Die Diskussion um den Ex-Kardinal McCarrick, sein Verhalten und seine Verbrechen beschäftigt mich und viele weitere Menschen nach wie vor. Auch auf die Gefahr hin, mich zu wiederholen, möchte ich noch einige weitere Gedankensplitter anfügen und zur Diskussion stellen.
Als ich gestern im Rahmen eines Trauercafés mit einer Dame ins Gespräch kam, erzählte sie mir vom Krebsleiden ihres Mannes. Monatelang haben die Ärzte nach dem Ursprung der Erkrankung gesucht, um eine passende Therapie zu finden, am Ende war es eine Erkrankung der Ohrspeicheldrüse, eine eher seltene Diagnose. Der Weg zu dieser Diagnose war lang. Er begann mit einem nächtlichen Sturz im Hotel. Als dann nach einem Jahr die Rippen noch immer schmerzten begann eine monatelange Odysee durch deutsche Krankenhäuser. Jetzt ist die Diagnose da – die Therapie und ihr Erfolg noch unsicher. Mir ging später durch den Kopf, wie sehr eine solche Krebserkrankung ein Synonym für die Missbrauchskrise in der kath. Kirche sein könnte.
Eine Krebserkrankung stellt das normale Leben völlig auf den Kopf. Was bisher wichtig war und den Tag bestimmte, das ist plötzlich unbedeutend. Es geht jetzt nur ums Überleben. Die Therapie selbst richtet sich dann nicht nur gegen den Krebs, sie betrifft den ganzen Körper mit, ja sie schädigt ihn mit. Therapie und Diagnose „schmecken“ dem Kranken nicht, man ist geneigt, vor der gesamten Dramatik die Augen zu verschließen. Ich denke, ein jeder Leser kann den Gedanken an dieser Stelle eigenständig zu Ende bringen.
Weihbischof Marian Eleganti von Chur hat sein mündliches Statement zur Homosexualität im Priestertum nun auch noch einmal aufgeschrieben und veröffentlicht: das „Homosexuellen-Tabu ist Teil der Vertuschung“.
Man möchte ihm zurufen „Halt ein, wo läufst Du hin...“ Ich verstehe ja seine Irritation aufgrund der Tatsache, dass ein überraschend hoher Anteil der Verbrechen innerhalb der Kirche von Männern an älteren männlichen Kindern- und Jugendlichen begangen wurde. Da sehe ich nirgends ein „Tabu“, denn das wird offen kommuniziert und ist Gegenstand einiger Studien. Dennoch überzeugt mich die Stellungnahme des Weihbischofs nicht. Dabei glaube ich schon, dass er es ehrlich meint und dass man mit ihm reden könnte. Eine Antwort mit dem Holzhammer ist nicht nötig, aber doch mehr Differenzierung und Tiefe. Wir reden hier von Tätern, die a) ihr Versprechen von Keuschheit und Zölibat nicht einhalten und b) bei diesen Übertretungen auch noch unschuldige Menschen für ihren Sexualtrieb mißbrauchen. Was daran "homosexuell" sein soll erschließt sich mir nicht.
Der Weihbischof hat mit der Beobachtung recht, dass viele der Opfer Jungen sind. Dafür gibt es ja durchaus Erklärungsansätze. Insgesamt müssen wir aber feststellen, hier sind nicht "Homosexuelle", die sich ins Priestertum eingeschlichen haben wie „Diebe in der Nacht“ und die verbotenerweise ihrem Sexualtrieb nachgehen, sondern Menschen, die pädophile bzw. ephebophile Neigungen haben. Unter ihnen besonders viele, die sich an Jungen vergreifen. Wir müssen also konstatieren, dass es offenbar unter Priestern solche gibt, die eine gestörte Entwicklung ihrer sexuellen Präferenzen und ihrer Triebsteuerung haben. Es ist für mich eine brennende Frage, warum Menschen mit Entwicklungsstörungen in einem so bedeutenden Bereich des Menschseins ins Priestertum streben und warum es im Verlauf der doch sehr tiefgehenden Ausbildung und Formung niemandem auffällt. Offenbar schaut man genauer auf persönliche (und dann möglicherweise auch zum Zweck der Ablenkung zelebrierte) Frömmigkeit und Spiritualität denn auf menschliche Reifungsdefizite. Ob diese Störungen homo- oder heterosexuell "unterfüttert" sind, halte ich für zweitrangig. Interessant finde ich dagegen die Frage, welche Rolle die "Männerwelt" Priesterausbildung und Priestertum dabei spielte und vielleicht noch spielt. Mir ist ein keuscher, zölibatär lebender homosexueller Priester völlig recht. Aber ich verabscheue Priester, die ihre sexuellen Neigungen nicht kontrollieren können. Hier stellen sich grundsätzliche Fragen an die Priesterausbildung und das Priesterbild der Kandidaten und der Kirche. Wobei man durchaus feststellen muss, dass sich in diesen Themenbereichen die Priesterausbildung schon wesentlich weiterentwickelt hat. Aber sowas zeigt ja erst in Jahrzehnten seine Auswirkungen. Interessant wären evtl. Projekte, mit denen man auf Defizite in der Vergangenheit im Rahmen von Fortbildung und geistlicher Begleitung von Priestern gezielt eingehen könnte.
