Freitag, 1. Oktober 2021

Ein neuer Anfang auf synodalen Wegen?

Ich muss gestehen, dass ich den sogenannten Synodalen Weg meiner Kirche von Anfang an skeptisch gesehen habe. Aus vielerlei Gründen sind und waren meine Erwartungen daran nicht hoch gesteckt. Rückblickend muss ich allerdings sagen, dass ich ihn mit mehr Aufmerksamkeit verfolgt habe, als ursprünglich gedacht.

Das "verdanke" ich vielen kirchlich-konservativen Freunden, die jede Regung des synodalen Weges mit Gegenwind und Abwehr begleitet haben.

Skeptisch war ich, weil ich selbst viele Jahre Mitglied in einem synodalen Beratungsgremium des Bischofs von Münster, im sogenannten Diözesanpastoralrat war (damals, während meiner Ausbildungszeit ab ca. 1993 als erster angehender Pastoralreferent überhaupt), später erneut als gewählter Vertreter der Pastoralreferenten im Bistum Münster. In diese Zeit fiel auch der – heute offenbar weitgehend vergessene – Zukunftsprozess im Bistum Münster, das Diözesanforum „Mit einer Hoffnung unterwegs“. Insofern habe ich „synodale Erfahrungen“ in der Beratung eines Bistums und im Gespräch mit Bischöfen und Bistumsleitung. In Erinnerung ist mir noch, wie sensibel dabei stets die Frage der Leitung in der Kirche war. Sobald das Stichwort fiel, sprang mindestes ein Mitglied der Bistumsleitung auf und betonte, wie wichtig es sei, dass diese unter allen Umständen in den Händen des Priesters liege und das der Anteil der Laien daran nur in der Beratung des jeweiligen Priesters oder Bischofs liegen könne. Selbst wenn es in mancher konkreten Leitungsfrage einfach nur um praktische Dinge ging, die allemal ein Laie regeln könnte.

Weiter in Erinnerung geblieben ist mir die Antwort des Bischofs auf die Frage, warum alle Leitungspositionen in der Diözesanverwaltung mit Priestern besetzt seien: „Ja was denken Sie denn, welche Gehälter ich Fachleuten zahlen müßte.“

Um mich mit den vielen Papieren des synodalen Wegs auseinanderzusetzen, fehlte mir bisher die Zeit. Zumal ich ihren konkreten Entstehungsprozess nicht kenne, sie sowieso noch überarbeitet werden und ich keinerlei Einfluss darauf habe, was damit geschieht. Es sei denn, ich würde mir bekannte Synodale daraufhin „bearbeiten“. Inzwischen bin ich auch mit einigen von Ihnen bei fb „befreundet“ und habe einzelne Themen auch mit ihnen persönlich diskutiert.

Was mir zugegebenermaßen mehr und mehr gegen den Strich geht, ist der Popanz, der von interessierter Seite aus dem Synodalen Weg gemacht wird. Beispielhaft einmal auf die Spitze getrieben in einer heutigen Wortmeldung einer facebook-Seite namens: „Wir sind katholisch“.

"Aufruf betr. der momentanen Tagung des Synodalen Weges

Was momentan in Frankfurt während der Tagung des Synodalen Weges abläuft, ist eine Kreuzigung der Kath. Kirche und somit eine erneute Kreuzigung Jesu.
Bitte betet den Rosenkranz um Reinigung der "deutschen" Kirche!
Rom muss das Schisma feststellen. Die kleine übrigbleibende römisch-katholische Herde muss in Deutschland neu beginnen.
Schreibt über die ungeheuerlichen Vorgänge in Frankfurt (Abspaltung von Rom, Abstimmungen gegen die röm. kath. Lehre) an die Glaubenskongragation.
Sie - Luis Kardinal Ladaria SJ - muss jetzt eingreifen, bevor "alles" zerstört ist!

Es folgen die Beschwerdeanschriften der Glaubenskongregation und der Nuntiatur.

Andere Akteure beschwören gerade wieder das „Schisma“ oder schreiben jedes erdenkliche kirchliche Forum mit ihren immergleichen Kommentaren voll. Die Wortmeldungen lassen inzwischen jede Sachlichkeit vermissen: "Der SW ist häretisch. Er ist ein bösartiges Krebsgeschwür im mystischen Leib Christi." schreibt allen Ernstes ein deutscher Priester. Bei Kirchenkrise.de schrieb der 33jährige Patrick: „Warum sucht ihr euch nicht einfach eine andere Kirche und sägt nicht an den Pfeilern?“

Meine Antwort darauf war: „Das Bild ist schräg. "Sägt an den Pfeilern?" Das wäre ja grundsätzlich und immer falsch. Ich habe da eher ein vielfach umgebautes und verwinkeltes Haus im Blick. Es wird Zeit, es endlich zu sanieren, neu zu gestalten, alte Details und Substanz sichtbar zu machen, spätere Einbauten zu entfernen, mehr Licht reinzulassen... Dazu muss ein guter Statiker die tragenden Wände identifizieren und klar machen: "Hier muss alles so bleiben, wie es ist." Aber manche andere Wand kann durchbrochen, manches düstere Hucke mit Licht versorgt werden. Ich liebe mein Haus und finde viele schöne Räume darin. Aber leider auch "menschenunwürdige Schmuddelbuden" die dringend frische Luft und mehr Licht brauchen. Die Pfeiler müssen unbedingt stehen bleiben. Und Katholiken sind einfach konservativ und ziehen ungern in schöne Neubauten. Von daher weigere ich mich, mich von anderen Glaubensgemeinschaften locken zu lassen, deren Schattenseiten ich erst erkenne, wenn ich eingezogen bin. Ich will mein Zuhause schön.“

Nun ja, auch die Papiere auf der Alternativseite von Bischof Voderholzer mochte ich mir nicht in Gänze durchlesen. Die Lust dazu hat mir der Bischof allerdings selbst verleidet, als er in seiner letzten Predigt von einer notwendigen „historischen Einordnung der Missbrauchsfälle“ sprach und erneut die MHG – Studie und deren Verfasser angriff. Seine Haltung gipfelte jetzt in Bemerkungen bei der Vollversammlung des „Synodalen Wegs“ am 1. Oktober. Da sprach er von einer "geradezu dogmatisch überhöhten MHG-Studie" und später "Was ich ablehne ist ein Lehramt der Betroffenen." Diese Art zu reden verletzt. Sollen die Opfer weiter schweigen? Hoffentlich hat er die Größe, sich dafür zu entschuldigen.

Damit übertrifft er nämlich noch das Geraune des Bischofs Stephan Ackermann über die „Aktivisten“ unter den Betroffenen. Ja sicher, der Umgang mit Betroffenen sexuellen Missbrauchs ist manchmal eine Herausforderung für jene, die ein helles Bild der Kirche im Herzen und in der Biografie haben (dürfen) und die Schattenseiten nicht erleiden mussten. Aber das Reich der Studien (MHG, Gehrke-Gutachten, WHS-Studie für Aachen) ist doch durchweg sachlich und von Übertreibungen frei. Auch Aufrufe zum Revoluzzertum sind mir dort nicht begegnet. Nur Fragen, die eine saubere Antwort brauchen. 

Den sogenannten „Missbrauch mit dem Missbrauch“ habe ich schon in einem vorigen Artikel hier in Frage gestellt. Dass diese These immer noch geritten wird, irritiert. Man könnte das inzwischen „Missbrauch mit dem Missbrauch des Missbrauchs“ nennen. Selbstverständlich müssen mir die Schlussfolgerungen, die jemand zieht, nachdem er das Ausmaß von sexuellem Missbrauch in der Kirche wahrgenommen hat, nicht gefallen. Aber dann muss ich in der Sache widersprechen und nicht mit dem Spruch vom „Missbrauch mit dem Missbrauch“ dessen Vorschläge deligitimieren, als seien seine Forderungen ein erneuter Missbrauch der Betroffenen, er also eine Art „Mittäter“, weil er profitiere ja vom Missbrauch, wenn seine Forderungen erfüllt würden. Erstaunlich, dass es keinem Bischof gelingt, ein flammendes Plädoyer für den Wert des Zölibats zu halten, der die ganze Aula nachdenklich stimmt.Nein lieber verlegen sie sich auf Predigten, Zusendung von Fachartikeln, Interviews und eigene Webseiten.Oder verabschieden sich gleich ganz aus der Diskussion.

Auf jeden Fall kam es mir jetzt gerade passend, dass nun eine Initiative in 9 relativ knapp gefassten Punkten den ganzen synodalen Prozess vom Kopf auf die Füße stellen möchte. Sie nennt sich „neuer Anfang“. Mein fb-Freund Bernhard Meuser war hier wohl an vorderster Stelle beteiligt. Da sich seine Einlassungen eigentlich immer aufschlußreich und iinteressant finde (so wie auch sein Buch „Freie Liebe“ – Über neue Sexualmoral) schien es mir, dass es sich lohnen könnte, einmal diese Thesen zu bedenken und so besser zu verstehen, worum es bei der Kritik am Synodalen Weg geht. Zumal diese Reform-Manifest ja hochaktuell und just passend zur Vollversammlung des synodalen Wegs unter die Leute gebracht wurde.

Nachfolgend möchte ich zur Präambel und den 9 Punkten spontane Eindrücke aufschreiben.

Die Präambel geht davon aus, dass „der Synodale Weg auf dramatische Weise den Ansatz wahrer Reform“ verfehle und in seiner Fixierung auf äußere Strukturen am Kern der Krise vorbei gehe. Reform brauche Umkehr und lebensverändernde Neuentdeckung des Evangeliums.

1. Legitimation

Den fett geschriebenen Merktext kann ich unterschreiben. In der Erklärung wird die Legitimation des synodalen Weges bestritten, denn die beteiligten Laien seien „Vertreter von Vereinen, Gremien und Verbänden und willkürlich hinzugezogene Dritte.“ welche „weder durch Sendung noch durch Repräsentation legitimiert seien.“

Soweit ich weiß, sind zahlreiche Vertreter des synodalen Weges Bischöfe und Weihbischöfe, dazu kommen gewählte Vertreter von Priestern, Diakonen, Pastoralreferenten, Ordensleuten, geistlichen Gemeinschaften und akademischen Theologen. Sogar eine Vertreterin von Maria 1.0 ist dabei, weitere konservative Gruppen hatten eine Einladung zur Mitwirkung ausgeschlagen. Man kann sicher über die Frage diskutieren, wie die Laien in diesem Gremium dorthin entsandt wurden und wie repräsentativ sie sind. Aber ihnen in Bausch und Bogen jegliche Legitimation abzusprechen finde ich problematisch. Die haben sie nämlich durchaus, nicht nur durch ihre Entsendung über diözesane Gremien, das ZdK und Vereine, Gemeinschaften und Verbände sondern auch über ihre Kompetenz und Sachkunde. Fragwürdig bleibt sicher, wie die normalen Katholiken von der Basis mehr eingebunden werden könnten.

Sicher korrekt ist der Verweis auf die vom Papst angesetzte Weltsynode auf deren „allgemeinverbindliche Beschlüsse“ wir aber noch warten müssen. Was spricht dagegen, die Vorarbeit des synodalen Weges in Deutschland hier einzubringen?


2. Reformkonzept

Auch hier ist der Überschrift sicher zuzustimmen.

