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Sensation! Skandal! Jahrhundertereignis! Der Papst hat ein Interview gegeben. „Historisch“ nennt es die Bildzeitung. „Sensation ohne Abstriche“ kommentierte Stefan von Kempis von Radio Vatikan. In der Tat ist es etwas Besonderes und nicht ohne Risiko, sich auf ein Interview einzulassen. Zahllose Politiker haben das schon erlebt, kommt doch ein Interview einem echten Gespräch, einem Dialog (!) nahe - anders als eine Predigt, ein Statement oder einer Enzyklika (wo Nachfragen meist nicht erlaubt sind). Aber auch vor Franziskus hat es schon Papst-Interviews gegeben, schon sein Vorgänger hat diese Form des Dialogs beherrscht; man denke nur an das im Fernsehen gesendete Interview mit Papst Benedikt vor dessen Besuch in Bayern im Sommer 2006. Er habe „starke Vorbehalte gegen die Kommunikationsstrategie von Papst Franziskus“ ließ sich aus Rom Professor Roberto de Mattei vernehmen; eine Bemerkung die einige kirchliche Kreise gern auch in Deutschland verbreiteten.
„Wir sind Kirche“ dagegen zeigt sich sehr zufrieden mit dem Papst: „Es geht Franziskus um eine arme und dienende Kirche, um eine Kirche, die sich den Menschen zuwendet, eine Kirche, die die befreiende Botschaft von Jesus, dem Christus, in den Mittelpunkt stellt und sich nicht in erster Linie als moralische Instanz versteht.“ So heißt es in einer aktuellen Botschaft der „kritischen Katholiken“.
Auch die deutsche Presse ist angetan. Für die Tagesschau berichtet Tilman Kleinjung über „Neue Töne aus Rom“ und stellt fest: „In einem Interview fordert Papst Franziskus von der katholischen Kirche mehr Barmherzigkeit und weniger Diskussionen um Sexualmoral und Abtreibung. Auch im Verhältnis zu Fragen um Homosexualität und Frauenrechte deuten sich Änderungen an.“ Im Grunde ist das die Quintessenz, die den Blätterwald einmal kurz aufrauschen ließ, ob SPIEGEL oder Süddeutsche, ob FAZ oder Zeit, sie alle betonten diese Aspekte des langen Gesprächs mit dem Hl. Vater. Vermutlich war es das dann auch erst mal!
Ganz anders der „kirchliche Untergrund“:
Das „schreckliche Interview“ des Papstes, so nennt es die Piusbruderschaft in einem namentlich nicht gezeichneten Artikel. „Schrecklich“, sei es, weil „Modernisten und Progressisten“ nun „Morgenluft gewittert“ hätten und „ihre Forderungen zur Vernichtung aller katholischen Restbestände in der Kirche“ wiederholen würden.
Der Schreiber des viel gelesenen traditionalistischen Blogs „Rorate Cæli“ bemerkt ziemlich süffisant und wenig ehrfürchtig: „Bei so viel Aufmerksamkeit, die das heute veröffentliche Interview von Papst Franziskus findet, dachten wir, wir würden vor allem 10 der 12.000 Wörter davon teilen: „Wenn man zuviel sagt, läuft man Gefahr, mißverstanden zu werden.“
In einem anderen ultrakonservativen Forum berichtet Giuseppe Nardi folgendes aus einem Telefonat mit einem Freund: „Nun hörte ich diesen Mann, der mir in vielen entscheidenden Momenten durch seinen unerschütterlichen, kindlichen Glauben ein Vorbild war, am anderen Ende des Telefons weinen. Er weinte über den Papst. Er weinte über seinen Papst, meinen Papst.“ Der ganze Text zerfließt vor Tränen und in seiner Betroffenheit lässt sich Nardi zu folgendem Satz hinreißen: „Dieser Papst hat wirklich getan, was schon seit seiner Wahl in der Luft lag, was viele befürchtet haben: Er hat den Rubikon überschritten.“
Das (allgemeine) Lamento beschäftigt sich mit der Mahnung des Papstes, dass die kirchliche Verkündigung mehr ist, als das, was gemeinhin öffentlich wahrgenommen wird, dass sie ein kunstvolles Zusammenspiel ist von zutiefst menschenfreundlichen Gedanken und Lehren. Angesichts dessen solle man nicht so tun, als ginge es der Kirche einzig um die Themen Abtreibung, Verhütung und Homo-Ehe ... Nicht nur Nardi und sein Freund verdrehen die Absicht der päpstlichen Aussagen und versteigen sich zu einem totalen Verriss der päpstlichen Worte und zu einer Ablehnung des Papstes selbst. Der tränenreiche Text macht deutlich, dass das Interview des Hl. Vaters in den ultrakonservativen Kreisen der Kirche so etwas wie ein Wendepunkt ist. Verhielt man sich bisher noch meist abwartend kritisch, so wendet man sich nun deutlich gegen Franziskus. Es war schon seit längerem zu beobachten! Die „kritische Linie“ im Spektrum der kath. Kirche hat sich durch Franziskus verschoben. Die Ränder nehmen mehr Abstand zur Mitte, zum Zentrum, zu Rom.
