Montag, 19. Mai 2014

Beten und Bienen, einsam und gemeinsam, Stille und Schafe - zu Gast bei den Söhnen des Hl. Bernhard in Stiepel

Voerde – Duisburg – Oberhausen – Mühlheim – Essen – Hattingen. Es gilt, mit der Bahn das halbe Ruhrgebiet zu durchqueren, um nach Stiepel zu kommen, gelegen zwischen den Bahnhöfen von Bochum und Hattingen, unweit des Flusses Ruhr. Warum man überhaupt nach Stiepel fährt, wo die ganze Ruhrregion viele Highlights bietet? 
Dort liegt eine kleine neogotische Wallfahrtskirche, die den einzigen Marienwallfahrtsort des Ruhrbistums Essen beherbergt. Die Menschen verehren dort das Bild der schmerzhaften Mutter von Stiepel. Und: seit 25 Jahren gibt es dort auch ein Zisterzienserkloster, eine Tochtergründung des bekannten österreichischen Stiftes Heiligenkreuz im Wienerwald. 
In der Bahn kam mir das Wort “Der Weg ist das Ziel!” in den Sinn. Aber “der Weg” hatte erst mal ganz wenig mit dem Ziel zu tun. An der Haltestelle verfolgte ich die Gespräche der Schüler, die alle offensichtlich den Einheitsnahmen “Alter” (oder “Ey Alder!”) trugen und sich über ihre Freizeitgestaltung am Wochenende und die mögliche Zukunft in diesem oder jenem Beruf unterhielten. Eine aggressive, blonde und leicht angetrunkene Frau die mit ihrer ebenso blonden erwachsenen Tochter unterwegs war, zickte die junge, schwarze Mutter an, die mit ihren beiden kleinen Kindern reiste und den schweren Kinderwagen in den Zug wuchtete – weil diese sie wohl einen Augenblick zu lange angesehen hatte. Viele Mitreisende fixierten die Bildschirme ihrer Smartphones und andere nahmen einen tiefen Schluck aus der Bierflasche. Kurz vor Hattingen wurde der Blick frei auf ein idyllisches Ruhrtal. Am Zielbahnhof dann die weite und bunte Welt des Konsums, ein neu gebautes Einkaufszentrum mit Saturn und DM, Modeläden und Geschäften aller Art: Echte Kontraste!

Ich stieg in den Schnellbus, der mich zügig in die Nähe des Zielortes brachte. Nach Monaten erzwungener Zurückgezogenheit (wegen meiner Krebserkrankung soll ich Menschen eher meiden, um mich keinen Infektionen auszusetzen) in unserem Haus war ich wieder unter Menschen, im Bus, im Zug, an den Haltestellen. An der Haltestelle zeigte mir der grüne Dachreiter den Weg. Oben auf einem sanften Höhenzug hatten die Menschen im Jahre 1914/15 die neue Stiepeler Wallfahrtskirche vollendet, die das Gnadenbild aufnehmen sollte, das schon seit Jahrhunderten in Stiepel, zuvor aber in der über tausendjährigen Dorfkirche verehrt wurde. Das eigentliche Gnadenbild ging verloren und Anfang des 15. Jahrhunderts entstand ein neues “Vesperbild”, das bis heute das Ziel der Wallfahrer ist. Die Reformation hat das Gnadenbild der schmerzhaften Mutter von Stiepel “vertrieben”, um seinen Verbleib ranken sich einige schöne Legenden. So soll man es in die Ruhr geworfen haben, doch auf wunderbare Weise entging es allen Versuchen, es zu zerstören. Mehr darüber liest man hier: www.sagenhaftes-ruhrgebiet.de/Das_Gnadenbild_der_alten_Stiepeler_Dorfkirche.

1920 wurde das bis 1908 verschollen geglaubte Gnadenbild in feierlicher Prozession von Blankenstein nach Stiepel in die neu erbaute Wallfahrtskirche geleitet und in der Folge lebte die Stiepeler Wallfahrt wieder auf. Der erste Bischof des neu gegründeten Ruhrbistums Essen, Kardinal Franz Hengsbach wünschte sich eine lebendigere Wallfahrtstradition in seinem - an besonderen religiösen Orten eher armen - Bistum. Die Ansiedlung von Ordensgemeinschaften und die Errichtung neuer Klöster war ihm daher ein wichtiges Anliegen. Mit einer benediktinischen Gemeinschaft wollte er an die Tradition der 1803 aufgehobenen Benediktinerabtei im nahen Essen-Werden anknüpfen. Gleichzeitig sollte das Kloster die Pfarr- und Wallfahrtsseelsorge am Ort übernehmen. Nach jahrelangem Drängen kamen die Zisterzienser aus Heiligenkreuz seinem Wunsch entgegen. 1988 wurde mit der Entsendung der ersten vier Mönche in Stiepel ein Priorat errichtet.

