nicht auf gute Worte und fromme Argumente verlassen. Der muss auch handfest anpacken, sich durchaus mal die Hände schmutzig machen und Hilfen bieten, die aus Spenden allein nicht aufzubringen sind. 

Die ganze Diskussion um das bischöfliche Dekret und über das Urteil über den bedingten Kirchenaustritt des Kirchenrechtlers Zapp sollte wieder vom Kopf auf die Füße gestellt werden. Der Staat hat klar gestellt: Wer aus der Kirche austritt, der ist zunächst einmal draußen. Wie die Kirche dann mit diesem Austritt umgeht, das ist die Frage. Darüber muss in der Kirche weiter gesprochen werden. Darüber muss auch mit den Ausgetretenen gesprochen werden, denn aus ihren Rückmeldungen ließe sich vieles lernen. 

Auch das von den Bischöfen vorgeschlagene Verfahren lässt die Möglichkeit offen, dass der Pfarrer im Gespräch feststellt, dass der Ausgetretene eigentlich ein frommer Katholik ist, der seiner Kirche nur in einem Punkt nicht mehr folgen will, nämlich seinen Kirchenbeitrag in Form einer Steuer zu entrichten. 
Wenn der dann noch zusätzlich erklärt, dass er seinen Beitrag lieber der konkreten Gemeinde vor Ort zukommen lässt und so in angemessener Weise seinen finanziellen Beitrag dazu leistet, so dass die Kirche ihre Sendung erfüllen kann (c. 222 § 1 CIC i.V.m. 1263 CIC). Wie soll der Pfarrer dann reagieren? Das wird eine spannende Sache. 

Aber es ist doch auch klar, dass sich die deutschen Bischöfe auf solche Einzelfalllösungen nicht einlassen wollen und auch nicht können und dürfen. Es muss ein klares Recht gelten, dass Unklarheiten in dem etwas komplizierten rechtlichen Verhältnis von Kirche und Staat in Deutschland möglichst vermeidet. Das ist die Grundlage eines fairen und gleichberechtigten Umgangs mit allen Gläubigen, unabhängig von deren Macht und Einfluss und ihren kirchen“politischen“ Überzeugungen. Das, was einige Kommentatoren aus den Lagern der Kirchengegner und dem der angeblich „Papsttreuen“ daraus machen, spitzt die eigentliche Sache unangemessen auf Teilaspekte zu.

Viel besser wäre es, wenn wir gemeinsam unsere Energie, unsere Glaubensüberzeugung und jeden Cent der Kirchenfinanzierung wirklich ausschließlich für die Sache Jesu investieren. Und um Missdeutungen vorzubeugen, natürlich unter Beachtung des markanten Satzes aus der Antrittsenzyklika des seligen Johannes Paul II.: „Der Weg der Kirche ist der Mensch.“ Das wäre eine echte Entweltlichung, wie sie Papst Benedikt angeregt hat.

Freitag, 21. September 2012

Ich steh vor Dir... (Gotteslob ohne Oosterhuis?)


Es ist ein kleines, unscheinbares Buch, mal in rot, mal in grün eingebunden, meist Kunststoff, manchmal sogar in Leder mit Goldschnitt. Und es ist das wohl meistgenutzte Buch in der katholischen Kirche überhaupt; häufiger zur Hand genommen als Bibel und Katechismus. Ich denke an unser „Gotteslob“. 1975 ist es erschienen, genau pünktlich zu meiner Erstkommunion. Damals löste es die noch unterschiedlichen Gesangbücher der einzelnen Bistümer ab. 

Das „Gotteslob“ ist natürlich ein „Kind“ der Liturgiereform des 2. Vaticanums. 
Wohl kaum jemand von den Katholiken, die es Sonntag für Sonntag (oh, das ist ja inzwischen auch selten geworden), na jedenfalls von Zeit zu Zeit in die Hand nehmen, ahnt, was für eine sensationelle Sache dieses Buch war und ist. 

Waren Sie schon einmal in Polen in der Kirche, oder in den Niederlanden, in Frankreich oder Spanien, in Italien oder in Belgien?
So ein „Gotteslob“, ein landesweit einheitliches Gebet- und Gesangbuch werden Sie dort nur in seltenen Fällen finden. Auch kennen viele Länder gar nicht so viele landessprachliche Lieder, wie sie in Deutschland üblich sind. 
Das ist für die deutschsprachigen Länder sicher auch eine Folge der Reformation. In den lutherischen und reformierten Gemeinden entstanden schon vor Jahrhunderten erste Kirchenlieder. Martin Luther selbst war als fleißiger Lieddichter bekannt. Auch im Gotteslob finden sich seine Lieder und die von weiteren protestantischen Autoren. Natürlich gab es auch echt „katholische“ Lieder, denken Sie nur an Friedrich von Spee und seine wunderbar poetischen Gesänge. Doch auch seine 1649 erschienene Liedsammlung „Trutznachtigall” war die katholische Antwort auf die Lieder von Martin Luther. Er ist im Gotteslob der häufigste Liedautor, seine Gesänge, etwa das „O Heiland, reiß den Himmel auf” (GL 107) oder „Zu Bethlehem geboren” (GL 140) sind unverzichtbar. Aber vorherrschend war und blieb in den katholischen Kirchen – jenseits der Volksfrömmigkeit – der lateinische Choral. 

Der liturgische (manchmal etwas ungestüme) Aufbruch ab 1965 sorgte zudem für viele deutsche Übertragungen ursprünglich lateinischer Lieder. Ganze gesungene Messen wurden plötzlich vom Lateinischen ins Deutsche übertragen. Von all dem könnte unser Gotteslob „ein Liedchen singen“ und manche Geschichte erzählen. Diese vielfältige und vielschichte Liedtradition ist irgendwie „typisch deutsch“.