Dabei ist es bis heute noch schwer zu sagen, wo dieser „Sohn der Kirche“ kirchenpolitisch eigentlich genau zu verorten ist. Große Reformabsichten sind noch nicht zu erkennen und von einem tiefgreifenden Umbau der Kurie ist nichts zu sehen. Eine gewisse Personalrochade, aber wichtige Leute bleiben auf ihren Posten. Eine Reform an Haupt und Gliedern sähe sicher anders aus.
Allerdings geht aus dem Papstinterview eine bemerkenswerte Akzentverschiebung hervor. Hier kommt mir ein bekanntes Wort des Hl. Paulus aus dem Korintherbrief in den Sinn: „Wir wollen ja nicht Herren über euren Glauben sein, sondern wir sind Helfer zu eurer Freude; denn im Glauben seid ihr fest verwurzelt.“ Was der Hl. Vater im Interview sagt, klingt denn auch weniger nach „Roma locuta – causa finita“. „Die römischen Dikasterien ... sind Einrichtungen des Dienstes.“
Für Kreise, die jeden missliebigen Bischof schnell als „untreu“ brandmarken und stets die römische Zentrale als einzigen Ort der Rechtgläubigkeit schätzen, bringt die neue Wertschätzung der Bischöfe und Bischofskonferenzen und die Rede von der Kollegialität Probleme mit sich. Worauf kann man sich in Zukunft noch berufen, wenn man nicht mehr am eigenen Bischof vorbei agieren kann? Der Papst hängt in diesem Zusammenhang noch einen bemerkenswerten Satz an: „Es ist eindrucksvoll, die Anzeigen wegen Mangel an Rechtgläubigkeit, die in Rom eingehen, zu sehen.“ doch: „Die Fälle werden besser an Ort und Stelle behandelt.“
Da werden die Papst – Exegeten viele Deutungsmöglichkeiten finden. Kritisiert der Papst etwa das „Denuntiantentum“ mit dem heute in der Regel am Ortsbischof vorbei Briefe über theologisch missliebige Priester und Laien direkt an den Nuntius bzw. nach Rom geschickt werden? Oder zeigt er sich im Gegenteil betroffen über den Mangel an Rechtgläubigkeit unter den Vertretern der Kirche. Vielleicht möchte er aber auch nur betonen, dass die kleinen römischen Behörden die schiere Masse dieser Post gar nicht angemessen bewältigen können.
Dass manche Aussagen des Papstes in diesem Interview interpretationsbedürftig sein könnten, das beschreiben gerade die kirchlichen Kreise, die sich gern auf wohl ausformulierte und eindeutige kirchliche Lehre berufen als Problem. Einige stellen schon die Rechtgläubigkeit und den Sinn der Kommunikationsstrategie des Papstes in Frage.
Es hat sich in der Tat viel verändert unter Papst Franziskus. Dennoch gibt es keinerlei Anzeichen für einen Bruch in der Lehre zwischen Benedikt XVI. und Franziskus. Der alte und der amtierende Papst sind sicherlich gerade dabei, das „Miteinander“ etwas auszutarieren. Dabei ergab sich kürzlich eine erstaunliche Parallelität: Während Franziskus einem vehementen Kirchenkritiker einen - sicher von diesem nicht erwarteten - Antwortbrief schreibt, tut Benedikt dies zur gleichen Zeit mit einem anderen Atheisten. Es ist für mich nicht vorstellbar, dass er, der ein Leben im Schweigen und im Gebet angekündigt hat, dies ohne Wissen und Billigung des regierenden Papstes getan hat.
Alle, die den emeritierten Papst in den vergangenen Monaten treffen durften, berichteten, dass es ihm gut gehe und dass er heiter und entpannt wirke. Seine Stimmung sei bestens, erzählte Kardinal Meisner kürzlich und „Der ist so zufrieden!“ Das wäre sicher nicht so, wenn er angesichts des neuen Stils eines Franziskus in großer Sorge um seine Kirche wäre. So erscheint es auch sehr oberflächlich, wenn interessierte Kreise sich an den „Unterschieden“ der beiden Päpste abarbeiten, wie kürzlich besonders peinlich ein Mitglied des ZDK mit Blick auf den Ritus der Fußwaschung.