Heute leben hier vierzehn Mönche unter ihrem Prior, Pater Pirmin Holzschuh, einige von Ihnen stammen aus Österreich, andere wiederum aus Deutschland, sogar ein “Ostfriese” ist darunter. Das Kloster Stiepel wurde eine “Erfolgsgeschichte”, die in diesem Jahr ihren 25. Geburtstag feiert. 

Zisterzienser – ein seltsamer Name für einen Orden. Es wäre für viele meine Reisegefährten aus der S-Bahn wohl eher ein Wort aus einem fernen Land oder einer fernen Vergangenheit als ein Teil ihrer Heimat. In der Tat hat man zunächst das Gefühl, die Welten zu wechseln, wenn man den Hof des Klosters betritt. Die neu errichteten Klostergebäude säumen den weiten Hof. Im Obergeschoss eines privat bewirtschafteten Gasthofs befinden sich die Räume der Pfarrei, die ebenfalls von den Ordensleuten betreut wird. Zisterzienser sind im Norden Deutschlands eine seltene Erscheinung. Außer in Stiepel gibt es noch eine Abtei in Langwaden bei Grevenbroich und die Abtei Himmerod in der Eifel. Zisterzienserinnenklöster finden sich im Süden und im Osten Deutschlands (z.B. das bekannte Kloster Helfta). Das hat auch damit zu tun, dass die kontemplativen Klöster der Zisterzienser unter der Regentschaft Napoleons durch die Säkularisation aufgehoben und enteignet wurden. In Österreich konnten sie einige ihrer Abteien bewahren, weil sie die rein kontemplative Ausrichtung aufgaben und sich unter dem Druck des Josephinismus teilweise der Pfarrseelsorge widmeten. Das Stift Heiligenkreuz ist seit seiner Gründung im Jahre 1133 ununterbrochen von den Zisterziensern besiedelt und damit das älteste Kloster Österreichs. Eine Kopie der wunderschönen Kreuzikone, die in der Heiligekreuzer Kirche hängt, befindet sich heute auch in der Stiepeler Wallfahrtskirche. 

Die Zisterzienser gehören – mit den Trappisten – zur benediktinischen Ordensfamilie. Immer wieder neig(t)en Ordensleute oder ganze Klöster dazu, nach einer gewissen Zeit von den ursprünglichen Ordensidealen abzuweichen und es sich einigermaßen bequem im Kloster einzurichten, zumal wenn sie wirtschaftlich erfolgreich waren. Aber immer wieder gab es auch “Gegenbewegungen”, Menschen, die das ursprüngliche Ordensideal wieder freilegen wollten. 

Zu diesen Persönlichkeiten zählte im 11. Jahrhundert Robert von Molesme, damals Abt im gleichnamigen Benediktinerkloster, das er selbst begründet hatte. Doch schon nach einigen Jahren ließ der Eifer der Mönche nach. Daraufhin verließ der Abt mit einer Anzahl gleichgesinnter Mönche sein Kloster und gründete in Citeaux, in einer einsamen, verlassenen Gegend ein neues Kloster. Das erinnert sehr an den Bericht von der Gründung des Kartäuserordens durch den Hl. Bruno von Köln – ebenfalls in dieser Zeit. Eine große Sehnsucht nach Ursprünglichkeit und eine Rückbesinnung auf die alten Traditionen des Mönchtums hatte viele Mönche erfasst. Aber während Bruno einen starken Akzent auf das Leben als Eremiten legte, wollte Robert unmittelbar aus dem ursprünglichen Geist der Benediktsregel leben. Papst Urban II. (ein Schüler des Hl. Bruno) sorgte allerdings dafür, dass Robert wieder nach Molesme zurückkehren musste, um sein dort begonnenes Werk auch zu vollenden. Die Benediktiner von Citeaux (das Mutterkloster gab später dem ganzen Orden den Namen, Citeaux heißt Zisterze/Zisterne) wählte sich daher mit Alberich einen neuen Abt, der die Gemeinschaft im Geiste Roberts weiter führte. Kurz nach der Jahrhundertwende wurde dann der Engländer Stephan Harding zum neuen Abt gewählt. Dieser gab der Gemeinschaft mit der “Carta Caritatis” eine eigene Verfassung.

In eben dieses Kloster trat 1112 der Hl. Bernhard von Clairvaux mit zahlreichen Gefährten ein. Bernhard, ein charismatischer Mensch und mitreißender Prediger gibt dem neu-alten Zweig des Benediktinerordens den notwendigen Auftrieb. Schon 1115 gründete man eine dritte Tochterabtei in Clairvaux. In diesem Kloster wird Bernhard Abt. Fünf Jahre später entstand der weibliche Zweig des Ordens.