1964 weihte (vermutlich) der Bischof von Haarlem (Bisschop von Doodevaart) den jungen Jesuiten Hubertus Gerardus Josephus Henricus Oosterhuis zum Priester und setzte ihn als Studentenseelsorger in der Amsterdamer Studentengemeinde ein. Wer ein wenig über die Geschichte der Niederlande, die der katholischen Kirche und die der Studentenbewegung weiß, der ahnt, dass diese Gemeinde zu dieser Zeit ein lebendiger, kontroverser Brennpunkt des ungestümen Wandels in Kirche und Gesellschaft gewesen sein muss. Seit 1960 war der künstlerisch veranlagte Jesuit (seit 1952) Oosterhuis der Studentengemeinde verbunden, als Priester prägte er den Neuaufbruch nach dem 2. Vatikanischen Konzil entscheidend mit, seine Texte, Gebete und Lieder wurden für weite Teile der niederländischen Kirche – die als besonders „liberal“ galt – stilprägend. Die Studentengemeinde entwickelte sich mit dem Dichter Oosterhuis und dem Komponisten Bernard Huijbers (1922-2003), ebenfalls Jesuit, zu einer (eigene Aussage) „Werkstatt und einem Versuchsfeld, nicht nur für das neue geistliche Lied, sondern auch für die gesamte nachvatikanische Erneuerung der liturgischen Sprache und liturgischen Formen in den Niederlanden.“ Noch vor wenigen Jahren konnte man in den niederländischen Liturgieheftchen, die in fast allen Kirchen als Grundlage für die Feier des sonntäglichen Gottesdienstes verwendet werden, zahlreiche – hierzulande weitgehend unbekannte – Oosterhuis – Lieder finden. Manchmal stammten darin gar die Mehrzahl aller Texte und Lieder von diesem produktiven Dichter und Denker. Ein Spötter aus den Niederlanden hat ein Bibelwort so abgewandelt: „Warom hebt uw uit mijn huis een Oosterhuis gemaakt? Das heißt: Warum hast du von meinem Haus ein Oosterhaus gemacht? So viel Oosterhuis war einigen Katholiken auch zu viel. 

Im Aufbruch der Nachkonzilszeit schoss die Studentenecclesia schnell über das Ziel hinaus. Schon 1969/1970 gab es den großen Knall. Aufgrund von Konflikten über den Zölibat (Oosterhuis stellte sich mit seiner Gemeinde hinter einen Mitbruder, der heiraten wollte) und die Rolle des Priesters bei der Eucharistie steht sie seitdem nicht mehr in der Verantwortung des Bischofs. Oosterhuis gab sein Priesteramt auf und verließ den Jesuitenorden. 1970 heiratete er. Die Amsterdamer Studentenekklesia besteht bis heute: sie kommt jeden Sonntag um 11 Uhr zusammen in 'De Nieuwe Liefde', ihrem Haus in Amsterdam. Sie betrachtet sich – wie Oosterhuis wohl auch selbst – noch als katholisch im Sinne von: 'allgemein, mit der ganzen Welt verbunden.' Auch Oosterhuis ist dort bis heute aktiv. Für die kath. Kirche in den Niederlanden blieb er ein prägender Charakter, trotz aller Konflikte. Mit dem sozial engagierten Mann von Königin Beatrix, Prinz Claus von Amsberg, war Oosterhuis freundschaftlich verbunden. Er hielt nach seinem Tod 2002 für ihn die Traueransprache. Im Jahre 2010 wurde in den römisch-katholischen Bistümern Utrecht und ’s-Hertogenbosch die Verwendung einer größeren Zahl seiner Lieder als „ungeeignet für den liturgischen Gebrauch“ befunden, was zu einem sogenannten „Liederstreit“ und Auseinandersetzungen bis auf Ebene der Bischöfe führte. 

Als 1975 sechs Lieder aus dem Schaffen von Huub Oosterhuis ins Gotteslob aufgenommen wurden, beeinträchtigte der persönliche Hintergrund des Dichters die Freude an seinen Texten offensichtlich nicht. Bis heute finden sich zahlreiche Menschen in seiner Sprache, seinen Liedern, Gedichten, seiner Poesie gut aufgehoben, entdecken darin die lebendige Sprache des Evangeliums, die Stimme Gottes. „Ich steh vor Dir mit leeren Händen, Herr...“ kann man zu Recht als Klassiker betrachten. 

Wohl als „Ableger“ der Auseinandersetzungen in den Niederlanden 2010 keimte kürzlich auch in Deutschland Unsicherheit auf, als das Gerücht die Runde machte, Oosterhuis-Lieder sollten im neuen Gotteslob keine Aufnahme mehr finden. Manch einer witterte reaktionäre Kräfte am Werk, auch wenn die verantwortlichen Bischöfe schnell betonten, dass sie kein Interesse daran hätten, die Lieder von Oosterhuis zu streichen. Mancher sieht aber hinter dieser Haltung sogar eine Taktik. Die Oosterhuis – Gegner würden darauf hofften, dass die vatikanischen Stellen diese Lieder beanstandeten und aus dem Gesangbuch streichen würden. 

Ich mag nicht recht daran glauben, dass man ernsthaft die Lieder des Gotteslobes einem „Gesinnungstest“ unterziehen möchte. Und in diese Prüfung auch noch den Lebenswandel des einzelnen Dichters einbezieht. Da kann aus dem Gesangbuch schnell ein schmales Heftchen werden. Schon heute tummeln sich dort zahllose Dichter und Musiker, die nicht unbedingt eine tadellose katholische Biografie aufzuweisen haben. Auch das Leben eines Künstlers kennt Brüche und Krisen. Und will man ein gelungenes Lied plötzlich für ungeeignet erklären, weil sein Verfasser Jahre später das Priesteramt niederlegte, aus der katholischen Kirche austrat, sich von seiner Frau trennte und eine andere heiratete oder .... Das kann doch niemand wollen. Da gibt viel bessere Kriterien für Lieder und Texte, die ins Gotteslob gehören. Und, man mag gegen Oosterhuis und seine Positionen haben, was man will. Wer wird bestreiten, dass er ein Mann mit Sprachgefühl ist, ein Dichter, einer, der mit Sprache zu arbeiten, zu weben, zu bezaubern versteht. Auch scheint Osterhuis zwar ein streitbarer Charakter, aber weiterhin ein engagiert gläubiger Mensch zu sein. 