Dem synodalen Weg wird unterstellt, es ginge nicht um echte Reformen durch Bekehrung und spirituelle Erneuerung. Man wolle das Modell der „hochinstitutionalisierten „Betreuungskirche““ durch Modernisierung und Anpassung retten. Als Gegenmodell wird eine Kirche des „real geteilten geistlichen Lebens, in der Menschen zu einer Lerngemeinschaft des Glaubens werden“ vorgestellt. Dies sei von vornherein nicht im Blick. Wie konkret dieses Gegenmodell zu erreichen ist und was geschehen muss, um die Kirche von heute vor „Verbürgerlichung“ zu bewahren wird leider nicht verraten. Soll die Kirche sich von großen Verwaltungen, Kindergärten, Krankenhäusern, Schulen etc. trennen? „Kirche solle sich nicht wie ein Unternehmen verhalten, das sein Angebot verändere, wenn die Nachfrage nachläßt...“ In diesem Sinne wird Kardinal Bergoglio zitiert. Soll also doch im Kern alles bleiben? Oder bedarf es einer „Reform an Haupt und Gliedern“. Selbstverständlich kann es nicht darum gehen, die Kirche und ihre Botschaft "leicht verdaulich" zu machen. Glaube ist kein frommer Zuckerguss über einer heillosen Welt. Kirche als Institution wird weiter quer zu vielem stehen, was in modernen Gesellschaften weitgehender oder auch unausgesprochener Konsenz ist. Eine stromlinenförmige Kirche die überall mitschwimmt ist bald obsolet. Ich sehe aber angesichts des Anspruchs des Evangeliums nicht das Risiko, das der synodale Weg die Ecken und Kanten der Institution völlig abschleift.


3. Einheit mit der ganzen Weltkirche

Übereinstimmend mit vielen Stimmen im Synodalen Weg wird eine „deutsche Sonderkirche" abgelehnt. Das Papier „Neu anfangen! Das Reform-Manifest“ behauptet, dass man römische und päpstliche „Einsprüche“ zu Themen des „Synodalen Weges“ „ignoriert, relativiert und sogar lächerlich gemacht“ habe. Man möchte sich selbst an einer „Kirche des Ungehorsams und der Rebellion“ nicht beteiligen.

Hier werden offenbar Beschlüsse des „Synodalen Weges“ erwartet, aufgrund von lautstarken Einzelstimmen von Teilnehmern oder gar aus der allgemeinen kirchlichen Öffentlichkeit, die teils gar nicht in den Beratungen präsent sind. Soweit ich das verfolgen konnte (ja, ich habe doch den ein oder anderen Text gelesen) sind in den Grundtexten sehr vielschichtige Überlegungen festgehalten, die teilweise auch von außen kritisiert und als „Sonderweg“ gestempelt werden. Dazu hat sich jüngst ja auch Kardinal Kasper zu Wort gemeldet. Ob das in der Tat so ist (und wird) und ob die Einsprüche des Papstes, aus Rom und der Weltkirche kein Gehör finden, das ist noch gar nicht erwiesen. Wenngleich ich die Vermutung teile, dass manches davon sich an traditioneller Lehre reiben wird. Dennoch: der lautstarke und scharfe Protest antizipiert Ergebnisse, die noch gar nicht auf dem Tisch liegen. Und mir fehlt ehrlich gesagt die Phantasie, dass ausgerechnet die deutschen Bischöfe mit großer Mehrheit einem Umsturz in der Kirche und einer Reform an "Haupt und Gliedern" zustimmen.


4. Macht

Hier taucht der Begriff des „Missbrauchs mit dem Missbrauch“ leider wieder auf. Im vorangestellten Merktext kann ich soweit mitgehen, bis der Begriff „Herrschaft der Büros“ als Gegengewicht zum „falschen Machtgebrauch von Hirten“ eingeführt wird. Was damit gemeint sein soll, kann man nur vermuten. Vermutlich gewisse Fachabteilungen in den Ordinariaten.

Die Autoren des Manifestes lehnen die These ab, dass „klerikale Ignoranz, mangelnde Partizipation und fehlende Demokratie“ mit ursächlich für die Missbrauchstaten seien. Immerhin wird eingestanden, dass es „Machtmissbrauch in der Kirche“ gebe, es fehle an „Wertschätzung und echter Partizipation von Laien, insbesondere von Frauen.“ Man wolle aber „keine Kirche der Beamten und Funktionäre, der aufgeblähten Apparate und des dauerinstallierten Geschwätzes.“

Hm, wer will das schon? Der „Synodale Weg“? Die Verfasser des Manifestes möchten keine Kirche, die „Berufungen durch Anstellungen, Hingabe durch Vertrag und Vertrauen durch Kontrolle ersetzt werden.“ Sondern eine „einfache, dienende und betenden Kirche in der Nachfolge Christi.“ Wie dies erreicht werden soll bleibt allerdings im Dunkel. Und ich wüßte gern, warum Berufene nicht auch von der Kirche angestellt werden können, wenn sie ihre ganze Kraft in deren Dienst stellen möchten und die Kirche ihren Dienst braucht. Schon Paulus hält es für möglich, dass die Gemeinden Menschen für ihren Dienst ernähren und versorgen.


5. Frauen

Diese These habe ich mit Spannung erwartet. Es wird gefordert, dass „Frauen auf allen Ebenen in der Kirche die gleichen Rechte und Pflichten wie Männer haben und selbstverständlich auch an leitender Stelle handeln können.“ Nicht mehr mitgehen will man, wenn sich diese Forderung auch auf sakramentale Ämter in der Kirche beziehe und zitiert dazu Ordinatio sacerdotalis. Auch hier liegt meines Wissens noch kein Entscheid des „Synodalen Weges“ und keine Formulierung vor. Denkbar, dass diese Forderung gar nicht erhoben wird, sondern einzig ein diakonales Amt der Frau eingefordert würde? Etwas, was ja sogar der Papst aktuell prüfen läßt. Leider endet dieser Abschnitt mit einer sehr allgemeinen Erklärung: Es sei „die Nagelprobe echter Erneuerung“, sich „zur spezifischen Berufung von Frauen in der Kirche zu bekennen, ihre Stärke dankbar anzunehmen.“ „Ihr Potential ist noch lange nicht ausgeschöpft.“ Hier endet diese These leider wieder ohne konkrete Vorschläge, wie das – beispielhaft – oder umfassend geschehen könnte. Wie kann die Art und Weise kirchlicher Machtausübung wieder stärker Dienstcharakter bekommen und wie können Frauen konkret mehr Einfluss auf die Gestaltung der Seelsorge und des kirchlichen Lebens nehmen?


6. Ehe

Hier erkenne ich Bernhard Meusers Gedanken aus seinem Buch wieder. Es wird beklagt, dass es neben der Ehe heute vielfältige andere Formen des Zusammenlebens gebe. Dem Synodalen Weg wird hier „beschönigende Wertschätzung“ vorgeworfen. Man wolle die „Alleingeltung der Ehe“ durch ihre „Höchstgeltung“ ersetzen. Es fehle daher die Sicht auf die „Mängel oder die Sündhaftigkeit dieser Verbindungen“ und die „Not und Suche an sich gläubiger Menschen“. Dagegen halten die Autoren des Manifestes die „Ehe als eigentlichen und legitimen Ort von Sexualität und normative Form“ hoch, in der die Kinder die Liebe „ihrer leiblichen Mutter und ihres leiblichen Vaters“ erfahren. Ich dachte: Wie lesen das wohl meine Freunde, die sich liebevoll um ihren behinderten, adoptierten Sohn kümmern? Was mit „Fragmentierung“ menschlicher Sexualität, die „letztlich menschenfeindlich“ sei gemeint sein soll hätte ich auch gern besser erklärt. Das erschließt sich wohl nur im Kontext der Lektüre von Meusers Buch. Hier könnten die Autoren eigentlich schon zitieren, was später in Punkt 7 erwähnt wird, ein Verweis auf die Worte des Papstes in „Amoris laetitia“, der eine barmherzigere Sicht formuliert. Bei mir bleibt die Frage offen, was konkret das Reformmanifest an kirchlicher Verkündigung mit Blick auf die steigende Zahl der Menschen die unverheiratet, gleichgeschlechtlich, wiederverheiratet zusammen leben empfiehlt und wie die Ehe wieder zur normativen Form werden könnte in einer immer weniger vom Christentum geprägten Gesellschaft.


7. Segnung gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften

Dieser Abschnitt beginnt mit den schönen Worten von Papst Franziskus aus Amoris laetitia. Er besteht zu 2/3 aus dem entsprechenden Zitat, um dann aber zu beklagen, dass der „Synodale Weg“ die „Gebrochenheit der menschlichen Natur“ nicht mehr in Rechnung stelle. Er lehne damit die „fruchtbare Komplementarität der Geschlechter“ in der Schöpfungsordnung ab und unterminiere die „Normativität der Ehe“. Auch hier erwarte ich gespannt, wie der synodale Weg entscheiden wird und wie er sich zu diesen wesentlichen Fragen stellt. Einen Vorschlag für die Seelsorge und den konkreten Umgang mit solchen "irregulären Partnerschaften" macht das Manifest nicht. Ich hoffe aber, es macht sich die zitierten Worte des Papstes zu Eigen.


8. Laien und Priester

Laien, so heißt es, „müssen (angesichts des Priestermangels) alle Aufgaben übernehmen, zu denen man die priesterliche Berufung nicht unbedingt benötigt.“ Im Text wird dann die Lehre der Kirche zum Priesteramt kurz zusammengefasst und dem synodalen Weg vorgeworfen, er „verdunkelt diese spezifische Berufung des Priesters, indem er den Priester theologisch und strategisch marginalisiert“ und versuche „theologisch qualifizierte Laien ohne Weihe funktional in Priesterersatz-Positionen hineinzuheben.“ Ich frage mich: „Sind wir Gemeinde-/Pastoralreferent*innen hier gemeint?“ Man halte dies für „durchsichtigen Lobbyismus“. Nur von wem? Von den Laienvertretern? Aber die Mehrzahl der Mitglieder des synodalen Weges sind doch geweihte Kleriker, wie kann sich da eine Lobby durchsetzen? Unsere Berufsgruppe stellt nur wenige Vertreter. Spannend wäre ja die Antwort auf die Frage, wie es bei zunehmendem Priestermangel mit den Pfarreien in Deutschland weiter gehen soll und welche konkreten Aufgaben Laien für den weiteren Bestand der ordentlichen Seelsorge übernehmen sollen, damit die Priester frei sind für andere (welche?) Aufgaben. Sollen immer mehr Pfarreien aufgelöst und unter der Leitung eines Pfarrers zusammengeführt/fusioniert werden? Was ist mit vakanten Pfarreien? Dürfen Laien demnächst taufen, Sonntagsfeiern halten und bei der Eheschließung katholischer Paare assistieren? Oder bleibt in vielen Dorfkirchen der Altar verwaist? Sehen wir bald Massentrauungen am Bischofssitz? Wer erfüllt das Gebot der Barmherzigkeit „Tote zu begraben“ und Kranke zu salben, wenn ein Priester der Hirte von 20.000 bis 35.000 Katholiken sein soll? Ich strebe gar keine „Klerikalisierung“ an, im Gegenteil. Aber Menschen, die seelsorgliche Begleitung suchen, für die möchte ich da sein oder sie an einen Priester weiter vermitteln, der sich ihrer annimmt. Und dafür brauche ich heute Entscheidungen und Klärungen und nicht erst dann, wenn mein Pfarrer einmal emeritiert ist und in den benachbarten Städten keiner mehr kurzfristig erreichbar ist

 

9. Missbrauch

Erneut stimme ich dem Merksatz zu. Bis auf das abschließende Stichwort vom „Missbrauch mit dem Missbrauch“. Dem Synodalen Weg wird vorgeworfen, er instrumentalisiere ihn „zur Durchsetzung einer lang bekannten, kirchenpolitischen Agenda“. Er werde benutzt „um sachfremde Ziele und Positionen kirchlich durchzusetzen“. Mich wundert nicht, dass einige Teilnehmer des Synodalen Weges die Frage stellen, ob der Zölibat der Priester möglicherweise eine Bedeutung im Kontext der Missbrauchstaten haben könnte. Das wird sicher jene bestärken, die diesen aus anderen Gründen bereits ablehnen. Aber ist das nicht eine legitim katholische Position angesichts der Tatsache, dass katholische Teilkirchen verheiratete Priester kennen? Die Aufdeckung des Missbrauchs bestärkt sie in ihren bisherigen Überzeugungen. Ist das nicht verständlich, ja naheliegend?