Was ich besonders schwierig finde ist, dass Weihbischof Eleganti und mit ihm manche Andere behaupten: „Das Hauptproblem sind die Homosexuellen.“ Angeblich fühlten sich Homosexuelle ganz besonders stark zu jungen Männern hingezogen und hätten Probleme in der Triebsteuerung. Ich bin da skeptisch. Nicht umsonst ist das Internet voll mit jungen oder auf jung gemachten Pornodarstellerinnen. Für die entschlossene Bekämpfung von Missbrauch in der Kirche ist es unerheblich, ob die Täter mit Blick auf die Opfer eine gewisse Geschlechterpräferenz haben. Allen Menschen mit homosexuellen Neigungen grundsätzlich die Eignung zum Priestertum abzusprechen würde – selbst wenn ich den Gedanken des Weihbischofs folgen würde – das Problem noch eher verschärfen, weil es das offene Gespräch über die eigene Sexualität unmöglich macht, wenn ich wegen meiner homosexuellen Neigungen gleich ausgesiebt würde. Das Problem des Missbrauchs ist viel zu komplex, als es auf den Teilaspekt einer homosexuell gestörten sexuellen Reife des Täters engzuführen. Wenn Marian Eleganti in einem angeblichen Tabu über Homosexualität im Priesteramt zu reden einen Aspekt der „Vertuschung“ sieht, wird er sich fragen lassen müssen, ob nicht die Fixierung auf diesen Teilaspekt die weit größere „Vertuschung“ darstellt.
Übrigens: Wenn es ein „Tabu“ gibt, bzw. einen Aufschrei aufgrund solcher Bemerkungen, dann das, dass es nicht richtig ist, der „Homosexualität“ und „die Homosexuellen“ unter den Generalverdacht zu stellen, die Ursache für die Missbrauchstaten im Raum der Kirche zu sein. Aber ich kann mir auch nicht vorstellen, dass Bischof Marian Eleganti das wirklich sagen wollte.
Einem ähnlichen Argumentationsmuster folgt die These: „Der Zölibat ist schuld.“ Wenn die Priester nur alle verheiratet wären, dann würde sowas nicht passieren. Viele scheinen geneigt zu sein, dieser These erst einmal zuzustimmen. Wenn sie aber wahr wäre, dann dürfte es in Familien kaum noch Missbrauchstaten geben. (Die Fachfrauen im Jugendamt hier erzählen mir da furchtbare Wahrheiten.) Dann wären auch die Prostituierten arbeitslos und ein Großteil des täglichen Datenverkehrs im Internet würde wegfallen. Nein, eine Ehe ist kein Garant für eine geregelte „Triebabfuhr“. Und wir leben mit vielen verheirateten und nicht verheirateten Menschen zusammen, die über Monate keine sexuellen Aktivitäten mit anderen Personen erleben und die sich dennoch völlig im Griff haben. Ja, es mag einzelne Täter im Raum der Kirche geben, deren unerfülltes Sexualleben sich so auswirkt, dass sie vor allem aus diesem Grund zu Tätern werden. Dennoch ist die Ehe kein Heilmittel für tiefsitzende, gestörte sexuelle Präferenzen. Wer unsere Lebenswelt aufmerksam anschaut, der kann das Problem, dass sich mächtige gestandene Männer junge bis sehr junge Frauen gefügig machen doch allenthalben entdecken. Die Abschaffung des Zölibats löst das Problem nicht.