Doch, auch das muss durchaus gesagt werden dürfen: Nicht jedes Oosterhuis – Lied eignet sich für den Gottesdienst. Das nimmt dem einzelnen Text nichts weg. Für die bei uns bekannten Lieder aus dem jetzigen Gotteslob: „Wer leben will wie Gott auf dieser Erde“ (GL 183), „Herr, unser Herr, wie bist du zugegen“ (GL 298), „Solang es Menschen gibt auf Erden“ (GL 300), „Nahe wollt der Herr uns sein“ (GL 617), „Ich steh vor dir mit leeren Händen, Herr“ (GL 621), „Sei hier zugegen“ (GL 764) dürfte diese Einschätzung aber nicht gelten. Wenn eines davon im neuen Buch herausfällt, dann eher, weil die Aufgabe, ein Gebet- und Gesangbuch für den ganzen deutschen Sprachraum zu erstellen, gar nicht so leicht ist. Und weil es zahlreiche wunderbare Lieder unterschiedlicher Autoren gibt, die neben den Liedern und Texten von Oosterhuis gut bestehen können und eine Aufnahme in dieses Buch verdient hätten. Auch in den vergangenen – fast 40 Jahren – sind zahlreiche gute neue Lieder erschienen und populär geworden. Doch irgendwann ist der Platz, der zu vergeben ist, trotz Dünndruckpapier und tausend Seiten, zu Ende. Unser neues Gesangbuch kann weder ein mehrbändiges Werk noch ein kiloschwerer Wälzer werden. Auch das sollten die Freunde und Verteidiger von Huub Oosterhuis bedenken.

Freitag, 14. September 2012

Mein Bauch gehört...



Kann es eigentlich einen Zweifel daran geben, dass ein gläubiger Mensch „für das Leben“ eintritt? Kann es wirklich Katholiken (oder evangelische Christen) geben, die in der Beendigung einer Schwangerschaft etwas Positives erblicken oder die „legale“ Abtreibung gutheißen?

Es muss im Jahre 1991 gewesen sein. Die erste sogenannte „Woche für das Leben“ brachte in meiner Heimatstadt Vreden die Christen buchstäblich auf die Beine. Ich erinnere mich an zahlreiche Veranstaltungen und Diskussionen zum damaligen Thema „Schutz des ungeborenen Lebens“. Besonders im Gedächtnis geblieben ist mir der Besuch und die öffentliche Rede von Domkapitular Norbert Kleyboldt (heute Generalvikar des Bistums Münster). Der Domkapitular erschien (nach meiner Erinnerung) in festlicher Soutane mit „Knopflochentzündung“ und betrat so den kleinen Balkon des ehemaligen Vredener Rathauses. Von dieser erhöhten (profanen) Kanzel sprach er zu hunderten von Vredener Bürgern darüber, welche Verantwortung Staat und Kirche gegenüber den ungeborenen Kindern haben. Es war der beeindruckende Abschluss einer sehr berührenden Woche. Ich weiß, dass mich die Frage nach dem Schicksal des ungeborenen Kindes ebenso beschäftigt und aufgerüttelt hat, wie der Gedanke, was wohl in einer jungen Frau vor sich geht, die das in sich heranwachsende Leben dem Tod preisgibt. In welchen Nöten muss sie stecken?

„Schwangerschaftsunterbrechung“, so hieß die Abtreibung im damaligen, allgemeinen Sprachgebrauch. In der noch bestehenden DDR hieß das entsprechende „Recht“: „Gesetz über die Unterbrechung der Schwangerschaft“. Als ob die unterbrochene Schwangerschaft wieder aufgenommen werden könnte, als gäbe es eine „Pausen-Taste“ an der schwangeren Frau, um zu warten, bis es eines Tages günstigere Zeiten für Schwangerschaft und Mutter-Sein geben würde! Aber genau so lief auch die Argumentation der Befürworter. Wenn Vaterschaft oder Mutterschaft heute nicht in die Lebensplanung passt, gibt es ja vielleicht in einigen Jahren eine neue Chance für ein Kind. Manche Politiker und Philosophen unterfütterten die gefühlige Diskussion dann noch mit ideologischen und quasi-wissenschaftlichen Argumenten.

Das Phänomen einer „Abtreibung“ im weitesten Sinne ist schon seit dem Altertum bekannt. Sowohl griechische Philosophen wie auch frühchristliche Theologen beschäftigen sich damit. Sie lehnen einen Schwangerschaftsabbruch natürlich ab, auch wenn in der ganzen Bibel kein ausdrücklicher Text zu diesem Thema zu finden ist. Schon die Kirchenväter betonen aber, dass das heranwachsende Kind ein Mensch ist, der ein eigenständiges Recht auf Leben hat. Sie stützen sich auf biblische Worte, wie z.B. beim Propheten Jeremia: „Noch ehe ich dich im Mutterleib formte, habe ich dich ausersehen, noch ehe du aus dem Mutterschoß hervorkamst, habe ich dich geheiligt...“ (Jer 1,5.) Soweit der Blick in die Geschichte, schauen wir nun auf die letzten Jahrzehnte. 

Von den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts an nahm die Diskussion um den Schwangerschaftsabbruch an Schärfe zu. Der Konsens, dass das heranwachsende Kind ein eigenständiges, unverfügbares Lebensrecht hat, schwand mehr und mehr. „Mein Bauch gehört mir!“ lautete die Parole. 1975 urteilt das Bundesverfassungsgericht dagegen: „Der Lebensschutz der Leibesfrucht genießt grundsätzlich für die gesamte Dauer der Schwangerschaft Vorrang vor dem Selbstbestimmungsrecht der Schwangeren und darf nicht für eine bestimmte Frist in Frage gestellt werden.“ Dennoch stellen die Richter fest, dass es Gründe geben kann, die den Abbruch einer Schwangerschaft rechtfertigen. Darauf folgt 1976 ein Gesetz, dass diese Gründe definiert und 1992 und 1995 eine Neufassung dieses Gesetzes. Hier wird eine umfassende Beratung der Schwangeren (vor einem möglichen Abbruch) zur Voraussetzung für eine Straffreiheit des nach wie vor strafbaren Schwangerschaftsabbruchs gemacht. Im Grunde eine Quadratur des Kreises. 

Nach all dem Streit empfanden Viele das aber als erträgliche Lösung, auch wenn kein Christ wirklich zufrieden sein konnte. Daher strebten fast alle Bischöfe an, die Möglichkeit zu nutzen in der vorgesehenen Beratung mit den betroffenen Frauen (und Männern) ins Gespräch zu kommen. Man wollte die betroffenen Frauen (und Männer) nicht den Abtreibungsideologen überlassen, für die der winzige Embryo im Bauch der Mutter keinen höheren Wert als der Keim einer Pflanze darstellte. Damit begab man sich allerdings auf „unsicheres Terrain“, denn plötzlich war die Kirche nicht mehr unbeteiligt und moralisch sauber. Denn, auch die kirchliche Beratungsstelle stellte am Ende eines Beratungsprozesses einen Beratungsschein aus, der letztlich zur Voraussetzung für eine straffreie Beendigung der Schwangerschaft im gesetzlich geregelten System wurde. Das war der wunde Punkt, an dem die organisierten „Lebensschützer“ in der Kirche ansetzten. Auch für die Bischöfe Dyba und Meisner war dieser Spagat nicht haltbar. 