Das Manifest mahnt dagegen zur „größten Sorgfalt“ in der Diskussion. Und bringt (als sei dies nicht vielfach schon diskutiert und gedeutet worden) den Aspekt ein, dass angeblich „80 Prozent der Übergriffe im „katholischen“ Raum gleichgeschlechtlicher Natur“ seien. Es beklagt, dass solche „Fakten“ vom Synodalen Weg ignoriert würden. In anderen Kirchen käme es überwiegend zu „heterosexuellem Missbrauch“. Man spricht von einem „Stellvertreterkrieg, auf dem es in Wahrheit um Claims einer liberalen Kirchenagenda“ ging. Es bleibt etwas rätselhaft, was man damit konkret aussagen will. Ich vermute einmal, dass der Vorwurf einfacher ausgedrückt lautet: „Gewisse homophile Kirchenkreise möchten die Diskussion über die sexuelle Orientierung der Täter vermeiden.“ Stimmts? Aber, folgt man dieser Argumentation, so brächte der Zölibat der Kirche offenar nicht nur heilige Priester, sondern gleichzeitig erschreckend zahlreich homosexuelle, übergriffige Tätertypen im Priesterhemd ein. Damit stellt man Fragen an die Kriterien der Auswahl von Priestern nach 1945, also die Zeit, für die wir mehr über die Übergriffe wissen. Da die Taten zumeist seit den 50er Jahren dokumentiert wurden, sprechen wir damit über deutlich frühere Weihejahrgänge, da ja bekanntlich zwischen Weihe und den ersten dokumentierten Taten im Durchschnitt 14 Jahre liegen. Das ist dann aber Jahrzehnte vor der „sexuellen Revolution“, die ja anderweitig gern für die Missbrauchsverbrechen in Haftung genommen wird. In einer Zeit, die gern noch als "heile Welt der Kirche" verklärt wird.

Der tatsächliche, systemische Hintergrund der Vertuschung liege in einer „um sich selbst kreisenden Kirche, der es mehr um ihr Image als um die Opfer geht.“ Da ist sicher auch was dran, aber nach meiner historischen Kenntnis gehörten mutmaßliche sexuelle Übergriffe zu den vom Nationalsozialismus regelmäßig vorgebrachten Beschuldigungen im Kampf gegen die Kirche. Diese Abwehrhaltung wird in den ersten Jahren sicher noch wirksam geblieben sein. Nach dem Krieg ging es der Kirche dann sicher sehr um ihr Image, bzw. wurde die Dimension der Taten möglicherweise nicht erkannt. Das hängt bestimmt auch mit einer gewissen Tabuisierung von Sexualität, mit einer rigiden Durchsetzung moralischer Leitideen (und Übergriffigkeiten z.B. in der Beichte und kirchlichen Kindererziehung) und einem Desinteresse an dem weiten Feld der Sexualität der Priester zusammen. 

So richtig deutlich wird das Reform-Manifest leider auch nicht, welche Schritte man denn nun gegen Missbrauch in der Kirche wünscht. Die beliebte Verkürzung „es waren die Schwulen“ reicht als Erklärung für die Missbrauchstaten nicht aus. Zumal die Studien ja auch feststellen, dass die sexuelle Orientierung der Täter mit dem Geschlecht der Opfer in aller Regel wenig zu tun hat. Auch gibt es ja überzeugende Begründungen, warum im katholischen Raum so viele Jungen zu Opfern wurden. Im Vergleich zu anderen Kirchen waren hier weit mehr Jungen in der Jugendarbeit aktiv, die auch in der Regel von Priestern/Brüdern betreut wurden. Mädchen waren keine Messdiener, in Jungeninternaten und Heimen waren Patres und Brüder eingesetzt, bei den Mädchen eher Ordensschwestern. Dennoch bleibt sicher ein Anteil von Tätern, die nicht in Frieden mit ihrer homosexuellen Orientierung im Raum der Kirche Zuflucht im Priesteramt gesucht haben, möglicherweise auch Pädophile/Ephebophile und die aufgrund des Zölibats hofften, hier ihren als falsch empfundenen Trieb überwinden zu können. Das ist alles ausgesprochen vielschichtig und individuell. Auch die sexuelle Revolution hat ihren Teil daran. 

Aber, wenn das Manifest schon Sorgfalt einfordert, dann sollte es sie zumindest hier auch eindeutig liefern. Die Gleichung Opfer = Junge, Täter = schwul geht jedenfalls in keiner Weise auf.

 

Unter dem Strich bin ich enttäuscht vom Reform-Manifest. Ich hatte viel mehr erwartet, eine substantielle Kritik an den bisherigen Weichenstellungen, konkrete Idee für eine Erneuerung der Kirche, Kompromissvorschläge, die möglichst viele Positionen zusammenführen... Ich bin keineswegs ein Anhänger populärer Reformschritte, weil ich ebenfalls glaube, dass wir allein mit der Weihe von Frauen, der Segnung von Homosexuellen und der Aufhebung des Zölibats die Krise der Kirche und der christlichen Religion nicht überwinden werden. Ich fürchte auch, dass wir vom synodalen Weg einen Bildband und einen Textband mit wohl abgewogenen, langen und komplizierten Texten zurückbehalten, die beide irgendwann im Buchregal der Fachtheologen verstauben

"Die Kirche bedarf einer Reform an Haupt und Gliedern,
aber jede echte Reform in der Kirche beginnt
mit Bekehrung und spiritueller Erneuerung.

Die Kirche gewann noch nie Salz und Licht zurück
durch Reduzierung der Ansprüche
und strukturelle Anpassung an die Welt."

Das klingt ein wenig nach der Radikalität eines Franziskus von Assisi. Leider finde ich im Text fast gar keine Ideen und Vorschläge, wie das alles umgesetzt werden kann. Allenfalls wohlig-konservative Wunschbilder und klare Ansagen, was man nicht will. Und leider kaum neue Antworten auf die vielen  (bohrenden) Fragen, die in der Kirche und im „Synodalen Weg“ (oft zur Recht) gestellt werden.

Im Grunde ist das Reform-Manifest keines, sieht man mal von der möglichen Deutung ab, dass das „neu Anfangen“ sich vielleicht auf den Wunsch eines Neustarts eines innerkirchlichen Diskurses bezieht, der ausdrücklich auch die konservativ-bewahrenden Kräfte mit einbezieht. Wie das konkret gelingen könnte und was die (anonymen) Autoren und vermutlich zahlreichen Unterstützer des Papiers dazu beitragen möchten, das würde mich brennend interessieren.

Der Monolog ist da sicher nicht tauglich, auch nicht stapelweise neue und kirchentreue Aufsätze, Vorträge oder gar Bücher. Es braucht gute, überzeugende Antworten auf kritisch und manchmal hart gestellte Fragen. Und das - wenn nötig - auch in zwei, drei Sätzen. Zum Beispiel auf die Fragen der Missbrauchsopfer, die eine angemessene "Wiedergutmachung" wünschen. Auf die Frage der Gesellschaft und der Gläubigen, wie die Kirche ein sicherer Raum werden kann. Wie unsere Kinder vor Indoktrinierung geschützt werden und eigenständige Persönlichkeiten mit eigenständigen Überzeugungen werden können. Wie können wir als Kirche kritische Fragen der Gesellschaft klar beantworten, wenn unsere Positionen quer zum gesellschaftlichen Konsens liegen?

Und so lade ich die Autoren des Manifestes, die Mitglieder des Arbeitskreises Christliche Anthropologie, dazu ein, zu den neun Thesen jeweils konkrete Reformideen zu formulieren und Beispiele für gelingende Reformen zu nennen. Und vielleicht wäre es ja wirklich möglich, den Dialog über alle Gräben hinweg neu zu starten und einen respektvollen und ergebnisoffenen Dialog zu beginnen. Der ist leider selten geworden. (Was mitnichten allein die Schuld der Konservativen ist.)

Gerade heute wurde ich wieder an ein Erlebnis bei einem Katholikentag vor Jahren erinnert. Am Rande eines Standes der Piusbruderschaft entstand eine erregte Diskussion über den Weg der Kirche. Nach und nach kamen immer mehr Passanten dazu und mischten sich ein. Manchmal wurde aufgeregt geschrien. Ich versuchte etwas zu moderieren, so dass die einzelnen Redner ihre Gedanken bis zum Ende vortragen konnten. Es ging über eine Stunde lang und lief nach und nach in ruhigere Bahnen. Schließlich wollten einige der eher Progressiven weitergehen, weil sie noch andere Pläne hatten. Der Priester der Piusbruderschaft schlug dann vor, abschließend ein Vater unser zu beten. Alle stimmten zu und so sprachen wir gemeinsam das Vater unser, um dann in Frieden auseinander zu gehen. 

Ich bin nach wie vor kein Fan des Synodalen Wegs. Ich sehe vieles kritisch. Viele Lautsprecher dort holen mich nicht ab. Ich bin auch von manchen Reformideen nicht überzeugt. Aber wirklich substanzielle und weiterführende Kritik findet sich viel zu selten (da war kürzlich ein Beitrag von Felix Neumann auf katholisch.de). Und die Kritik aus dem sog. papsttreuen und kirchentreuen Lager überzeugt mich leider gar nicht. Da ist der SW allzu oft ein Popanz, ein Krebsgeschwür, eine erneute Kreuzigung Christi. Man spürt keine Akzeptanz der Anderen, nicht den Gedanken, dass auch im synodalen Weg Menschen die Kirche lieben; antizipiert Ergebnisse, die noch nirgendwo vorliegen, tut so als gäbe es dort schon Einigkeit, wo noch um Themen gerungen wird. Kaum etwas davon ist wirklich weiterführend oder gar einladend zum Dialog. Dieses Reform-Manifest leider auch nicht. Viele Worte, nur um zu sagen: "Wir lehnen das ab! Wir wollen das nicht!" Kein einziges gutes Haar und wertschätzendes Wort für die Schwestern und Brüder mit anderer Auffassung. Schade, trotz des ermutigenden Titels: eine weitere Chance für einen neuen Anfang scheint vertan. 

Ob es wohl irgendwann gelingt, eine neue Tür zu öffnen?
"Komm her, öffne dem Herrn dein Herz;
deinem Bruder/deiner Schwester öffne das Herz und erkenne in ihr/ihm den Herrn. 

Der Text des Reform-Manifest: www.neueranfang.online 

Donnerstag, 22. Juli 2021

Verwirrende Vielfalt: von alten und neuen, ordentlichen und unordentlichen Messen

Es kündigte sich schon seit Wochen wie Donnergrollen am Horizont an: „Papst Franziskus wolle die sogenannte „Alte Messe“ ganz verbieten.“ Er sei von je her ein Feind der Tradition oder könne als Papst vom anderen Ende der Welt die Debatten darum in ihrer Tiefe und Ernsthaftigkeit nicht nachvollziehen. 

Vorsorglich erschienen auch schon rührende Filmchen mit jungen Leuten, die den Papst bestürmten, ihren die „Alte Messe“ nicht zu nehmen und lange Artikel, die die sattsam bekannten Argumente bekräftigten, die für einen Erhalt der „alten“ lateinischen Liturgie nach den Messbüchern von 1962 sprechen.

Ein Kernargument, das dabei immer wieder genannt wird, ist der weltweite „Erfolg“ der Gemeinschaften, die in ihrer kompletten Liturgie auf diese „alten“ liturgischen Bücher zurückgreifen, das Wachstum entsprechender Orden und Priestergesellschaften und Gemeinden. Auch wird immer wieder betont, wie sehr in den Hl. Messen nach dem bisher so genannten römischen Ritus in der außerordentlichen Form, auch junge Menschen und junge, kinderreiche Familien präsent seien. 

Als Pastoralreferent, der sich sehr für liturgische Fragen interessiert und auch das Gespräch mit konservativen und traditionell-traditionalistischen Katholiken schätzt, interessiert mich diese Thematik durchaus. Ich besuche bei Gelegenheit auch die tridentinische Messe, mich stört dabei nicht, dass der Priester sie mit dem „Rücken zum Volk“ zelebriert. Das tue ich als Pastoralreferent bei Wortgottesfeiern und Andachten auch – dort wo es stimmig ist. Darüber könnten wir auch im Rahmen der Messe durchaus mal nachdenken.