Natürlich hat der Sohn italienischer Migranten aus Argentinien einen anderen Stil und ein anderes Auftreten als der Sohn eines bayrischen Beamten, der nicht mitten aus der praktischen Seelsorge, sondern mitten aus dem theologischen Lehrbetrieb und der römischen Kurie kam. Es ist gut und richtig, dass jede(r) von ihnen sich als Papst selbst treu geblieben ist. Das macht ihre jeweilige Glaubwürdigkeit aus, die ich weder Papst Benedikt XVI. noch Papst Franziskus absprechen möchte.
Trotzdem, so erscheint es, hat Franziskus die bunte Szenerie kirchlicher Gruppen verändert.
Wenn sich bisher auch die Geister an einem Papst wie Benedikt schieden, so fanden sich selbst unter den Piusbrüdern Leute, die zu seiner Zeit positiv über den Hl. Vater sprachen. Im kirchlichen „Reformlager“ hatte er dagegen weniger Freunde, denn oberflächliche Betrachtungs- und Argumentationsweisen ließ er nicht zu. Die Linie zwischen Zustimmung und Ablehnung lief auf der Skala der Papst- und Kirchentreue solcher Gruppierungen am „rechten Rand“ mitten durch die Piusbruderschaft und am linken Rand irgendwo zwischen den Anhängern von Bischof Genn und denen von Bischof Lehmann. Unter Franziskus haben sich diese Linien verschoben, die Grenze geht heute bei den „Liberalen“ oder „Linken“ wohl irgendwo mitten durch „Wir sind Kirche“ und rechts etwas unregelmäßig um und durch die Franziskaner der Immaculata und die Petrusbruderschaft. Auffällig ist, dass das konservative Spektrum der Kirche ganz ähnlich auf Schlagworte reagiert, wie es auch das liberale Spektrum tut. Komisch, dass sich noch kein Presseartikel daran abarbeitet, dass Franziskus in seinen Predigten ganz unverkrampft vom zerstörerischen Wirken des „Teufels“ spricht, eine Wortwahl, die Benedikt in der Regel vermieden hat. Daher scheint mir, dass es in all diesen Zuordnungen und Solidaritäten auch genauso viel um „Atmosphäre“, um „Eindrücke und Gefühle“ geht als um harte theologische und kirchenpolitische Fakten.
Was Papst Franziskus zur Zeit gelingt ist, den festgefahrenen kirchlichen Diskurs aufzubrechen. Man hat das Gefühl, dass er wirklich aus der Tiefe der Verkündigung Jesu die Akteure in der Kirche aufrütteln möchte. Dafür geht er auch Risiken ein, auch das Risiko von Missverständnissen, wie der eingangs beschriebene weinerliche Dialog zwischen den enttäuschten Lebensschützern eindrucksvoll dokumentiert. Hier zeigt sich, dass es gewissen Kreisen nicht reicht, dass Franziskus sich selbst als treuen „Sohn der Kirche“ betrachtet, der selbstverständlich das Lebensrecht ungeborener Kinder verteidigt. Aber, so meint Franziskus, es braucht einen anderen Blick als die oft sehr focussierte Sicht der Abtreibungsgegner. Es braucht auch einen Blick auf die oft sehr gebrochenen Wirklichkeiten des menschlichen Lebens, auf Versagen und Vergebung, auf Not und Verbrechen. Das relativiert in keiner Weise den Einsatz der Kirche und des Lehramtes für die Heiligkeit des Lebens, aber es weitet gleichzeitig dien Blick auf die umfassende Not des Menschen. Und es heißt eben nicht: wegen der Not der betroffenen Mutter wird plötzlich das Lebensrecht des Kindes weniger wert und „relativiert“ oder gegeneinander aufgerechnet.
In der Konsequenz heißt das, der Christ harrt auch dann an der Seite der Mutter, des ungeborenen und des geborenen Kindes aus, wenn er Wege mitzugehen gezwungen ist, die seine eigenen Überzeugungen nicht ermöglicht hätten. Und ähnlich sieht Franziskus die Aufgabe der Kirche insgesamt. Für ein Weinen über den Papst gibt das Interview also nichts her, eher für ein Weinen über die eigene Haltung in der man sich selbst und seinen eigenen Blickwinkel für wichtiger nimmt als den Blick Gottes, für wichtiger als die vielfältigen Nöte der Menschen und für wichtiger als die Autorität der Lehrverkündigung des amtierenden und rechtmäßigen Papstes.