Die innerkirchliche Diskussion um den besten Weg zum Schutz des ungeborenen Lebens (durch Beteiligung der Kirche an der Pflichtberatung oder alternativ allein durch die Kraft der kirchlichen Verkündigung) polarisierte sich immer mehr. Auf der einen Seite fast alle Bischöfe und viele Laienorganisationen, auf der anderen Seite die Mehrheit der vatikanischen Stellen, die Lebensschutzorganisationen und eine Minderheit der deutschen Bischöfe. Dann schickte m Januar 1998 der Hl. Vater, Papst Johannes Paul II., den deutschen Bischöfen einen Brief, in dem er darum  bat, die Ausstellung der Beratungsscheinen einzustellen. Damit fielen die kirchlichen Beratungsstellen aus dem gesetzlichen Rahmen heraus. 

Die Diskussion rund um diesen Anstoß wurde und wird bis heute in eigenartiger Weise kirchenpolitisch aufgeladen. Noch jetzt wird das zögernde Verhalten einiger Bischöfe und die klare Contra-Position von Bischof Franz Kamphaus aus konservativen Kreisen heraus überspitzt und als Verrat oder Ungehorsam bezeichnet. Die aus Laienkreisen heraus gegründete, von der Kirche formal unabhängige  Schwangerschaftskonfliktberatung „Donum Vitae“ wird auch weiterhin angegriffen und bekämpft, hierin engagierte Laien, selbst fromme und verdiente Persönlichkeiten, spüren (sogar von bischöflicher Seite) deutlichen Gegenwind. 

Hat aber die erhoffte Klarheit und Eindeutigkeit im kirchlichen Engagement positive Auswirkungen gezeigt? Ein Blick in die Statistik zeigt, dass es keinen sichtbaren Zusammenhang zwischen der Haltung der Kirche zu diesem Thema und den vorgenommenen Abbrüchen gibt. Die Zahl der Abbrüche sinkt zwar analog zur Zahl der geborenen Kinder, bleibt aber ansonsten einigermaßen konstant. Es sind seit Jahren in unserem Land ca. 15 % aller Schwangerschaften, die durch einen Abbruch beendet werden. Im europäischen Vergleich sind Schwangerschaftsabbrüche in Deutschland deutlich seltener als in fast allen anderen Ländern. So haben in Großbritannien sogar 2 ½ mal so viele Frauen wie in Deutschland eine Schwangerschaft abgebrochen, in Österreich soll es ähnlich sein, während in der Schweiz Schwangerschaftsabbrüche sogar seltener als bei uns sind. Ich empfinde das so, dass der Einfluss der kirchlichen Verkündigung wohl nicht maßgeblich ist, dass es vor allem Faktoren wie soziale Entwicklung, gesellschaftliche Diskussionen, die Verbreitung von Verhütungsmitteln und wirtschaftliche Situation der Familien sind, die eine Auswirkung auf die Zahl der Abtreibungen haben. 
Eigenartig empfand ich (angesichts meiner Erfahrungen 1991) die Woche für das Leben in 2006: „KinderSegen - Hoffnung für das Leben / Von Anfang an uns anvertraut“. Sie ging relativ unbeachtet im Grundrauschen der Nachrichtenlage unter. Auch in den Gemeinden um mich herum sorgte sie nicht für die notwendige Aufmerksamkeit und Nachdenklichkeit. Ich selbst hielt da gerade unser viertes Kind in den Armen. 

Ich habe den Eindruck, dass die Auseinandersetzungen um die Konfliktberatung im Grunde der Sache selbst, dem Schutz des ungeborenen Lebens mehr geschadet als genützt haben. Wenn das Thema auf den Tisch kommt, bleiben die meisten Katholiken (evangelische Christen nicht minder), inzwischen erstaunlich still. Selbst Bischöfe meiden den lautstarken Auftritt in dieser Frage. Um so lauter gebärden sich die Lebensschützer mit ihren „Märschen für das Leben“ und „1000 Kreuze – Aktionen“. In letzter Zeit liefern sie sich noch dazu – verbale wie teils gar körperliche – Auseinandersetzungen mit linken bis radikalen Gruppen. Wobei klar gestellt werden muss, dass die Gewalt von den linksradikalen Gegendemonstranten ausgeht. Die Extremen beider Lager reiben sich aneinander. Die meisten Menschen bleiben (leider) stumm und zucken die Achseln. Das Thema eignet sich aber im Grunde auch nicht für die öffentliche Auseinandersetzung, denn es geht um persönliche Schicksale und schmerzhafte Entscheidungen. 

Die Entschiedenheit, mit der Christen in Vreden vor 30 Jahren noch sich für Mutter (Vater) und Kind einsetzten, sie ist dahin. Selbst unsere Bischöfe sind in diesen Fragen öffentlich einigermaßen zurückhaltend, was von den engagierten Lebensschützern und den konservativen Kreisen in der Kirche immer wieder befremdet angemerkt wird. 
Für mich ist diese Gemengelage ein deutliches Zeichen dafür, dass viel Porzellan zerschlagen wurde. Und das geschah zwischen Menschen, die eigentlich in ihren Positionen sehr nahe beieinander lagen. Ich bin fest überzeugt, dass es allen, den Lebensschützern, den Protagonisten von „Donum Vitae“, den Bischöfen, den liberaleren und den frommeren Christen vor allem darum geht Kind und Mutter (Familie) bestmöglich zu schützen. Alle wollten ihr Möglichstes tun, für die Zukunft der Kinder, für die Zukunft der Mütter (und der Väter). 

Und wo stehen wir jetzt? Haben die innerkirchlichen Auseinandersetzungen und die Anfeindungen der pointierten „Lebensschützer“ wirklich einen Fortschritt im Schutz des ungeborenen Lebens erzielt? Oder verhallt das Wort der Kirche in dieser Frage ungehört und verpufft das (noch immer beachtliche) Engagement der Katholiken für das ungeborene Leben weitgehend wirkungslos?