Inzwischen hat der Papst ein „Motu proprio“, ein päpstliches Schreiben veröffentlicht, mit dem Titel „Traditionis custodes“. Im Vergleich zu manchen anderen päpstlichen Schreiben ist dies erfreulich knapp und klar gehalten. Er erklärt darin das nach dem 2. vatikanischen Konzil 1970 erschienene Messbuch zur einzigen legitimen Ausdrucksform des römischen Ritus. 

Papst Benedikt hatte 2007 ein gleichrangiges päpstliches Scheiben herausgegeben unter dem Titel: „Summorum pontificum“. Mich hatte damals sein Argument überzeugt, dass die Liturgie, die den Menschen über Jahrhunderte heilig war, nicht per Dekret und Liturgiereform wertlos geworden sei. Sie sei auch nie verboten worden. Und es liegt doch auf der Hand, dass die heute gefeierte Liturgie ihre Wurzeln in einer (dieser) jahrtausendealten Tradition hat. Um diese angemessen zu verstehen, muss man diese Wurzeln erkunden und erkennen. Daher hat der Papst damals den Priestern großzügig erlaubt, die Messbücher vor der Reform von 1970 zu verwenden und in dieser Form zu zelebrieren. Der Papst schuf eine besondere Interpretation des römischen Ritus (ist gibt in der katholischen Kirche noch einige weitere Riten, wie den byzantinischen, den toledischen, den mozarabischen...), wonach dieser wichtigste Ritus zwei Formen kennt, nämlich die ordentliche Form (wie wir sie kennen) und die außerordentliche Form. Der Papst wollte hiermit ausdrücklich einen liturgischen Frieden ermöglichen und allen, die an der alten Form festhalten wollten bzw. diese neu für sich entdeckt hatten, großzügig Möglichkeiten zu ihrer Feier einräumen. Auch wollte er sicher die Türen für die Piusbruderschaft öffnen und hoffte auf eine Rückkehr der verlorenen Schäfchen. 

Für mich war „Summorum pontificum“ immer eine Übergangslösung, denn bei einer Koexistenz zweier Formen konnte es nicht wirklich bleiben. Vermutlich war das aber eine salomonische Lösung, um einige schwelende Feuer zu löschen. Auch hoffte der inzwischen emeritiert Papst offenbar darauf, dass sich damit auch die Tür für eine Reform der Liturgiereform öffnete. Denn auch die erneuerte Liturgie ist den Erwartungen und Hoffnungen nicht gerecht geworden. Auch ist das ein oder andere sicher mit heißer Nadel gestrickt oder sehr von persönlichen Überzeugungen einzelner Autoren geprägt. Die Verwendung der Volkssprachen bringt es natürlich mit sich, dass liturgische Sprache weit schneller veraltet als die Verwendung des Latein, das keine dynamische Entwicklung mehr kennt. 

Schon recht bald nach Summorum pontificum wurde deutlich, dass ein Rückgriff auf die liturgischen Bücher von 1962 (letzte Neuauflage des Messbuchs), noch weitere problematische Seiten hatte. Man kann sagen, dass diese ja dann eine seit 1962 unveränderte „Konserve“ waren, was Leute, die darin die unveränderte und unveränderliche „Messe aller Zeiten“ sahen, ja kein Problem darstellte. Aber aus Sicht der Gesamtkirche ergab sich durchaus die Notwendigkeit maßvoller Anpassungen, z.B. durch die Aufnahme neuer Heiligengedenktage und die Beseitigung sehr problematischer Texte, die durch neue lehramtliche Entwicklungen (gerade durch das 2. Vatikanum) überholt waren. 

Die unterschiedliche Leseordnung und ein unterschiedlicher liturgischer Kalender erschweren das Miteinander beider Formen darüber hinaus auch sehr konkret. 

Es wird gern betont, dass während des ganzen Konzils ja die Hl. Messe nach eben diesen Büchern gefeiert wurde und dass die daher den Beschlüssen des Konzils gar nicht widersprechen könnten. Aber die Liturgiereform des Jahre 1970 geht ja unzweifelhaft auf das 2. Vatikanum zurück und auf die dort erkannten Probleme und Schwächen der überlieferten liturgischen Formen. Die weit überwiegende Mehrheit aller Bischöfe der Weltkirche sah die dringende Notwendigkeit einer Reform. Kann es dann angemessen sein, weiter an jedem kleinen Detail der alten Liturgie festzuhalten? Wenn man die konkreten Reformen unter Papst Paul VI. für misslungen oder völlig überzogen hält: Welche Vorschläge gibt es dann für eine Reform in der sich Tradition und Fortschritt besser die Waage halten. Und würde die in der aktuellen „Gefechtslage“ wirklich allgemein akzeptiert? Je länger man nun die Situation aufrecht erhält, altrituelle Gemeinden neben „normalen“ Gemeinden zu haben, desto stärker entwickelt sich die Schere auseinander, denn man kommt sich nicht näher, sondern vergrößert nur die eigene Anhängerschaft – bis einmal das wirkliche Schisma zu konstatieren ist. Kein Wunder, dass das Dubium zur Feststellung eines „Schismas“ in Deutschland eben aus dieser altrituellen Szene kommt. 

Ein Kernthema des Konzils und der Liturgiereform war die lebendige Teilhabe der Gläubigen an der Feier der Liturgie. Wie ich aus vielen Gesprächen weiß, war gerade dies die Kernfrage der liturgischen Bewegung seit den 1920er Jahren. Hier haben viele Akteure Wesentliches dazu beigetragen, die Liturgie den interessierten Personen zu erschließen. Ich nenne nur die Namen Anselm Schott, Romano Guardini oder Odo Casel. Es sind großartige Messbücher entstanden, die die Texte der Liturgie und ihre Gedanken für die einfachen Gläubigen erschlossen. Das war für viele von Ihnen eine echte Offenbarung, ich kannte viele Priester, deren Berufung hier ihre Wurzeln hat. Leider sind sie inzwischen alle verstorben. Die kraftvolle Jugendbewegung von den 1920er Jahren an bis in die Nazizeit hat hier sehr lebendige Wurzeln. 

Doch irgendwann stellte sich die Frage, ob die reine Übersetzung ausreichend ist. Wenn man schon übersetzt, warum dann nicht mehr lebendige Sprache. Zumal ja Latein mitnichten die Sprache Jesu war, sondern die Sprache des Pilatus aber natürlich auch der jungen Kirche Roms. Viele Basistexte der katholischen Tradition sind in Latein verfasst. Folgerichtig betonte auch das 2. Vatikanische Konzil die Bedeutung der lateinischen Sprache. Trotzdem muss man sicher mit Bedauern feststellen, dass diese Sprache sogar in Rom selbst an Bedeutung verloren hat. Selbst unter den Bischöfen wird kaum noch jemand spontan in lateinischer Sprache sprechen und korrekt formulieren können. 

Wenn man ehrlich ist und ich habe mit vielen älteren Menschen über die Kirche ihrer Jugend gesprochen: Im Wesentlichen bestand die Teilnahme der Gläubigen an der Liturgie der katholischen Kirche vor der Reform in Anwesenheit und Gebet. Die lateinische Sprache verstanden nur sehr wenige Personen, durch Rosenkrangebet und Volksgesang versuchte man, die Gottesdienstbesucher dabei zu halten. Heute noch künden die baulichen Formen der Kirchen dieser Zeit mit geschlossenen Chorräumen und Lettnern davon, dass Liturgie im Wesentlichen die Kleriker, Ordensleute und Ministranten einbezog, das Volk dem beiwohnte. Die Vielfalt der Kunstwerke in einer Kirche diente auch der Beschäftigung und der Prägung der Gläubigen mit religiösen Bildern und Geschichten. Papst Pius X. sorgte mit seinen liturgischen Reformen dafür, dass wenigstens ab und an die Hl. Kommunion empfangen wurde. Wie auch immer man diese Zeit der Kirche betrachtet, man kann die vielen Schwächen nicht übersehen, die zur großen Liturgiereform geführt haben. 

(Vermutlich macht es an dieser Stelle Sinn, eine kritische Anmerkung eines fb-Freundes zu zitieren: "Es ist keine passive Teilnahmslosigkeit - wenn man als Gläubiger schweigt, kniet, betrachtet, betet - ganz im Gegenteil - hier wird dem Gläubigen Gott offenbar." Ich stimme ihm zu, tätige Teilnahme beschränkt sich nicht auf Aktivität, die genannten Formen und Haltungen gehören selbstverständlich auch dazu. Ich habe versucht, dies in den abschließenden Zeilen meines Beitrags auszudrücken.)

In der Diskussion um die „Alte Messe“ wird häufig angemerkt, dass diese ja von „Missbräuchen der Liturgie“ weitgehend frei sei. Kürzlich schrieb mir jemand, dass höchstens eine von zehn Messen, die sie in normalen katholischen Kirchen besuche, frei von Unregelmäßigkeiten und Missbräuchen sei, kaum ein Priester zelebriere treu nach dem Messbuch. Auch Papst Franziskus beklagt dieses Phänomen in „Traditionis custodes“. 

Mir geht dazu durch den Kopf, dass dies vermutlich mit dem Bemühen der Geistlichen zu tun hat, die Menschen in der Kirche anzusprechen, sie durch Singen, Bewegungen, Sprache, Aktionen innerlich (manchmal auch oberflächlich) anzurühren und die tätige Teilhabe an der Liturgie nach Kräften zu fördern. Mancher gerät dabei auch hier oder dort an Grenzen. Oder übertritt sie. Das zeigt, dass die Liturgiereform von 1970 bei allem Bemühen durchaus Schwächen hat, an denen man arbeiten müsste. Es wäre sicher interessant, zu erfahren, warum die Priester so oft sehr frei mit der vorgegebenen Liturgie umgehen. Auch wäre es wichtig die Kritik derjenigen zu hören, die sich eine Liturgie nach den Regeln der Kirche wünschen. Da sind auch die Rückmeldungen der Freunde der alten Liturgie sicher wertvoll. Leider ist nach meiner Wahrnehmung die Bereitschaft, die selbst gefeierte Liturgie und Predigt einer kritischen Reflexion (durch Rückmeldungen der Mitfeiernden) zu unterziehen sehr gering. Auch auf Seiten der Gläubigen selbst tut man sich mit qualifizierten und kritisch-wertschätzenden Kommentaren schwer. 

Bei der Feier der „alten“ Messe gibt es ja keine Notwendigkeit, die vorgegebenen Texte spontan zu verändern. Und den weitaus meisten Zelebranten dürften auch die sprachlichen Fähigkeiten fehlen, spontane lateinische Texte zu formulieren. Kein Wunder, dass da keiner über Missbrauch klagt.

Unter den Anhängern der überlieferten lateinischen Liturgie löste Papst Benedikt XVI. 2007 eine große Freude aus. Sie nutzen die Möglichkeiten, die sich ihnen boten konsequent aus. Viele traditionelle Priester boten einzelne Messen in der außerordentlichen Form in den Gemeinden an oder zelebrierten privat in dieser Weise. Zwei Hoffnungen blieben jedoch bis heute unerfüllt: Es gab keine „Versöhnung“ zwischen beiden Ritusformen und kein „aufeinander-zu“. Selbst mäßige Reformen für die überlieferte Form wurden abgeblockt oder heiß diskutiert (wie z.B. um die mehr als notwendige (und doch verunglückte) Veränderung der Karfreitagsfürbitte „für die Juden“). Selbst die von Benedikt XVI. formulierte Form wurde teilweise abgelehnt, die Diskussion darum gefährdete die mühsam errungenen Fortschritte im jüdisch-christlichen Dialog. Für Leute wie mich waren diese Diskussionen über die Legitimität weiterer Reformen durch die Päpste seit Pius X. so aufschlußreich wie spannend. Manch einer lehnte darin selbst das Messbuch von 1962 ab und machte sich auf die Suche nach älteren Versionen. Ich habe sogar einige ältere Messbücher dafür vermitteln können. 