Der Zisterzienserorden zeichnete sich durch einige organisatorische Aspekte aus, die zu seinem enormen Erfolg beitrugen. Eine Abtei blieb immer der “Mutterabtei” verbunden, von der aus sie begründet wurde. Der Abt der Mutterabtei sorgte mit dafür, dass in der Tochterabtei das klösterliche Leben den Idealen der Zisterzienser entsprach. 
Der Regel des Hl. Benedikt folgend, dass man seinen Lebensunterhalt mit eigener Arbeit verdienen sollte, gab es bei den Zisterziensern keine Bauern, die vom Kloster abhängig waren. Die Mönche siedelten häufig in einsamen Gegenden, wo sie die Landschaft selbst urbar machten. Das brachte die Notwendigkeit mit sich, neben den Priestern, den Patres auch “Konversen” - Laienbrüder aufzunehmen. Diese waren weniger dem Gebet verpflichtet und konnten sich stärker den notwendigen Arbeiten widmen. Aber auch unter den Chormönchen gab und gibt es Laien. 

Nach dem Motto aus der Carta caritatis: “Una caritate, una regula similibusque vivamus moribus - "Wir wollen in einer Liebe, unter einer Regel und nach einheitlichen Bräuchen leben" entwickelten sich einheitliche Bauregeln, Tagesabläufe und Lebensregeln, was zu einer starken Verbundenheit der einzelnen Klöster untereinander und innerhalb des Gesamtordens führte. Die Zisterzienser schufen landwirtschaftliche Musterbetriebe, förderten Obst- und Weinbau, Pferde- und Fischzucht, Bergbau sowie den Wollhandel und trugen auch zur Verbreitung der hochmittelalterlichen Kultur bei. Unter der Orgelbühne in Stiepel hängt eine Bronzeskulptur von Werner Franzen, die die vier Gründer darstellt: Robert von Molesme, Alberich von Citeaux, Stefan Harding und Bernhard von Clairvaux. Auch ein Bronzestandbild dieses Künstlers im Klosterhof zeigt den Hl. Bernhard. Zu seiner Blütezeit – um das Jahr 1300 gab es 1.300 Zisterzienserklöster, in Deutschland bestanden insgesamt 91 Klöster, das erste von ihnen war das niederrheinische Kloster Kamp. Bis ca. 1250 entstanden auch 160 Frauenklöster in ganz Deutschland. 

Interessant ist, dass die Trappisten (benannt nach ihrer Gründungsabtei La Trappe) sich offiziell “Zisterzienser von der strengeren Observanz” nennen. Sie sind also Zisterzienser, die die Ordensregeln noch strenger beachten und daher eine weitere Reformbewegung innerhalb der Zisterzienserfamilie. Dieses Bestreben, die Ordensregeln immer treuer zu befolgen ist bis auf den heutigen Tag zu beobachten. Der Abt von Mariawald (Trappisten) begründete die kürzliche weitere “Reform” seines Klosters auch mit dem Bestreben, zu den strengeren Gebräuchen der Zisterzienser zurückzukehren, die er nach den Reformen des 2. Vatikanischen Konzils mit einigen seiner Mitbrüder als eher zu milde betrachtete. Auch das Mutterkloster der Zisterzienser, Citeaux ist heute von Trappisten besiedelt. 

Die Frage, nach dem rechten Weg eines Ordens hat die Mönche durch die Jahrhunderte immer beschäftigt und war häufig Ausgangspunkt für Neuaufbrüche. Während heute “Reform” eher mit Anpassung einer Organisation an die “neuen Zeiten” verstanden wird, waren die “Reformen” in den großen Orden eher ein “zurück” zu den Anfängen, zur Frische des Evangeliums, zur den Quellen der Ordensgemeinschaft und damit bei den Benediktinern zur Regel des Hl. Benedikt aus dem 6. Jahrhundert. In der Regel ging mit solchen Reformen auch eine gewisse Strenge einher, die Reform wandte sich gegen ein zu luxuriöses, zu weltliches Leben in den Klöstern, die sich in der “feudalen” Vergangenheit oft ähnlich verhielten wie die weltlichen Fürsten. Manches mal schossen die Reformer auch über das Ziel hinaus und überforderten ihre Gefolgsleute, so dass die Reform in sich zusammenbrach. 