Ich bin der festen Überzeugung, dass wir in der Kirche heute mehr denn je, eine besondere Dialogkultur (auf Augenhöhe) brauchen. Zunächst einmal sollten wir uns unserer grundlegenden Überzeugungen vergewissern. Bibel und Tradition, aber auch das Lehramt sind hier sehr hilfreich und eine Einigung in der grundlegenden Haltung dürfte doch möglich sein. Aber bei aller Gemeinsamkeit in der Grundüberzeugung müsste es durchaus unterschiedliche Wege geben, für diesen Glaubensgrund einzutreten. Damit dies aber versöhnt nebeneinander stehen kann, brauchen wir eine Dialogkultur, die zeigt, dass sich Christen bemühen, die Haltungen und Überzeugungen der Anderen in der Tiefe zu verstehen und zu respektieren. Wir brauchen die Bereitschaft, hieraus entstehende Spannungen auszuhalten. Es sollte dann auch möglich sein, gegenüber der Öffentlichkeit zu begründen, warum die Kirche unterschiedliche Wege geht, um das eine Ziel zu erreichen. Jeder Katholik braucht eine feste Verwurzelung in den „Bräuchen und Traditionen“, aber auch die Bereitschaft zum Gespräch, die Bereitschaft, sich selbst in Frage zu stellen, die Bereitschaft einen Weg mitzugehen, den er selbst möglicherweise zunächst für falsch hält. „Und wenn dich einer zwingen will, eine Meile mit ihm zu gehen, dann geh zwei mit ihm.“ (Mt 5,41) Der Streit um Details und konkrete Handlungen unterschiedlicher Personen schadet der kirchlichen Verkündigung und zerstört deren Glaubwürdigkeit und Wirksamkeit. Daher sollte die Welt an unserem Miteinander erkennen, dass es bei uns anders zugeht. Nur dann kann das Wort Jesu mit Kraft verkündigt werden. 

Dienstag, 21. August 2012

Dann mach ich was ein Baum tun würde, wenn ein .... sich an ihm kratzt...

Игорь Мухин at ru.wikipedia [GFDL
(http://www.gnu.org/copyleft/fdl.html) oder CC-BY-SA-3.0
(http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0)], via Wikimedia Commons
Geht es Ihnen auch so? Seit Wochen zeigt das Fernsehen Bilder dreier inhaftierter junger Frauen aus Russland: Nadeschda, Marija und Jekaterina sitzen in einem Käfig auf der Anklagebank. Ich kann mich einer gewissen Sympathie und Besorgnis nicht erwehren. 

Ein sonderbarer Kontrast – drei hübsche Frauen, durchaus sympathisch, angebliche Mitglieder einer Punk-Band (wo ist da eigentlich „Punk“) auf der einen Seite – die geballte Staatsmacht und Handschellen, Einzelzellen, Hochsicherheitsverwahrung auf der anderen Seite. Man behandelt sie wie Schwerverbrecher. Viele fragen sich, was für eine Gefahr von diesen Frauen eigentlich ausgehen mag, dass ein so mächtiger Staat wie Rußland sie für derart gefährlich hält und zu zwei Jahren Strafarbeitslager verurteilt. 

Ihr Vergehen war ein provozierender „Auftritt“ in der Moskauer Christ-Erlöser-Kathedrale (in unmittelbarer Nähe zum Kreml). Für den Protest gegen Präsident Putin war der Ort nicht schlecht gewählt. Wohl bei kaum einer anderen Kirche der russischen Orthodoxie mischen sich politische Aspekte so sehr in die Religion. Die Kirche war 1931 unter Stalin zerstört worden und erst 2000 mit massiver Unterstützung des russischen Staates neu errichtet worden. Sie gilt als der zentrale Kirchenbau der russischen Kirche und ist Schauplatz kirchlicher Großereignisse, an denen auch bedeutende russische Politiker beteiligt wurden. Zahlreiche russisch-orthodoxe Gläubige betrachteten den Auftritt als Schändung des Gotteshauses und Basphemie. Nur wenige russische Bürger heißen das Verhalten der Frauen gut. Nach meinem Eindruck überwiegt bei den jungen Frauen allerdings der politische Aspekt. Ihr Protest galt aber auch der (zu) engen Verbindung zwischen russischer Orthodoxie und der amtierenden russischen Regierung. 
Diese komplizierte Ausgangslage löste vielfältige Diskussionen aus und ist – nach meiner Wahrnehmung – inzwischen auch deutlich antireligiös unterfüttert. Gegner der Kirche (und des Glaubens) springen auf den Zug auf und kochen ihr antikirchliches Süppchen im Kielwasser der Aktivistinnen von Pussy Riot. 

Erschüttert hat mich die Aktion der feministischen Aktivisten der FEMEN-Gruppe in Kiew, die ihren Protest gegen die Verurteilung der Pussy Riot – Mitglieder dadurch ausdrückten, dass sie mit Billigung zahlreicher Pressefotografen und Filmteams ein großes Holzkreuz in der Stadt mittels einer Kettensäge zu Fall brachten. Was können die Gläubigen, die diese Kreuz aufgestellt und verehrt haben für ein mögliches Unrechtsurteil der russischen Justiz? Was kann der Gekreuzigte dafür, dass einige politische Aktivistinnen ein möglicherweise zu hartes Urteil trifft? Er selbst war schließlich unschuldig ans Kreuz geschlagen worden. Was für eine schwachsinnige Aktion, noch dazu barbusig und mit albernen Posen!

Zahlreiche konservativ – christliche Medien nutzen die Aufmerksamkeit für den Fall Pussy Riot, um die Frage nach Strafen für „Gotteslästerung“ auch hierzulande wieder zu thematisieren. Erzbischof Ludwig Schick von Bamberg brachte das Thema ebenfalls auf die Tagesordnung und vor einigen Tagen nutzten einige deutsche Aktivisten das Forum einer Hl. Messe im Kölner Dom, um durch eine Störung des Gottesdienstes eine entsprechende Öffentlichkeit für ihre Protestaktion zu bekommen. Obwohl der Zelebrant, der Kölner Weihbischof Heiner Koch die Anliegen der Demonstranten und der Menschen in Russland umgehend ins Gebet einschloss, brachte es den Protestiereren denn doch eine Anzeige ein, wegen Verstoßes gegen das Versammlungsgesetz, Hausfriedensbruch und wegen Störung der Religionsausübung, alles auch nach deutschem Recht strafbar. 
Das mit der Anzeige war Wasser auf die Mühlen der russischen Behörden, die getrost darauf verweisen, dass solche Taten auch in Deutschland unter Strafe stehen. Ob die Aktivisten in Köln wohl klug beraten waren mit ihrem Protest?