Befremdlich ist für mich die Information, dass in manchen katholischen Kirchen, wo in beiden Formen des lateinischen Ritus zelebriert wird, auch zwei Ziborien im Tabernakel aufbewahrt werden, als sei die Gegenwart Christi dort geteilt. Nach Summorum pontificum schlug mal jemand vor, dass Priester, die ausschließlich im „vorkonziliaren Ritus“ zelebrierten (z.B. in der Petrusbruderschaft oder auch Piusbruderschaft) doch in einer Messe mit dem Bischof in der ordentlichen Form zur Kommunion gehen mögen. Der Ideengeber wollte wohl darauf hinweisen, dass es unter jenen auch welche gibt, die die reformierte Liturgie für so fehlerhaft halten, dass sie sie gar nicht als legitime Liturgie der Kirche anerkennen. Und in der Tat klingen viele Wortmeldungen aus dieser Szene (hier dann oft auch von Laien) genau so. 

Es ist auch davon auszugehen, dass Wortmeldungen in dem Ton, wie man sie immer wieder in Diskussionen um die Bedeutung der „alten Messe“ oder die wahre Form der Kommunionausteilung zu hören bekommt, auch massenhaft auf dem Schreibtisch der Bischöfe landen und so das Bild prägen von jenen, die dieser Form der Liturgie anhängen. Mich persönlich nervt und verletzt es ab und an, wenn mir immer wieder vorgehalten wird, dass es nur eine wahre Liturgie gibt, dass diese von den Liberalen „bekämpft“ würde, dass Priester, die sich um eine besonders volksnahe Liturgiegestaltung bemühten, den Glauben verloren hätten, dass Priester, die aus gesundheitlichen Gründen nicht knieen keine Ehrfurcht hätten, dass Partikel der Hl. Kommunion in den Schmutz getreten würden und und und... Als Pastoralreferent bin ich noch dazu ja sowieso eine Erscheinungsform „des Konzils“ und mehr dem „Geist“ als dessen Buchstaben zuzuschreiben. Und schließlich ist meine Frömmigkeit defizitär. Manchmal fühlt man sich wie Hase und Igel... Ich bin ein großer Freund von Wallfahrten, ich mag auch traditionelle Gottesdienstformen und die religiöse Ästhetik der Jahrhundertwende, ich möchte die guten Seiten der traditionellen Volkskirche bewahren und bete häufig zur Gottesmutter. Für viele „Liberale“ bin ich da schon verdächtig und gelte als erzkonservativ. Aber manche „Tradis“ wissen allzu genau, dass meine Frömmigkeit ja völlig wertlos ist, ja in Teilen „dem Herrn ein Greuel“. 

Die allerlautesten Kritiker des amtierenden Papstes finden sich interessanterweise auch ausdrücklich unter jenen, die die erneuerte Liturgie ablehnen oder sehr kritisch sehen. Leo Kardinal Burke ist da sicher der prominenteste Kopf. Kardinal Sarah ist da zurückhaltender, aber gerade jetzt fühlt er sich genötig auf Twitter zu erklären, dass für ihn Inkulturation bedeutet, dass die afrikanische Kultur in der Liturgie „getauft“ und seine Kultur ins Göttliche erhoben wird. Natürlich ist das nicht verkehrt, aber doch nur ein Pol der notwendigen Diskussion über Inkulturation. Für Sarah sei die Liturgie nicht der Ort, die afrikanische Kultur zu fördern. Ich sehe solches Denken als eine Wurzel einer Bewegung, die der Kirche und den First Nations in Kanada am Ende die Residential Schools eingebracht hat. 

Mit erstaunlicher Deutlichkeit trägt Papst Franziskus den Bischöfen auf, darauf zu achten, dass die Feier der alten Form der Liturgie nicht mit einer grundsätzlichen Ablehnung des 2. vatikanischen Konzils und der späteren Liturgiereform verbunden ist. Er legt die Verantwortlichkeit hier unmittelbar in die Hand der Bischöfe zurück. Da die Freunde der alten Liturgie zuvor durch „Summorum pontificum“ ein Art Recht auf diese Zelebrationsform erhalten hatten, ist nun die Sorge groß, dass der Bischof stärker hereinregiert. Es ist nachvollziehbar, dass der Gehorsam gegenüber dem Bischof weit konkreter und persönlicher ist als der Gehorsam gegenüber dem „ewigen Lehramt des Papstes“ und der „Tradition der Kirche“. 

Trotzdem ist davon auszugehen, dass sich zunächst einmal für die Gläubigen und Gemeinschaften, die die alten Formen schätzen, nichts verändern wird. Der Bischof von Bayonne hat ein Schreiben aufgesetzt, dass die Wertschätzung für die Entscheidungen des Papstes und die Wertschätzung für die altrituellen Gläubigen ohne jede Polemik und Schärfe verbindet. Der beste Text dieser Diskussion bisher!

Leider scheint eine lautstarke Mehrheit jener, die sich kritisch zu „Traditiones custodes“ zu Wort melden, genau die benannten Sorgen von Papst Franziskus zu bestätigen. Politisch – strategisch kann man manche Stellungnahme nur unklug nennen (um nicht dumm zu sagen). Wer sowieso schon einen kritischen und liberalen Bischof hat, gibt dem reichlich Argumente an die Hand. Trotz aller Beteuerungen, dass man treu zu Kirche, Papst und … naja … auch Bischof stehe. Ein wunderbares Beispiel dafür zeigt sich in den aktuell beliebten Schriftbändern auf facebook – Profilbildern. „Latin mass matters“, frei angelehnt an „Black lives matters“ oder vermutlich noch eher „All lives matters“. Es ist schon verwunderlich, dass der Einsatz für die „Lateinische“ Messe ausgerechnet in eine englische Parole gefasst wird. Und dies offenbar ohne zu reflektieren, dass die vielfachen zu lesenden Sprüche die auf … lives matters endeten aus politisch eindeutigen Kreisen kamen und zumeist auch das Ziel hatten das „Black lives matters“ zu marginalisieren oder diesem etwas entgegen zu setzen. Etwas, das harmlos klang, aber der Bewegung die Spitze nehmen und Aufmerksamkeit entziehen wollte. 

Natürlich kommentieren viele bekannte Stimmen mit drastischen Worten das aktuelle Geschehen. Darunter auch Fürstin Gloria, Gerhard Ludwig Kardinal Müller, Kardinal Zen, Kardinal Brandmüller, Maria 1.0 (überraschend, weil man doch eigentlich für die normal-fromme katholische Frau stehen will), die Piusbruderschaft u.v.m.. Durch das eingangs erwähnte „Donnergrollen“ waren viele ja schon auf Widerstand gebürstet. Recht besonnen fiel die Stellungnahme der Petrusbruderschaft aus, obwohl auch sie aus dem päpstlichen Motu proprio Vorwürfe heraushörte und sich dagegen verwahrte. Dabei muss sie sich im Wesentlichen den Schuh gar nicht anziehen... Ihre Schriften kann man auch in einer "normalen" Gemeinde bedenkenlos verwenden.  Überhaupt kommt mir in diesen Diskussionen immer häufiger der Spruch „Wem der Schuh passt...“ in den Sinn. 

Stellvertretende erwähne ich George Weigel, der u.a. so urteilt, das päpstliche Schreiben sei „theologisch inkohärent, in pastoraler Hinsicht spaltend, unnötig und unbarmherzig.“ Ähnlich klingt es im Grunde fast überall. (Vermutlich fände man eine ganz ähnliche Formulierung bei einigen Liberalen, wenn man die Diskussion um das Segnungsverbot für gleichgeschlechtliche Paare verfolgt.)

Weigels Text ist insgesamt sicher lesenswert und geht weit tiefer als manches Netzgeplänkel. „Urteile aus Rom sollten nicht auf Grundlage der Hysterie und Possen der katholischen Blogosphäre gefällt werden.“ Da hat er bestimmt recht. Allerdings war die Grundlage die Umfrage unter den Bischöfen der Weltkirche, die sicher insgesamt unverdächtig sind, allein „Hysterie und Possen“ nach Rom zu melden. Und es wurden ja auch viele Briefe nach Rom geschickt, um der befürchteten Tendenz dieser Umfrage etwas entgegen zu stellen. 

Gero P. Weishaupt, ein Kirchenrechtler und Facebook-Aktivist dreht die Problematik in einem Interview auf kath.net komplett um und schiebt dem Papst den schwarzen Peter zu. Der Hl. Vater verwende "seinen Hirtenstab als Schlagstock", damit sei er der Schuldige, wenn er die Anhänger der "Messe in der tridentinischen Form" gegen sich aufbringe, er gefährde seine Glaubwürdigkeit und Authentizität. Ein langes Interview ohne einen Hauch von Einsicht und Selbstkritik.

Es überrascht insgesamt, wie wenig nachdenkliche Stimmen zu hören sind. Aus der liberalen Szene der Kirche und den Reformbewegungen kommt zumeist: „Gut, dass diese reaktionäre Szenen begrenzt wird.“ Interessanterweise aber auch bei einer Maria 2.0 – Protagonistin und beim Münchner Geistlichen Wolfgang Rothe: „Verbote bringen nichts, wir brauchen Vielfalt, mit der „alten Messe“. Interessante Koalitionen, aber solche Stimmen werden nirgends zitiert. Da beruft man sich lieber auf Weihbischof Schneider, zitiert Papst Benedikt XVI. und Robert Spaemann oder Atheisten, die die alte Messe schätzen.

Es würde mich nicht wundern, wenn die Unkenrufe rund um Traditionis custodes am Ende zumindest teilweise zu einer selbsterfüllenden Prophezeiung werden. Im Text selbst sehe ich das nicht begründet. Allein in der Festlegung, dass Pfarrkirchen nicht genutzt werden können dürfte für einzelne Kirchen Problempotential liegen, das aber ein Bischof leicht ausräumen könnte.

Warum meldet sich nicht stärker die Mehrheit jener zu Wort, die dem offensichtlichen Wunschbild des Papstes entsprechen, treu zur Kirche, loyal zu ihrer Lehre des Jahres 2021, mit dem lebendigen Lehramt von Papst und Bischof verbunden, politisch nicht allzu extrem und erklärt, was ihnen die „Alte Messe“ bedeutet, spricht wohlwollend über Schwestern und Brüder, die spirituell aus der reformierten Liturgie leben, pflegt das Gespräch mit ihnen, erkennt ihre spirituelle Kraft an, äußert Kritik liebevoll und wertschätzend und bittet den Bischof ihnen weiterhin Priester und Räume für die Feier der „alten Messe“ zu gewähren? 

Als Feld-, Wald- und Wiesen-Pastoralreferent aus der niederrheinischen Stadt habe ich das gestern mal gemacht. Einfach, weil ich daran glaube, dass die Vision von Papst Benedikt XVI. irgendwann einmal wahr werden könnte. Und weil ich an die versöhnende Kraft des Glaubens, des Evangeliums  und der Liturgie glaube. 

Warum bringen sich diese Gemeinschaften nicht geduldig (ja, ich weiß, dass viele von ihnen auch mit den Liberalen ihre schlechten Erfahrungen gemacht haben und ungerecht behandelt wurden) in ihrer zugeordneten Gemeinde ein, feiern Pfarrfeste mit und beteiligen sich an der Pfarrwallfahrt, besuchen Andachten und beten gemeinsam zum Herrn im Sakrament. 

Man muss mit dem hl. Vater konstatieren, dass die großzügigen Öffnungen von 2007 die Hoffnungen von Papst Benedikt XVI. nicht erfüllt haben.Weder von traditioneller noch von liberaler Seite. Von daher kommt mir das Motu proprio von Papst Franziskus nun folgerichtig vor. Die Koexistenz zweier Formen des einen Ritus funktionierte offenbar nicht, weil dadurch eine Konkurrenzsituation entstand. Die jeweiligen Anhänger drängten sich gegenseitig in die Rechtfertigung. Und man wollte dem jeweils Anderen zeigen, wer es besser kann. 