Auch das Machtgefälle, die Hierarchie innerhalb der Kirche ist nicht das einzige Problem. In einer facebook-Diskussion begegnete mir das kürzlich so: „Meiner Meinung nach ist dass oftmals ein Machtproblem, der nicht gekonnte Umgang mit Macht, der sowohl Männer als auch Frauen zu Tätern macht.“ Das ist Quatsch. Richtig wäre, dass „Macht“ den Missbrauch begünstigt. Dass mächtige Männer eher die Möglichkeit haben, ihre Opfer unter ihre Kontrolle zu bringen. Macht, beispielsweise auch in dem Sinne, dass ein älterer Mann sicher eine klare Autorität gegenüber einem Kind hat, die er auch missbrauchen kann, zumal wenn er noch dazu „der Pastor“ ist und Eltern und Großeltern von ihm mit Hochachtung sprechen. Es ist für die Täter wichtig, ihre Opfer zu kontrollieren. Wenn ich mich als Kirchenmitarbeiter mit einer Jugendlichen in der Gemeinde einlassen würde, bedeutete das das Ende meiner beruflichen Laufbahn und wohl auch meiner Existenz, wenn diese mich in der Öffentlichkeit beschuldigte, mit ihr Sex gehabt zu haben. Ganz ähnlich wäre das bei einer Affaire mit einer gleichaltrigen Frau. Ich könnte mich doch nirgends mehr sehen lassen. Daher ist es für die Täter so wichtig, ihr Opfer in der Hand zu haben. Daher ist der Machtmissbrauch ein Symptom, ein Risikofaktor, eine Begleiterscheinung des Missbrauchsgeschehens, aber eher nicht die Ursache. Deshalb sehe ich die Rede vom „Klerikalismus“ als Kernproblem auch eher skeptisch. Ja, der begünstigt die Ausübung von Macht und gibt dem Täter Möglichkeiten, die ein pädophiler Lehrer oder Betreuer nicht hat. Letzlich ist der „Klerikalismus“ eine spezifische Spielart der Machtausübung. Es ist sicher sinnvoll, die Strukturen in der Kirche zu verändern und um problematische Aspekte zu bereinigen. Die katholische Kirche hat eine klare hierarchische Struktur. Die halte ich auch für heilsnotwendig. Dennoch wäre es sinnvoll, einige Verästelungen und etwas Dickicht wegzuschneiden. Aber auf der anderen Seite haben wir durchaus Probleme mit zu wenig bzw. mit schlechter Leitung. Daher stimme ich dem sehr klugen Statement meines Bischofs Dr. Felix Genn absolut zu, der kürzlich über das nun notwendige Handeln mit Blick auf den Missbrauchsskandal sprach und resumierte: „Das wird dazu führen, dass Priester und auch Bischöfe in der katholischen Kirche an vielen Stellen Macht und Einfluss abgeben und dass wir zu einem neuen Verhältnis von Laien und Priestern, von Haupt- und Ehrenamtlichen, von Männern und Frauen in der katholischen Kirche kommen müssen. Wie das konkret aussehen wird, kann ich Ihnen heute nicht sagen. Ich bin aber davon überzeugt: Wir brauchen Veränderungen.“
Mein Freund Harald Stollmeier brachte die Diskussion heute auf die prägnante Formulierung: „die erste Frage ist, warum sie es TUN. Die zweite ist, warum sie es tun KÖNNEN. Die dritte, warum sie es immer WIEDER tun können.“
In diesen Zusammenhängen irritiert mich zutiefst, wie sehr der Teilaspekt des Skandals, der sich nun rund um Kardinal McCarrick noch einmal in besonderer Weise zuspitzt von kirchenpolitischen Lobbygruppen und Interessen sagen wir mal vorsichtig (mal bewusst, mal unbewusst) „genutzt“ wird. Umso wichtiger ist es, in allem, was wir tun und reden bei den Opfern zu sein und nicht zuerst darüber zu sinnieren, was im Sinne meiner kirchenpolitischen Linie am Ende die Kirche dabei heraus kommt, von der ich schon lange träume. Auch da bin ich ganz bei Bischof Genn, wenn er sagt: „Natürlich ist es gut und wichtig, dass wir uns hierfür bei den Opfern entschuldigen. Bei allem, was wir tun, müssen die Opfer im Mittelpunkt stehen: Was können wir für sie tun? Wie können wir angesichts des unvorstellbaren Leids, das Priester und andere Menschen der Kirche ihnen zugefügt haben, alles uns Mögliche tun, die Verbrecher zur Rechenschaft zu ziehen? Und schließlich: Welche Maßnahmen müssen wir ergreifen, um möglichst zu verhindern, dass es weitere Opfer gibt?“ Und er betont, dass wir dabei nicht stehen bleiben dürfen. Der Missbrauchsskandal deckt ja auch andere Defizite der Kirche auf. Was können wir tun, damit wir Kirche nach dem Herzen Jesu und nach dem Willen Gottes werden?