Als Christ fühle ich mich in einem Zwiespalt und mir scheint, es geht vielen Menschen so. Auf der einen Seite kann es nicht richtig sein, dass das, was mir und anderen Menschen heilig ist, von Protestierern in den Dreck gezogen, veralbert und geschändet wird. Pastor Ulrich Rüß bringt es so auf den Punkt: „Blasphemie taugt nicht als Mittel des Protests.“ 
Auf der anderen Seite scheint mir ein zweijähriges Arbeitslager für eine solche Aktion - beinahe noch jugendlicher Frauen - überzogen und mir wird unbehaglich, wenn ich sehe, dass einem Kind für diese Zeit die Mutter entzogen wird. 
Auch besteht für die Kirchen und ihre Verantwortlichen immer wieder ein Grund zur Erforschung des eigenen Gewissens. Genießen sie die Nähe zur Macht und die Vorteile daraus zu sehr, sind ihnen persönliche Privilegien wichtiger sind als die Botschaft Christi: „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist und Gott, was Gottes ist.“ Wenn hier etwas nicht stimmt – darf der Protest dagegen nicht als schlichte Blasphemie abgetan werden. 

Doch das, was anderen Menschen heilig ist, sollte von Allen, auch den nicht gläubigen Bürgern mit Respekt behandelt werden. Leider ist das heute noch weniger selbstverständlich als in der Vergangenheit. Immer wieder werden Heiligenfiguren zerstört und Kirchen geschändet, immer wieder gibt es Störungen von Gottesdiensten...
Finden wir Christen uns mit solchen Taten zu schnell ab? Heiß diskutiert wird auch hierzulande, dass die gläubigen Muslime eine viel niedrigere Toleranzschwelle haben. Das hat sicher vielfältige Gründe. Im Gegensatz zu vielen Christen – die zudem selbst oft kritisch gegenüber kirchlichen Institutionen eingestellt sind (die im Islam ja fehlen) – sind westliche Christen eher tolerant und „einiges gewohnt“, ihre „Schmerzschwelle“ liegt deutlich höher. 

Allerlei Geschmacklosigkeiten konnten in den letzten Jahren ohne Proteststürme publiziert werden, besonders die Titanic hat sich hier hervorgetan, z.B. mit ihren geschmacklosen Titelbildern mit verfremdeten Papst-Bildern. Nur, was kann man dagegen tun? Nicht einmal gerichtliche Verfügungen konnten diese Darstellungen verhindern, Strafen wurden nicht verhängt. Eher trieben rechtliche Maßnahmen die Auflage und Verbreitung dieser unwürdigen Darstellungen (dann eben über das Internet) noch auf die Spitze. 
Kein Wunder, dass der Bamberger Erzbischof Ludwig Schick eine gesetzliche Regelung forderte: „Wer die Seele der Gläubigen mit Spott und Hohn verletzt, der muss in die Schranken gewiesen und gegebenenfalls auch bestraft werden“, sagte er und möchte ein solche Gesetz auf alle Religionen angewendet wissen. Schick forderte die Gläubigen auf, sich gegen Verunglimpfungen ihrer Religion zu wehren. Christen müssten fordern, „dass die Person Jesu Christi, Gott der Vater, Maria, die Heiligen, die Hostie des Altarsakraments, die sakralen Gegenstände wie Kelche und Monstranzen, auch die Kirchengebäude und Prozessionen von unserem Staat geschützt werden“. Dazu seien entsprechende Gesetze nötig. Christen müssten „deutlich machen, dass wir Verunglimpfungen unserer Überzeugungen und Werten in Medien und öffentlichen Organen nicht hinzunehmen bereit sind“, betonte der Erzbischof. Bisher steht nur all das unter Strafe, was geeignet ist, die öffentliche Ruhe und Ordnung zu stören. Und das wurde von den Gerichten bisher selten so gesehen.  

Ich würde mir wünschen, dass in unserem Land und in anderen Ländern „die Person Jesu Christi, Gott der Vater, Maria, die Heiligen, die Hostie...“ geschützt werden. Ob staatliche Gerichte und staatliche Stellen aber hierfür die richtigen „Schutzinstanzen“ sind, da bin ich skeptisch. Wie schnell hier Politik und Religion ineinander fließen, das zeigt der Fall „Pussy Riot“ ja deutlich. Neben all dem erhofften Schutz des Heiligen liegt auch ein Risiko darin sich hier der staatlichen Gerichtsbarkeit anzuvertrauen. 
Es ist ein schwieriges Unterfangen, im Umgang mit dem Heiligen die richtige Grenze zu definieren. Für mich ist es letztlich auch eine Frage von Intelligenz und Geist auf Seiten der Protestierer. Sie sollten sich die Frage stellen, ob die Botschaft, die sie – mehr oder minder berechtigt – in die Öffentlichkeit bringen möchten, die richtigen Leute trifft, eben die Mächtigen und die, die Unrecht tun. Wenn dagegen eher die „Kleinen“ und Unterdrückten in ihren Gefühlen und in ihrem Glauben getroffen werden, sollte ein solcher Protest unterbleiben. 

Und, als Gläubige sollten wir genau hinsehen und hinter die Aktion blicken, und vor allem (wenn möglich) ins Gespräch kommen mit denen, die sich am Glauben und seinen Inhalten, an der Kirche und ihren Institutionen reiben. Jesus Christus hat geraten, zunächst einmal auch „die andere Wange hinzuhalten“ und die Angreifer durch Friedfertigkeit zu entwaffnen. Ich weiß, dieses Rezept passt nicht in jeder Situation doch hinter manchem rebellischen Protest steckt auch eine Wahrheit, die wir in Demut annehmen könnten. 
Aber das bedeutet auch, dass wir nicht schlicht gleichgültig sind und Toleranz nicht mit Gleichgültigkeit und Desinteresse verwechseln. Es bedeutet auch, dass wir selbst wissen, was uns wichtig, heilig, bedeutsam ist – und warum. Besser als in den Händen staatlicher Stellen ist der Schutz des Heiligen in unseren Herzen, in unseren Gebeten, in unserem Leben und in unserem Engagement aufgehoben. Wenn wir als Christen auch nach außen heilig halten, was uns heilig ist, wenn wir überzeugend und mitmenschlich leben, sinkt der Reiz, sich an der Kirche und am Glauben zu reiben. 
Ganz fern von Gläubigkeit scheinen mir selbst die inhaftierten Frauen in Russland nicht zu sein – und wer weiß, vielleicht engagieren sie sich in einigen Jahren in sozialen Projekten der russisch – orthodoxen Kirche. Ich hätte mir von den orthodoxen Autoritäten gewünscht, dass sie die Aktion der Frauen klar als falsch verurteilen, aber für die Sünder klar und deutlich um ein mildes Urteil bitten und selbst Vergebung gewähren, notfalls siebenundsiebzig mal.  