Der Papst hat offen gehalten, welchen Status die „alte Messe“ und Liturgie nach der Neuregelung haben wird. Eine Lösung wäre, die „tridentinische Liturgie“ milde zu reformieren und in den Rang eines eigenständigen Ritus zu erheben, der ähnlich wie die Liturgie von Toledo oder die mozarabische Liturgie ein Heimatrecht in manchen Kirchen erhält. Aber dafür wäre es im Grunde notwendig, die gültige katholische römische Liturgie in gewisser Weise als Bruch zu definieren, ein Vorwurf, den altrituelle Katholiken gern auf der Zunge tragen. Das ist also auch schwierig, aber angesichts der in der Liturgiewissenschaft auch aufgezeigten Verbindungslinien anderer liturgischer Riten oder der Ideen z.B. für einen amazonischen Ritus (oder den des Zaire), wohl nicht völlig undenkbar. 

Undenkbar erscheint dagegen, dass der klassische alte lateinische Ritus völlig verschwindet. Dazu sind die altrituellen Gemeinschaften zu stark und zu erfolgreich. Und man würde jede Brücke zur Piusbruderschaft abbrechen, die immerhin viele extreme Traditionalisten vor dem Abrutschen in ein absolutes (sedisvakantistisches) Sektierertum bewahrt.

Die kritische Sicht der sehr konservativen, traditionellen und traditionalistischen Katholiken muss auch in der Kirche insgesamt offener aufgenommen und genauer gehört werden. Sie haben wirklich etwas zu sagen und selbst das Mitteilungsblatt der Piusbruderschaft lese ich hier durchaus mit Gewinn. Sie legen den Finger in manche schmerzende Wunde. Leider vermögen ihre Antworten mich nicht zu überzeugen. Nein, die Antwort auf alle Fragen und Probleme der Kirche ist nicht die Rückkehr zur alten Liturgie und Gestalt der Kirche. Das 2. Vatikanum ist auch kein Werk diabolischer Kräfte, sondern die Reaktion auf die Moderne und eine direkte Folge davon. Die Kirche ist und bleibt Sakrament für die Welt, nicht für eine erträumte, ideale Gesellschaft und eine katholische Monarchie, sondern Sakrament einer gebrochenen Welt, in der es nicht wenige verlorene Schafe gibt, aber doch weit mehr, die im Umfeld der Herde bleiben und offen sind für das Wort Jesu, für Gebet und Gottesdienst und eine Kirche, die sich selbst nicht idealisiert, sondern ihnen auf Augenhöhe begegnet. 

Hinter den Gedanken, dass alle, die die Hl. Messe mitfeiern, in das Geschehen mit einer Anteilnahme eingebunden werden müssen, wie sie damals Jesus mit seinen Aposteln im letzten Abendmahl verbunden hat, dürfen wir als Kirche nicht zurück. Wir müssen die Messe feiern mit einer inneren Anteilnahme, wie sie Jesus mit seinen Jüngerinnen und Jüngern in den Tagen seiner Gefangennahme, seiner Kreuzigung und Auferstehung verbunden hat. Wir dürfen nicht zurück zu einer Situation, wo aus Mitfeiernden Zaungäste werden, bei denen es im Grunde egal ist, ob sie der Kulthandlung beiwohnen oder nicht. Dafür ist, das musste ich im Verlauf meines inzwischen 30jährigen Dienstes für die Kirche auch erfahren, die Eventisierung der Messe kein allgemeingültiges Rezept. 

Mein Wunsch an alle, denen der Glaube an Jesus Christus als Gotte Sohn etwas bedeutet ist, dass wir miteinander alles tun, um das Wort Jesu Christi nicht um seine Kraft zu bringen. Dass wir aus unserer Mitte alles ausmerzen was unwahrhaftig, zerstritten, falsch, lächerlich oder banal ist. Dass Menschen die uns treffen nach einer Begegnung mit uns fragen: Was ist da dran am Glauben an diesen Gott, den Vater, den Sohn und den Hl. Geist. Und dass sie sich nicht abwenden, weil sie zerstrittene Freaks erlebt haben, sondern Menschen, die ihnen von Jesus erzählen, wenn es sein muss auch mit Worten. (Und bevor ich des Plagiats verdächtig bin: der letzte Satz wird dem Hl. Franziskus zugesprochen).

Dienstag, 22. Juni 2021

Schlag- und Knüppelworte der Kirchenkrise: "der Missbrauch des Missbrauchs"

Auf eine bunte und vitale Art anziehend müssen die christlichen Gemeinden auf die Menschen der Antike gewirkt haben, für „Juden und Proselyten, Kreter und Araber…“. Sie alle hörten, wie die Freunde Jesu Gottes große Taten verkündeten. „Seht, wie sie einander lieben…“ heißt es in der Apostelgeschichte über diese Gemeinschaft. 

Wie war das möglich? Vermutlich aus der verbindenden Botschaft, der Kraft des Hl. Geistes und der wirksamen Medizin der Vergebung, denn sieben mal siebzig mal möge man seinem Bruder und seiner Schwester vergeben – das hatte Jesus ihnen einst mit auf den Weg gegeben. Da kann man schon den Überblick verlieren, ob der Vorrat an Vergebungsbereitschaft bereits erschöpft ist. Leider ist von der fröhlichen Ausstrahlung von früher aktuell (zumindest in der Öffentlichkeit) wenig geblieben.

„Schlecht sieht er aus“, der Kölner Erzbischof in seiner neuesten Videobotschaft. Grau ist er geworden beim Versuch, seinen Zuhörern zu vermitteln, dass ein Verbleib im bischöflichen Amt, seine Weise sei, die Verantwortung für das Versagen seines Bistums gegenüber den Opfern und im Umgang mit den Tätern zu übernehmen und zu tragen. Er kommt dabei durchweg wahrhaftig rüber. Und der Preis ist hoch für ihn, schließlich schwindet bei vielen Verantwortungsträgern im Bistum das Vertrauen, dass diese Krise von der Bistumsleitung noch zu meistern ist. Die Signale kommen beileibe nicht nur aus dem Kreis der Reformer.

Wahrhaftig kam auch Reinhard Marx, Kardinal und Erzbischof zu München rüber, als er angesichts desselben Dilemmas dem Hl. Vater seinen Rücktritt anbot, um Verantwortung für das Versagen seiner Vorgänger und für eigene Fehler zu übernehmen. Das war ein Paukenschlag! Denn eine solche Konsequenz kannte man bis dato nur aus der Politik, wo offenbar werdendes Versagen und von der politischen Bühne gehen, oft nur wenige Tage auseinander liegen. 

Doch der Papst hat diese Pläne durchkreuzt. „So einfach kommst Du mir nicht davon!“ Reinhard Marx möge „sein Fleisch auf den Grill legen“. Ein ziemlich waghalsiges Bild, das nach Fege- und Höllenfeuer klingt und riecht. Der Münchner Kardinal ist nicht zu beneiden, denn es muss sich jetzt spürbar etwas verändern. Ob er dazu die Kraft hat? Die Herausforderung stellt sich für ihn aber nicht weniger als in Köln und Marx ist noch gar nicht da angekommen, wo Kardinal Woelki heute schon ist, nachdem dessen Veröffentlichung eines soliden Gutachtes von zahlreichen kommunikativen Pannen begleitet war. Die Fehler kann Marx zwar jetzt vermeiden, aber es ist nicht unwahrscheinlich, dass auch das dort erwartete Gutachten wenig erfreulich sein wird, für das Bistum und vermutlich auch für den vormaligen Trierer Bischof höchstselbst.

Die katholische Kirche befindet sich in einer tiefen Krise. Gibt es einen Ausweg? Weder der Verbleib im Amt noch die Flucht in den Vorruhestand scheint Erleichterung zu bringen. Es wird schwer werden und es gibt keine leichte Lösung. Die Missbrauchskrise ist eine Jahrhundertaufgabe, vermutlich die größte Krise nach dem Fiasko der Dogmatisierung der päpstlichen Unfehlbarkeit. Oder möglicherweise gar seit der Reformation Luthers, Calvins und Zwinglis.

Gibt es einen Ausweg? Einen Ausweg wohl nicht, aber einen Weg. Und den hat ausgerechnet der Hl. Papst Johannes Paul II. auf den Punkt gebracht. „Der Mensch ist der Weg der Kirche.“ (Redemptor hominis) Daraus kann sie lernen, dass sie sich ohne jedes Wenn und Aber hinter die Opfer zu stellen muss. Ich habe meine Zweifel ob das allen Verantwortlichen bereits klar ist.

Ein bedrückendes Foto fand ich kürzlich bei Markus Elstner (siehe oben), der als Kind von einem Priester des Bistums Essen missbraucht wurde. Jener verschwand aus Bottrop und war später in Bayern tätig, in den Gemeinden Garching und Engelsberg. Bei einem Vortrag entdeckte Elstner kürzlich mit verständlichem Entsetzen auf einer Ehrentafel an der Kirche in Engelsberg den Namen seines Täters. Ein irritierendes Bild, goldene Lettern auf schwarzem Grund. Der Täter lebt auf Anordnung von Bischof Overbeck heute wieder in Essen. Doch dieser Verbrecher scheint in der Gemeinde noch immer geachtet zu sein. Möglicherweise ist das rein katholisch-bayrische Ordnungsliebe, denn ein übermalter Name hinterließe eine Lücke auf der Ehrentafel, als sei in diesen Jahren kein Pfarrer dort gewesen. Aber, warum nicht, schon in der Antike wurden Namen und Bilder entfernt? "Damnatio memoriae - Verdammung des Andenkens" nannte man das. Auch hier wäre es gut, dies mit den Augen der Opfer zu sehen (Markus Elstner ist da nicht der Einzige.) Vielleicht sollte auf einer solchen Tafel demnächst stehen: "Von 1992 – 2008 amtierte ein Pfarrer, der als Missbrauchstäter verurteilt wurde. Aus Achtung und Rücksichtnahme vor seinen Opfern haben wir seinen Namen hier getilgt."  (An dieser Stelle möchte ich kurz etwas darauf hinweisen, dass der Begriff "Opfer" umstritten ist, wegen der vielschichtigen Bedeutung des Wortes. Ich bitte um Verständnis, dass ich ihn dennoch verwende, da auch die Begriffe "Betroffene" und "Überlebende" gewisse Schwächen haben.)

Rätselhaft, warum nach so vielen Jahren der Name immer noch dort steht, als sei nichts geschehen. Nach wie vor ein Baustein für den Eindruck, die Kirche habe ihre Lektion noch immer nicht gelernt. Es führt kein Weg daran vorbei, sich der Vergangenheit und den Opfern zu stellen. Dabei sollten die Verantwortlichen vermeiden, den Eindruck zu vermitteln, man sei von der Organisation der Täter nun zum Anwalt der Betroffenen mutiert. Der Platz in der Büßerecke bleibt auf absehbare Zeit angemessen. 

Der Umgang mit den Opfern ist nicht leicht, denn die Kirche hat sie über viele Jahrzehnte vergessen, hat versucht sie zum Schweigen zu bringen, unsichtbar zu machen. Manche von ihnen starben nach einem von den Missbrauchserfahrungen zerrütteten Leben, ohne jemals aus dem Mund der Täter oder eines Bischofs ein Wort des Bedauerns oder gar eine ehrliche Bitte um Vergebung gehört zu haben. Sie haben jedes Recht zornig zu sein. Und als Kirchenverantwortliche dürfen wir ihnen den Mund nicht verbieten. Auch wenn es schwer fällt und die Anklage ungerecht erscheinen mag: sie haben jedes Recht, ihre Empörung, ihren Schmerz, ihre Enttäuschung, ja sogar ihren Hass Ausdruck zu verleihen.

Wenn wir als Kirchenverantwortliche merken, dass uns das trifft, wenn wir es ungerecht finden, wenn wir den Impuls spüren, die Institution verteidigen zu wollen, dann sollten wir umso stiller werden und Herz und Ohr öffnen. Und sollte das helfen: auch das Portmonaie. Jeder Euro, der das Leben eines körperlich, geistig und seelisch missbrauchten Menschen leichter macht, ist gut investiertes Geld. Im Übrigen auch, wenn er aus aktuellen Kirchensteuereinnahmen genommen werden muss.