Das Interview ist in meinen Augen völlig authentisch. Es erinnert sehr an das leider zu wenig beachtete Gespräch (und inzwischen auch auf deutsch vorliegende Buch) mit seinem Freund, dem argentinischen Rabbiner Abraham Skorka.
Zwischen den Zeilen entdeckt man den Menschen Jorge Mario Bergoglio. Wenn der sich als „Sünder“ bekennt, dann wirkt es authentisch, wenn er von seiner Überforderung als 36jähriger Jesuit in Leitungsverantwortung und von seinen Fehlern spricht, dann bekommt man das Gefühl, einem Menschen auf Augenhöhe gegenüber zu stehen. Papst Franziskus begegnet einem nicht als Übermensch.
Zu Benedikt schaute man eher auf. Einem Theologen seines Ranges konnte ich nicht das Wasser reichen. Mit Stauen und innerer Bewegung hörte ich seinen Reden zu, wohl wissend, dass ich zu solchen großen Gedankenbögen und großen theologischen Würfen nie in der Lage sein würde.
Ich denke, das ist ein Erklärung für das „Phänomen Franziskus“, das noch verstärkt wird durch seine sehr persönlichen Gesten und der sehr persönlichen Art in der er selbst inmitten einer großen Menschenmasse dem Einzelnen gegenüber tritt.
Wer das Interview des Papstes wirklich würdigen möchte und nicht als Steinbruch für Material zur Unterstützung seiner persönlichen Zustimmung oder Ablehnung dieses Papstes missbraucht, der darf nicht nur einzelne Sätze, nicht nur 10 Worte aus dem Interview herausbrechen, sondern muss alle 12.000 Worte zusammen sehen und möglichst noch im Kontext seiner täglichen Predigten, seiner Bücher und seiner Lehrschreiben.
In gewissen Milieus machte vor Jahren einmal ein geflügeltes Wort die Runde: »Du fragst, was soll ich tun? Und ich sage: Lebe wild und gefährlich, Arthur«. Das schrieb einst Arthur Schnitzler an Arthur Rimbaud. Vielleicht würde der amtierende Papst dieses Wort durchaus unterschreiben. Natürlich nur, wenn man es nicht als Aufforderung zum verantwortungslosen und hedonistischem „in den Tag hinein genießen und sein Leben verschwenden“ betrachtet. Ich verstehe jedenfalls seine Aufforderungen „an die Ränder“ zu gehen so; als Kirche auch mal etwas zu riskieren, um des Menschen willen und um der Botschaft Jesu willen. Mein inzwischen verstorbener alter Bischof Reinhard Lettman sagte einmal „Wer möchte, dass alles so bleibt, wie es ist, für den bleibt nichts, wie es ist; es wird weniger.“ Ich denke, das ist es, was der heutige Papst erreichen möchte. Veränderungen, damit der Kern, die Basis, die Botschaft und Verkündigung Jesu lebendig bleibt und die Menschen erreicht. Und wer etwas riskiert, der kann auch verlieren, der kann auch Fehler machen. Aber wer nichts riskiert, der kann nur verlieren. Davon spricht er im Interview in immer neuen Bildern. „Wer heute immer disziplinäre Lösungen sucht, wer in übertriebener Weise die ›Sicherheit‹ in der Lehre sucht, wer verbissen die verlorene Vergangenheit sucht, hat eine statische und rückwärtsgewandte Vision.“ ... "Ich habe eine dogmatische Sicherheit: Gott ist im Leben jeder Person. Gott ist im Leben jedes Menschen.“ und „Man muss auf Gott vertrauen.“
Mir kommt der Pfingstbericht in den Sinn. Der heilige Geist macht den Jüngern, die ängstlich hinter verschlossenen Türen theologische Probleme diskutieren „Beine“, er treibt sie nach draußen auf die Straße. Dort verkünden sie in vielen Sprachen Gottes große Taten. Und sie tun das mit großem Risiko. Und prompt stehen welche da und tönen: „Sie sind betrunken!“ Es klingt ähnlich wie manche Töne, die heute zu vernehmen sind, wenn der Hl. Vater zu uns spricht!
Als Joseph Ratzinger Papst wurde, da meinten manche Kommentatoren: „Dieser Papst ist noch für eine Überraschung gut!“ Ich denke, dieses Wort gilt auch für Papst Franziskus.
Das Interview in "Stimmen der Zeit": http://www.stimmen-der-zeit.de/zeitschrift/online_exklusiv/details_html?k_beitrag=3906412