Ganz wichtig ist mir aber letztlich eine wichtige Tatsache: Es gibt einen, den wir als Gläubige vor „blasphemischen Aktionen, Worten und Gedanken“ nicht zu schützen brauchen. Es ist der lebendige, dreifaltige Gott selbst. Er schaut den Menschen bis auf den Grund ihrer Seele, er kennt ihre Beweggründe und ich bin sicher, dass er sehr viel erträgt und aushält und letztlich die Macht hat, auch solche Menschen zum Glauben zu führen, die an ihm schuldig wurden. „Vater, vergib Ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“

Mittwoch, 18. Juli 2012

In der Stille des Allgäus - die Kartäuser

Lesen Sie zunächst den ersten Teil des Berichts über die Marienau:

Die Klosterkirche
Bruder Antonius ist ein optimistischer Mensch. Sorgen um den Fortbestand seines Ordens macht er sich keine. „Gott schickt uns genügend Nachwuchs“, ist er überzeugt, Er selbst berufe Menschen zum Leben in einer Kartause. Werbung für neue Kartäuser ist daher völlig unnötig.

Wer sich für einen Eintritt interessiert, nimmt zunächst Briefkontakt mit dem Prior auf. Später wird er eingeladen, das Leben in der Kartause kennenzulernen. Wenn es konkret wird, kann er sogar für einige Wochen in einer Zelle leben und seinen zukünftigen Lebensstil direkt erproben. Dann schließen sich Postulat und Noviziat an. Bei vielen Interessierten zeigt sich, dass sie für das Leben der Kartäuser nicht geeignet sind. In der Regel merken sie es selbst und entscheiden sich zu gehen. Wenn es sein muss, schickt sie der Prior auch nach Hause. Über die endgültige Aufnahme entscheidet der gesamte Konvent in einer geheimen Abstimmung.
Neben den Priestermönchen in ihren Zellen gibt es in der Kartause die Brüder, für die andere, manchmal weniger strenge Regeln gelten. Die Brüder sorgen dafür, dass die Kartause beinahe autark von der Außenwelt existieren kann. Sie bauen Gemüse an und ernten das Obst, sie backen, schneidern, kochen; sie arbeiten als Schreiner, Schlosser, Schneider, Hausmeister... Nur selten müssen Handwerker von außen beschäftigt werden. Eine „Pensionierung“ gibt es nicht, jeder kümmert sich nach seinen Möglichkeiten und Fähigkeiten um die anstehenden Arbeiten.
Vor dem Gebet: alle Priestermönche läuten die Glocke.
Da ich im Vorfeld mit der Kartause Kontakt aufgenommen hatte, darf ich auf der Gästeempore am Nachmittagsgebet, der Vesper teilnehmen. Auf der Empore treffe ich einen jungen Pater an, ein Kroate, der mir schweigend die riesigen Gebetbücher an der richtigen Stelle aufschlägt, so dass ich dem Gebet folgen kann. Die Kirche ist, wie das ganze Kloster, von schlichter Zweckmäßigkeit. Es gibt keinerlei Schmuck und Schnörkel wie sonst überall im barocken Oberschwaben. Alle Möbel sind selbst gefertigt. An der Stirnwand der Kirche über dem Altar thront eine Kreuzigungsgruppe, die Darstellung von Christus mit Maria und Johannes.

Das vorabendliche Gebet beginnt mit einem besonderen Ritual. Der erste Pater, der die Kirche betritt, läutet die Glocke und gibt das Glockenseil dem nächsten Pater weiter. Jeder, der in das Gotteshaus kommt, läutet im Takt weiter bis die Gemeinschaft der ca. 20 Priestermönche komplett ist. Gebetet wird aus gewaltigen Büchern, das, aus dem jetzt die Vesper gesungen wird stammt aus dem Jahre 1876. Es wurde nach dem 2. Vatikanischen Konzil nur geringfügig verändert. Diese Antiphonale sind so groß, dass jeweils drei Mönche es gemeinsam verwenden können. In diesen Büchern könnte selbst ich ohne Brille lesen.

Die Kartäuser singen eine schlichtere Form des gregorianischen Chorals. Aber sie singen aus tiefer Überzeugung, schlicht und schön, es berührt mich sehr. Ganz ohne Orgelbegleitung erklingt ihr Gotteslob.
Auf der Gästeempore kann man dem Gebet der Mönche folgen.
Die Gemeinschaft ist stolz darauf, dass es im Laufe ihrer 900jährigen Ordensgeschichte bisher noch keine Reform gegeben hat. Sie war einfach nicht notwendig, weil die Ordensregel einen zwar strengen aber dennoch sehr menschlichen Rahmen vorgibt und Übertreibungen vermeidet. So wird z.B. nur insoweit gefastet, wie es dazu beiträgt, sich stärker auf das Ziel des Kartäuserlebens auszurichten: die Suche nach Gott und der Kontakt mit ihm. Fasten ist niemals Selbstzweck. Niemand sollte versuchen, den Mitbruder beim strengen Schweigen, im Verzicht oder im Gebetsleben zu übertreffen. Alles dient nur dem Ziel einer tieferen Gemeinschaft mit Gott. „Gott allein genügt“, dieses Wort der Hl. Theresia von Avila zitiert auch der Pförtner Bruder Antonius.
Diese Art eines ausgeglichenen Lebens scheint sogar noch recht gesund zu sein, denn es ist kein Gerücht, dass die Mitglieder des Ordens recht alt werden und lange gesund bleiben.