So wie es klingt, sind wir aber in unseren Diskussionen schon wieder über diesen Punkt hinaus. Das Aushalten und geduldig helfen ist einem gewissen Aktivismus gewichen. Bei den Opfern zu stehen, hintern ihnen zu stehen, ihre Geschichten zu hören, das ist schwer. Weit leichter ist es, gleich die Kirche umkrempeln zu wollen mit Reformen à la Maria 2.0 oder mit Restauration à la Maria 1.0 – um die beiden Bewegungen einmal als Synonym für die kirchenpolitischen Lager zu gebrauchen.

Soweit ich mich recht erinnere, war es der Regensburger Bischof Rudolf Voderholzer, der ein Schlagwort in die Diskussion eingebracht hat. Das Schlagwort, das da lautet „der Missbrauch mit dem Missbrauch“. Ich kann eine gewisse Abwehr verstehen, wenn Menschen auftreten und fordern, dass ein Identitätsmarker des Katholischen, das sakramentale zölibatäre Hirtenamt aufgrund der Missbräuche zu reformieren sei, wenn etwas, was mir als Bischof wahrhaft HEILIG ist, grundstürzend verändert werden soll. Es ist verständlich, dass einem das verkehrt vorkommt, dass man vielleicht gar empört ist und die Argumentation als falsch empfindet. Schließlich hat man selbst sein Leben darauf gebaut!Wer in der Diskussion um die richtigen Maßnahmen nicht zuerst das Wohl der Opfer im Auge hat, der missbraucht deren Schicksal für eigene Interessen. Das liegt doch eigentlich klar auf der Hand, oder?

Leider ist „Missbrauch“ ein vielschichtiges Wort, das zahlreiche Tatbestände umfasst. Die Rede vom „Missbrauch mit dem Missbrauch“ setzt allerdings unvergleichliche Dinge gleich. Der sogenannte „liturgische Missbrauch“, die Abänderung eines liturgischen Textes ist nichts gegen das sexuelle Verbrechen an einem Kind. Man darf so etwas nicht sprachlich auf eine Ebene ziehen. Auch unterstellt der Vorwurf des „Missbrauchs mit dem Missbrauch“ dem Gesprächspartner von vornherein Unwahrhaftigkeit und niedere Motive. Ist es etwa ausgeschlossen, dass jene, die wirklich auf der Seite der Opfer stehen, gerade deshalb aus voller Überzeugung und ohne jede Arglist systemische Veränderungen fordern? Selbst wenn die Ursache der Missbrauchstaten nicht im Zölibat allein liegen kann, könnten sie nicht durch die priesterliche Lebensform und die Haltung der Kirche zu Fragen der sexuellen Identität der Priester begünstigt worden sein? Lassen sich die vielen Indizien in diese Richtung so einfach vom Tisch wischen? Kann es sein, dass das zölibatäre Leben im Pfarrhaus eine Anziehungskraft für jene hat, die ihre sexuellen Präferenzen und Bedürfnisse nicht erkunden und erproben konnten und wollten und daher auch nie in Frieden damit leben konnten? Eine vergleichbare These wird mit Blick auf homosexuelle Männer im priesterlichen Dienst gerade unter Kirchentreuen gern vorgetragen. 

Ist möglicherweise das von Papst Benedikt (in seinem jüngsten Text im Klerusblatt) beklagte Verschwinden der besonderen geistlich-priesterlichen Atmosphäre in Priesterseminaren und Kollegien weit mehr ein Ausdruck des grundsätzlichen Problems als ein Teil der Lösung? Könnte die Art und Weise wie die Themen Sexualität und Zölibat in der Formation des Priester bearbeitet wurden und noch werden evtl. ein Risikofaktor sein? Könnten auf diesem Wege Menschen ins Priesteramt gelangen, die sich nicht gründlich und ehrlich mit der eigenen Sexualität auseinandergesetzt und die starken Triebkräfte in ihrem Innersten nicht genügend im Griff haben. Es ist ein Warnzeichen, wenn deutlich wird, dass viele Übergriffigkeiten erst nach über einem Jahrzehnt im Priesteramt stattfanden, in Zeiten einer ersten Lebens- und Berufungskrise. Wie gelänge es, Priester im Blick auf ihren Umgang mit Sexualität und anderen Fragen der Lebensführung gut zu begleiten? 

Auf der anderen Seite betonen die Diskutanten, dass die kirchliche Sexualmoral und das priesterliche Lebensideal jegliche sexuelle Betätigung streng verbieten. Hätten sich die Priester an die gegebenen heiligen Ordnungen gehalten gäbe es heute keine Krise! Hier wird der Weg in einer klaren Verkündigung gesehen. Die Kirche brauche keine Nachbesserungen. Auch diese Argumente haben ja Gewicht. Aber sie finden leider nicht zueinander. Lieber werden im Gerangel um den Zölibat bedeutsame Fakten zurechtgebogen und vom Tisch gewischt. 

Niemand kann bestreiten, dass die Krise der Kirche andauert und kein Silberstreif am Horizont in Sicht ist. Im Gegenteil, es scheint beinahe täglich schlimmer zu werden. Die Missbrauchsfälle gefährden die Glaubwürdigkeit der Institution und erschüttern sie bis auf den Grund. Manch einer hofft schon auf den endgültigen Zusammenbruch der Kirche(n).

Die Heftigkeit der Auseinandersetzungen dieser Tage erklärt sich sicher aus der Dramatik der Situation. Leider werden im Streit die christlichen Tugenden über Bord geworfen und zwar von allen Beteiligten. Manchmal klärt ja ein Gewitter die Fronten und es geht wieder voran. Doch davon scheint weit und breit nichts zu sehen. Die Gewitterzellen haben sich offenbar über der Kirche festgehängt. Auch der Synodale Weg ist heftigst umkämpft. Die Reformer drängen auf Entscheidungen. Die Bewahrer attackieren ihn und drängen die Glaubenskongregation, der Kirche in Deutschland die Spaltung, das Schisma zu attestieren. Man darf gespannt sein, ob die römischen Behörden jenen auf den Leim gehen, die für sich in Anspruch nehmen, die Reinheit der Kirche und deren Einheit wahren zu wollen. Kann es eine Lösung im Sinne Jesu sein, alle rauszuwerfen, die nicht jeden Abschnitt des Katechismus freudig unterschreiben? Kann es eine Lösung sein, die Kirche gesundzuschrumpfen? Das Problem ist, dass man es für die „Neuevangelisierung“ just mit der Kundschaft zu tun bekommt, die man gerade noch vor die Tür gesetzt hat. Wir können uns das Missionsgebiet ja nicht bei Amazon bestellen oder in ferne Länder ausziehen, wo die „edlen Wilden“ das Wort des Evangeliums in ihren Herzen schon lange ersehnten. Und auch eine Kirche, die überaus treu zu Lehramt und Katechismus steht, ist und bleibt eine Kirche der Sünder. Das Übel des geistlichen und des sexuellen Missbrauchs wird bleiben, denn solche Täter (die sich ja ihre eigene Sündhaftigkeit nicht eingestehen können), werden auch da dabei sein und ihre dunklen Seiten sorgfältig verbergen und im Geheimen ausleben.

Wir sind in der Kirche an einem toten Punkt angekommen. Es geht nicht voran. Nirgends. Die widerstreitenden Lager blockieren, was sie angeblich ersehnen: Evangelisierung, gar „Neu-Evangelisierung“. Wer sollte sich für das Wort des Herren interessieren, das eine Horde von „Kesselflickern“ im Streit sich gegenseitig um die Ohren hauen. Wir brauchen eine gänzlich erneuerte Diskussionskultur.

Über ein besonders bedrückendes Beispiel für das Scheitern der bisherigen Dialogkultur stolperte ich in diesen Tagen bei Facebook. Stellvertretend für die Front der „Bewahrer“ trat Martin Lohmann auf, ein langgedienter Publizist, zuletzt verantwortlich für den konservativ-katholischen Fernsehkanal „K-TV“. Der Bonner betont, seit vielen Jahren mit der amtierenden Vizevorsitzenden des ZdK Karin Kortmann befreundet zu sein. In einem „Zwischenruf“ auf seiner facebook-Seite (Ursprünglich wohl bei kath.net) las man etwas über „Gerüchte“ im Kontext der Visitiation im Erzbistum Köln: „Zu den Gerüchten gehört es auch, dass der ZdK-Präsident und seine Stellvertreterin, Thomas Sternberg und Karin Kortmann, reichlich daran interessiert sind, dass vor allem eines nach der Visitation folgt: Woelki muss weg. Ob das stimmen kann? Ob das vorstellbar wäre? Immerhin wäre (auch) das ein Hinweis darauf, dass es nun wirklich nicht um den Missbrauchsskandal und dessen Aufarbeitung geht und ging. Manche Beobachter und Fakten-Kenner hatten das - fast schon unter dem empörten Protest derer, die doch erklärtermaßen nichts als eine Aufklärung wollen - ja schon mehrfach angedeutet und gesagt. Und jetzt kommt für diejenigen, die sich so empört gaben und vermeintlich ausschließlich an der Aufarbeitung interessiert waren, das große „Ertappt“, „Erwischt“?“

Da ist er wieder, der „Knüppel aus dem Sack“, das Wort vom „Missbrauch mit dem Missbrauch“. Hier noch ein weiteres Mal gewendet, denn Lohmanns Fazit lautet: „Ja, es geht darum, diesen (Kardinal Woelki) als Störenfried für den „Suizidalen“ Weg weg zu mobben. Arglist? Falschheit? Missbrauch des Missbrauchs?“

Beim „Gerüchte-Geraune“ im „Zwischenruf“ geht also darum, dass Verantwortungsträgern des Zentralkomitee der Katholiken einen möglichen Rücktritt von Kardinal Woelki begrüßen würden. Die Überzeugung, dass Kardinal Woelki an der Aufgabe der Missbrauchsaufklärung gescheitert ist, ist ja in der Berichterstattung aus Köln häufiger zu hören. Lohmann sieht darin jedoch einen Beleg dafür, dass es in Köln nicht um Aufklärung ginge, sondern das wahre Ziel sei: „Woelki muss weg.“ Nicht wegen des Skandals, sondern weil er dem „Synodalen Weg“ im Wege sei. Sonst macht ja freilich das Name-Dropping der ZdK-Spitze in diesem Kontext auch keinen Sinn. Ist es zynisch, wenn Lohmann seinen Text mit der Frage beschließt, „wie viel Mut es noch gibt zur Ehrlichkeit und zur Fairness“? Es sei längst ein Kampf ausgebrochen zwischen „Gerechtigkeit und Lüge“ und zwischen „wirklicher und katholischer Reform“ und „offensichtlicher antikatholischer Deform“.  