Es ist mehr als gruselig, was in dieser Hinsicht gerade in der katholischen Kirche Amerikas passiert. Da wird ernsthaft zum "Bürgerkrieg" gegen den Hl. Vater aufgerufen, da positionieren sich Bischöfe mal hinter Erzbischof Viganò, mal hinter Papst Franziskus. Man fordert den Rücktritt des Papstes, der mit Blick auf die Bewältigung der Missbrauchsproblematik (wie auch sein Vorgänger) wichtige Schritte voran getan hat, aber an anderer Stelle auch nicht immer glücklich agierte. Ob Papst Benedikt ahnte, dass er durch seinen prophetischen (und sicher richtigen) Akt eines Rücktritts vom Amt des Papstes auch solche, vorher eigentlich unvorstellbaren Forderungen, überhaupt erst denkbar gemacht hat. Kirchenrechtlich kann ein Papst gar nicht unter Druck zurücktreten. Ob sich diejenigen Leute, die heute nach Rücktritt rufen bzw. einen solchen überhaupt als möglichen Schritt in Erwägung ziehen (Stimmen, die ja gerade im sehr konservativen Lager erklingen), wirklich bewusst sind, in welchem Maße sie das Papstamt an sich durch derlei Kampagnen beschädigen? Der Tonfall der aktuell gehäuft kursierenden Papiere lässt aufhorchen.
Ich würde mich wünschen, dass sich alle Katholiken gerade unter dem Eindruck der Krise nicht gegenseitig beharken, sondern bei den Opfern stehen, bei denen, die Jesus in die Mitte gestellt hat. Das wir ganz klar machen, dass von uns keine Gefahren ausgehen, dass jeder von uns Gott in die Hand verspricht, dass er niemals willentlich einen anderen Menschen zum Opfer macht, weder seiner sexuellen Gelüste noch irgendwelcher anderer Triebe. Dafür gibt das Evangelium Ansporn genug. Und wenn das nicht reicht, muss die Kirche ihren haupt- und ehrenamtlich engagierten Mitarbeitern eine hilfreiche EXIT – Strategie anbieten, eine sichere Zone, in die jemand flüchten kann, der in der Gefahr steht zum Täter, zum Sünder, zum Verbrecher zu werden. Egal, ob es dabei um die Versuchungen der Macht, des Geldes, der Sexualität, der Heuchelei … oder welcher Kardinalsünde auch immer geht.
Die geistlichen Grundlagen und Instrumente dafür haben wir. Mögen wir auch Kraft und Ausdauer aufbringen, eine bessere Kirche zu sein, die auf all ihren Wegen und mit jedem einzelnen Schritt mit Freude und Menschlichkeit Christus entgegen geht, wohl wissend um die eigene Fehlerhaftigkeit und Sündigkeit.
Ich würde mich wünschen, dass sich alle Katholiken gerade unter dem Eindruck der Krise nicht gegenseitig beharken, sondern bei den Opfern stehen, bei denen, die Jesus in die Mitte gestellt hat. Das wir ganz klar machen, dass von uns keine Gefahren ausgehen, dass jeder von uns Gott in die Hand verspricht, dass er niemals willentlich einen anderen Menschen zum Opfer macht, weder seiner sexuellen Gelüste noch irgendwelcher anderer Triebe. Dafür gibt das Evangelium Ansporn genug. Und wenn das nicht reicht, muss die Kirche ihren haupt- und ehrenamtlich engagierten Mitarbeitern eine hilfreiche EXIT – Strategie anbieten, eine sichere Zone, in die jemand flüchten kann, der in der Gefahr steht zum Täter, zum Sünder, zum Verbrecher zu werden. Egal, ob es dabei um die Versuchungen der Macht, des Geldes, der Sexualität, der Heuchelei … oder welcher Kardinalsünde auch immer geht.
Die geistlichen Grundlagen und Instrumente dafür haben wir. Mögen wir auch Kraft und Ausdauer aufbringen, eine bessere Kirche zu sein, die auf all ihren Wegen und mit jedem einzelnen Schritt mit Freude und Menschlichkeit Christus entgegen geht, wohl wissend um die eigene Fehlerhaftigkeit und Sündigkeit.