Das 2. Vatikanische Konzil hat dennoch einige kleine Veränderungen gebracht. Es hat zwar nicht das unterschiedliche Leben von Brüdern und Patres aufgehoben, aber unnötige Trennungen zwischen beiden Gruppen beseitigt. So gibt es heute ein engeres und vertrauteres Miteinander unter allen Mitgliedern des Konventes. Auch lehnen die Kartäuser Neuerungen nicht grundsätzlich ab, sondern prüfen alles, ob es mit ihrer Lebensweise zusammenpasst. So kann man sie heute sogar per e-mail erreichen – aber auf Facebook kann man Pater Prior trotzdem nicht als Freund gewinnen.

Hinter der Klostermauer sind die "Zellen" der Mönche sichtbar.
Das höhere Gebäude dient der Ausbildung der Ordensanwärter.
Die Patres verlassen ihr Kloster normalerweise nicht. Dennoch begegnet mir ein junger Pater in Begleitung zweier weiterer junger Leute draußen auf dem Weg zum Kloster. Ich erfahre später, dass er den jährlichen Besuch seiner Familie empfängt. Dafür wird er für zwei Tage von seinen Verpflichtungen in der Kartause teilsweise befreit und darf mit seinen Angehörigen in Kontakt sein. Sonst gehen die Mönche nur gemeinsam aus dem umfriedeten Bezirk der Klostermauern hinaus, nämlich, wenn der wöchentliche gemeinsame Spaziergang ansteht. Alles andere sind Ausnahmen, z.B. wenn ein Arzt aufgesucht werden muss oder z.B. zur Priesterweihe kein Bischof kommen kann.
Was für ein ungewöhnliches Leben! Manche Zeitgenossen werden denken, dass diese Männer (es gibt auch Frauenkartausen) ihr Leben verschleudern. Vermutlich wäre es angemessener, von „verschenken“ zu sprechen, denn sie geben ihr Leben schon heute in Gottes Hand. Das hat für sie viel mit Liebe zu tun. Nicht mit enttäuschter Liebe zur Welt oder zum Leben oder gar zu einer Frau, sondern mit dem, was Jesus so formuliert hat: „Du sollst Gott lieben, mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele, mit all deinen Gedanken und all deiner Kraft (Markus 12,30).“

Keimzelle des Klosters: ein ehemaliger "Einödhof",
ein Bauernhof in Seibranz-Talacker
Es sind 35 Männer, die in Deutschland das Leben eines Kartäusers leben. Auf den ersten Blick erscheint es schon wegen seiner äußeren Umstände mehr als ungewöhnlich. Aber ist es in seinem Verzicht auf Fleisch, auf zwischenmenschliche Liebe, auf Gemeinschaft, auf Kommunikation, auf öffentliche Wirkung und Bedeutsamkeit wirklich so anders? Wie viele Menschen halten heute deutlich abstrusere Diätvorschriften ein, um ihr Idealformat zu erreichen; wie viele Menschen verzichten aus vielerlei Gründen freiwillig oder unfreiwillig auf Familie und zwischenmenschliche Kontakte; wie viele Menschen sind einsam, ohne in der Gemeinschaft mit Gott einen Ausgleich zu haben; wie viele Menschen müssen auf Konsum und Luxus verzichten, weil sie kein Geld dafür haben. In gewisser Weise stehen die Kartäuser mit ihrem entschiedenen und ungewöhnlichen Leben symbolisch für die Kirche, die in den Augen mancher Leute auch eher eine Bewegung „von gestern“ ist, aus der Zeit gefallen, aber dennoch vielen Menschen eine spirituelle Heimat schenkt und eine Gottesbeziehung ermöglicht. Und: von der Einfachheit, Bescheidenheit und Entschiedenheit der Kartäuser kann die Kirche sicherlich für ihr Auftreten und ihre Verkündigung viel lernen.

Ich hatte in diesen Tagen die Gelegenheit, das Kloster, die Klausur dreimal zu betreten. Eine Besucherin des Klosters fragte mich draußen vor der Tür einmal, ob die Kirche öffentlich zugänglich ist. Nein, sie ist es nicht – und für Frauen gibt es keinen Zugang in die Kartause. Ich bin als Mann also privilegiert. Aber in einer Frauenkartause wäre ich auch draußen vor geblieben. Ich bin den Kartäusern dafür sehr dankbar, dass ich einen kleinen Einblick bekommen habe, denn als Familienvater komme ich als Ordensnachwuchs nicht in Frage. 

Der Weg zur Kirche mitten im Kloster ist lang. Groß ist die Versuchung, auf dem Weg zur Empore die Tür zum Kreuzgang zu öffnen und einmal ins „Allerheiligste“ des Klosters zu blicken. Doch ich mochte das Vertrauen der Mönche nicht enttäuschen. 
Einblicke gibt es in einer kleinen Broschüre, die an der Pforte erhältlich ist. Die Kartäuser sind auch eher ein Männerorden. Es gibt 18 Kartausen für Männer, aber nur sechs für Frauen, obwohl es schon fast zu Beginn der Ordensgeschichte einen Frauenzweig gab. Zu den Besonderheiten der Kartäuserinnen gehört, dass ihnen durch den Bischof (auf Wunsch) die Diakonissenweihe gespendet wird. Viele halten das für einen historischen Rest einer Diakoninnenweihe aus der frühen Kirche. Die Kirche betont aber, dass es sich nicht um ein Weiheamt handelt. Dennoch haben Kartäuserinnen als Diakonissen das Recht, eine Stola zu tragen und in der Messe das Evangelium vorzutragen. Eine einzigartige liturgische Besonderheit! Erwähnenswert ist, dass ein den Kartäusern naher, neuerer Orden (Gemeinschaften der monastischen Familie von Betlehem und der Aufnahme Mariens in den Himmel und des hl. Bruno) zahlreiche Frauenklöster aber wenige Männerklöster hat.

Beim Abschied am Sonntag komme ich mit „meinem Kartäuser“, Bruder Antonius noch einmal ins Gespräch über die Freude an der Schöpfung. Er schwärmt über das Sonnenlicht am Morgen, über die vielen schönen Blumen und die Freude über das erste Gänseblümchen nach dem langen Winter. Für ihn ist die Natur eine beständige Botschaft von Gott und er bedauert, dass viele Menschen diese Schönheiten nicht mehr wahrnehmen. Für ihn ist das einfache Leben der Kartäuser ein Geschenk, weil er hierdurch viel aufmerksamer wird, für die Wunder der Natur, für die Stimme Gottes und die Sorgen und Nöte der Menschen, die bei ihm an der Pforte klingeln. Er verabschiedet mich mit den Worten „Gelobt sei Jesus Christus!“ „In Ewigkeit! Amen!“.