Ist es wirklich notwendig, vor jedem Argument der Gegenseite Unehrlichkeit vorzuwerfen und ihr die Liebe zur Kirche abzusprechen? Kein Wunder, dass sich die so gescholtene Kortmann direkt auf diesen Post zu Wort meldet und bittet: „Lieber Martin, wer Gerüchte schürt ist unredlich und bezweckt Zwist. Behaupte keine Dinge von mir, die Du nicht belegen kannst.“ Dann verteidigt sie den synodalen Weg und betont: „Die Opfer stehen im Mittelpunkt und sind der Auslöser des Synodalen Wegs.“

Martin Lohmann antwortet ihr und der Öffentlichkeit daraufhin doppelt, einmal direkt auf seiner facebook-Seite und später mit einem Interview bei Kath.net. Er gibt sich, leicht ironisch „beruhigt, dass niemand von Euch gegen einen Kardinal vorgeht...“, hält aber dennoch diese Behauptung aufrecht, obwohl er sich so was eigentlich „nicht vorstellen kann“. Ausführlich legt er dar, dass Kardinal Woelki mehr als jeder andere Bischof aufgeklärt habe und dass die Sexuallehre der Kirche eine Schutzfunktion habe, die müsse: „wieder klarer erkannt, verkündet und aus gebotener Verantwortung gelebt werden.“ Es gehe eben nicht um strukturelle Veränderungen wie „Zölibat oder Frauenordination, liebe Karin!“ Denn es gelte „Opfer zu vermeiden, weil sich manche - und jeder einzelne ist einer zu viel - verbrecherisch nicht an das gehalten hat, was die Kirche lehrend anbietet.“

In einem Gespräch mit kath.net legt er nach: „Ich konnte und kann und will mir eigentlich nach wie vor nicht vorstellen, dass zwei von mir so geschätzte Personen wie Thomas Sternberg und Karin Kortmann hinter den Kulissen andere gegen den Kölner Kardinal munitioniert haben sollen. Das wäre nun wirklich schäbig – und letztlich auch verräterisch. Insofern bin ich angesichts der Reaktion von Karin Kortmann schon ein wenig verwundert.“

Lohmann betont, wie sehr er Karin Kortmann schätze, mit der er seit Jahrzehnten eine echte Streitkultur pflege. „Mit Fairness, mit Respekt, mit Wertschätzung.“

Er deutet dann deren Bemerkung, er solle nichts schreiben, was er nicht belegen könne in der Weise, dass diese Wortmeldung ja kein Dementi sei. „Was, wenn es eben – leider – kein Gerücht oder mehr als „nur“ ein „Gerücht“ ist?“ Auf die Nachfrage, ob er mehr wisse verweist er dann aber auf vertrauliche Quellen, die er zu schützen habe. Doch unter dem Strich fühlt sich Lohmann bestätigt: „Der Missbrauchsskandal und damit die Opfer werden genutzt für „strukturelle Veränderungen“ der Kirche.“

Dem folgt eine Reihe bekannter Vorwürfe gegenüber dem ZdK und abschließend fordert Martin Lohmann von diesem schlicht: „Dialog. Respekt. Toleranz. Miteinander. Christusförmigkeit. Bekenntnisbereitschaft. Empathie. Lebensschutz. Wir alle müssen neu lernen, das Verbindende zu suchen und Widerspruch auszuhalten. Ich behaupte nach wie vor, dass wir besser und enger zusammenwachsen, wenn wir uns besser und enger im Sinne der Geistführung, die ja nichts Beliebiges darstellt, am Gottessohn orientieren, ihm näher kommen und ihm treu folgen. Freiheit und Wahrheit haben einen Namen: Jesus Christus.“

Kurz gestreift werden noch „böswillige Cancel Culture“ und „Kontaktschuld“.

Es müsse: „wirklich alles getan werden, um den Opfern dieser schrecklichen Verbrechen derer, die sich an keine Regeln der Verantwortung und der Moral gehalten haben, zu helfen, sie zu schützen und die Täter zu bestrafen. Da gibt es für mich keinen Zweifel. Aber es muss eben, weil man nicht kurzsichtig und geblendet sein darf, auch alles getan werden, um künftige Opfer zu vermeiden. Da helfen dann nur Klarheit und Ordnung, nicht zuletzt gelehrte und gelernte Enthaltsamkeit, was zugegebenermaßen in einer sexualisierten Welt, die etwas ganz anderes laut und bunt predigt, nicht einfach ist.“

Das Interview schließt mit „Ich bin und bleibe ein Anhänger des Dialogs und der Fairness.“ „Ach ja, was mir noch wichtig ist: Ich freue mich auf das nächste Gespräch, die nächste Begegnung mit Karin Kortmann – in alter Freundschaft.“

Ich habe mir das dreimal durchgelesen und frage mich: muss das sein? Offenbar kennen sich die beiden Protagonisten seit Jahren. Aber wenn ich jemanden so schätze, wie ich das behaupte – warum rufe ich nicht an und frage: Was ist da dran, Karin? Und spiele nicht ein solches Spielchen mit ihr... Was mich betrifft, so wäre eine solche Freundschaft spätestens mit dem Schlusssatz des kath.net – Interviews beendet. Offenheit, Gradlinigkeit und Ehrlichkeit sind für mich Basis echter Freundschaft. Man kann nicht von Fairness reden und eine Freundin ohne wirklichen Erkenntnisgewinn öffentlich in die Pfanne hauen. Diese Gesprächs-Unkultur erscheint mir symptomatisch für viele Dialoge im Raum der Kirche. Dass sie inzwischen sogar Freundschaften dominiert und beschädigt macht mir ernsthaft Sorgen.

Warum ich das hier so ausführlich ventiliere? Weil es etwas ist, was ich inzwischen auch zunehmend erlebe. Ich komme aus einer klassischen lebendigen Kleinstadt-Volkskirche. Wir hatten einige sehr konservative Pastöre. Ich habe die Diskussionen mit ihnen immer genossen. Und auch später viele Kontakte mit Menschen gepflegt, die ihre christliche Berufung sehr ernst nehmen und traditionell kirchliche Formen und Inhalte vertraten. Die Tradition der Kirche ist reich, interessant, vielfältig und tief spirituell. Wir dürfen sie keineswegs über Bord werfen. Aber sie braucht auch Lebendigkeit und eine Verwurzelung im gesellschaftlichen Leben. Inzwischen wird man allerdings als Gesprächspartner sofort taxiert und in Schubladen einsortiert. Die Bereitschaft, Dialoge außerhalb der eigenen Bubble zu führen ist gering. Man bemüht sich nicht einmal mehr um Verständnis für die Argumente und Positionen der Anderen. Und gerade das war mir immer wichtig. Ich finde es spannend zu erfahren, was Menschen bewegt, die sich der außerordentlichen Form der Hl. Messe zuwenden oder sich zum Leben in einem Kartäuserkloster berufen fühlen. Deshalb muss ich weder Kartäuser werden noch regelmäßig zur Messe der Petrusbruderschaft fahren.

Die Fronten scheinen unüberbrückbar. Während die Einen die Lösung in einer Festigung der bestehenden Strukturen und energischer Verteidigung der Lehre sehen, erhoffen die Anderen die Erlösung durch die Veränderung der Strukturen und Weiterentwicklung oder Veränderung der Lehre.

Natürlich ist es grundfalsch, die Opfer sexuellen Missbrauchs heranzuziehen, wenn man sie als Hebel gebraucht, um gewisse Forderungen umzusetzen. Im Umgang mit ihnen sollte man ehrlich und wahrhaftig bleiben und ihr Schicksal keineswegs verzwecken. Aber es ist nicht weniger falsch die Gegenposition mit seinem Engagement für die Opfer zu begründen, die bei „echten und kirchentreuen Priestern“ nicht Opfer geworden wären. Denn es waren auch hochgelobte kirchentreue Priester unter den Tätern und Missbrauchern. Es ist sehr einfach zu sagen: „Weil dieser Mann übergriffig war, weil er zum Täter und Verbrecher wurde, haben wir als die helle und gute Seite der Kirche damit nichts zu tun.“ Ich verweise da mal auf die hoch gepriesenen neuen geistlichen Bewegungen, bei denen sich manche Lichtgestalt inzwischen als Dunkelmann entpuppte. Und dennoch verteidigt noch heute Mancher einzelne Täter, weil sie doch so fromm und so treu waren. Da müssen die Anklagen der Opfer unwahr sein.

Nein, die Verbrechen geschahen im Herzen der Kirche, auch durch Täter die als vorbildliche Priester galten und von ihrem Umfeld gegen jeden Verdacht verteidigt wurden. Der Missbrauch ist ein Krebsgeschwür und seine Therapie ist nicht einfach.

Mein Eindruck ist: Die normalen Gläubigen schauen relativ verstört und irritiert auf den immer schärferen Ton. Und wenden sich ab. Die relative Erfolglosigkeit öffentlicher Aktionen des einen oder anderen Lagers spricht da Bände. Gegen Kardinal Woelki demonstriert ein überschaubarer Kreis von 200 – 300 Leuten, für ein „Dubium“, das ein Schisma feststellen lassen will, interessieren sich bei Facebook nicht mal 200 Leute. Und das trotz engagierter Öffentlichkeitsarbeit. Für die breite Öffentlichkeit bietet die Kirche das Bild einer zerstrittenen Organisation, die ihre Probleme und Unglaubwürdigkeiten nicht in den Griff bekommt und deren Wortmeldungen man keinerlei Bedeutung mehr zuschreiben sollte. Nur ihre Finanzkraft und Gestaltungsmacht in Deutschland bremst ihren Weg in die gesellschaftliche Bedeutungslosigkeit noch ab. Der Stempel "Missbrauch" klebt so fest an der Kirche, dass die Details der Aufarbeitung und all die Bemühungen um Prävention und Wandel die Mehrheit der Deutschen kaum mehr erreichen.

Allein diese Beobachtung sollte die Kampfhähne wieder zusammen bringen. Zumal – weil sie doch im Grunde (wenn auch mit teils gegensätzlichen Mitteln), ein gemeinsames Ziel verfolgen, das man getrost „Evangelisierung“ nennen darf. Alle wollen doch, dass die Botschaft des Evangeliums weiter gesagt wird, dass die Gesellschaft zutiefst human bleibt und immer mehr wird, dass der Glaube in Gemeinden, Kirchen, Orden und geistlichen Gruppen und Gemeinschaften gelebt wird. Sollte es da nicht möglich sein, wieder mehr zusammenzurücken und in einem ersten Schritt eine halbwegs versöhnte Gemeinschaft in Vielfalt zu werden. Ich weiß, wie schwer das jenen fällt, die „die Sache Gottes“ zu ihrer Sache gemacht haben und die glauben, das Heiligste gegen Profanierung zu beschützen. Und wie schwer das aber auch jenen fällt, die unter den Schwächen und Verbrechen der real existierenden Kirche zu leiden hatten und sich eine ganz andere Kirche wünschen. Bringt die unterschiedliche Sicht auf die Bedeutung eines Segens für ein lesbisches Paar wirklich das Evangelium um seine Kraft? Oder besorgt dies weit mehr der verbissene Streit darum?

Ich fürchte, mit der Stärkung der Disziplin allein ist das Problem für die Kirche nicht gelöst. Natürlich braucht es Regeln, an die sich alle halten müssen. Gerade in der Missbrauchsprävention werden die allgemeinen Regeln oft in einen konkreten Verhaltenskodex übersetzt, Regeln, die auch unbeabsichtigte Grenzüberschreitungen verhindern sollen. Aber es gibt systemische Umstände, die Missbrauch begünstigt haben und die muss man in den Blick nehmen. Und warum sollte man in einer guten Diskussion nicht bewahren, was gut ist und sich von dem verabschieden, was Opfer produziert hat?

Es gibt nur einen Weg, Dialog und Vergebung, Vergebung und Dialog. Wir müssen raus aus den ideologischen Gräben und aufeinander zugehen. Wir müssen neu auf das Evangelium hören und offen sein, dass es uns verändern, ja wandeln kann. Wir müssen die Vorwürfe beiseite legen und die politischen und rhetorischen Tricks und Winkelzüge lassen. Wir müssen aufhören, die einen als Traditionalisten zu verunglimpfen und die anderen als Revoluzzer. Der andere ist und bleibt mein Bruder, die andere meine Schwester und idealerweise auch dann mein Freund, wenn wir unterschiedlicher Meinung sind.

Ut unum sint - „dass sie eins seien“. Dieser Auftrag des Hl. Johannes Paul II. bedeutet nicht, dass wir eine Schablone entwickeln, nach der die Einen der Einheit würdig sind und die Anderen draußen bleiben oder ins Schisma zu gehen haben. Einheit bedeutet Dialog, Liebe und Vergebungsbereitschaft. Ein anstrengender aber auch ein schöner Weg.

Wie auch immer wir ihn konkret gehen: wir nehmen die Schuld der Vergangenheit mit und wir gehen ihn in Verantwortung für jene, die im Raum der Kirche niederen Gelüsten und hehren Überzeugungen geopfert wurden und die unter ihr gelitten haben. Ihnen dürfen wir nie wieder den Rücken zukehren. Sie erinnern uns an die Verantwortung, die Zahl der Opfer in Gegenwart und Zukunft nicht noch zu erhöhen. Wir müssen wachsam sein und bleiben. Und letztlich auch demütig!