Spannend wäre es, vor diesem Horizont einmal auf den Boom der Neugründung von Gemeinschaften und Orden nach der Säkularisation und die der neuen geistlichen Gemeinschaften und Ordensgemeinschaften nach dem 2. Vatikanischen Konzil zu blicken. Interessanterweise finden sich hier auch zahlreiche “Reformideen” die die Ursprünglichkeit des Ordenslebens in den Blick nehmen und gleichzeitig mitten in unserer Zeit wirken möchten. In Stiepel durfte ich zwei sehr junge belgische Ordensleute kennenlernen. Die Gemeischaft von Tiberias (Fraternité de Tibériade) hat sich in einem kleinen belgischen Örtchen gegründet. Die Schwestern (ca. 10) und Brüder (ca. 38) leben dort, in Litauen und im Zaire, orientiert am Hl. Franziskus und – der Name weist darauf hin – gehen auf den Ruf Jesu hin in die Welt und missionieren ... in Erinnerung an Petrus, der auf Jesu Ruf hin das sichere Boot verläßt und über die Oberfläche des Sees von Tiberias auf diesen zugeht. Schwester Benedicte und Schwester Eva-Marie sind aus dem Ort Lavaux-Sainte-Anne in Belgien zu Fuß nach Kevelaer gepilgert. Dort angekommen wurden sie von einem Pfarrer aus Gelsenkirchen abgeholt, wo sie eine geistliche Woche mit der Gemeinde St. Anna gestalteten. Die letzten Tage ihres Aufenthaltes verbrachten sie nun in Stiepel, um selbst körperlich und geistlich wieder aufzutanken. Mehr hierüber: www.tiberiade.de. Die reformatorische Kraft der Ordensleute führt heute zu Neugründungen und ab und an auch zu erstaunlichen Neu-Aufbrüchen in den großen Orden. 

Das Mutterkloster der Stiepeler Zisterzienser, das Stift Heiligenkreuz hat den Ruf, ein eher strenges Kloster zu sein. Und es gilt auch als eine der florierendsten klösterlichen Gemeinschaften in Europa. Ähnlich “erfolgreich” sind zwei Trappistenklöster in Nový Dvůr in Tschechien und dessen Mutterabtei in Frankreich, Sept-Fons, auch sie haben den Ruf, die Ordensregeln besonders “streng” zu befolgen. Dass aber die “Strenge” allein nicht den Erfolg begründet zeigen ebenfalls zahlreiche Beispiele, zu denen ich auch die Abtei Mariawald zähle. Die “Reform” hat bis heute nicht zu einem Aufschwung des Klosters geführt. Offensichtlich gehört zu einer klösterlichen Reform sowohl der Blick in die Vergangenheit, die Orientierung an den lebendigen Quellen, wie auch die Verwurzelung in der Gegenwart und der Ausblick in die Zukunft. Wo dies überzeugend gelingt, wo die Gemeinschaft den einzelnen Mönch in dieser Ausrichtung zu tragen vermag, da “floriert” auch heute noch das Ordensleben. Die beständige Suche und Unruhe prägt das Mönchtum von seinen Anfängen in der syrischen und ägyptischen Wüste an, wie die Beispiele des Hl. Antonius (Einsiedler, später Abt einer Gruppe von Einsiedlern) und des Hl. Pachomius (Abt eines Mönchsklosters in dem die Mönche gemeinschaftlich lebten). Interessanterweise wies uns der koptische Bischof Anba Damian am Dienstag abend (13. Mai) auf diese beiden Ägypter an den Wurzeln des Mönchtums hin und am Donnerstag (am 15. Mai - allerdings nach der zisterziensischen Liturgie, im normalen kath. Heiligenkalender schon am 9. Mai) begingen wir den Gedenktag des Hl. Pachomius, ein Name, der hierzulande wohl kaum Aufmerksamkeit erregt und mit dem selbst ein frommer Katholik wohl wenig verbindet. Aber er war sicher der Vorläufer des Hl. Benedikt, der ja als Begründer des Mönchtums gilt. Die Klostergründung des Hl. Martin von Tours in Frankreich wäre ohne die “Engelsregel” des Hl. Pachomius nicht möglich gewesen. 

Als ich morgens um sechs in der Stiepeler Kirche sitze, hört man nur das Tschilpen der Spatzen und das Rascheln der Gewänder der einziehenden Mönche. Der Tag ist noch frisch! Während des Gebets stimmen nach und nach weitere Vogelstimmen in den gregorianischen Choral mit ein. Ein guter Start in den Tag. 

Zu den klassischen Vorgaben der Regel Benedikts gehört das Gebet: (ora, lege et labora). Die Gebetszeiten sind Vigil (Nachtwache), Laudes (Morgengebet), Terz (zur “Morgenmitte), Sext (zur Mittagszeit), Non (zum Nachmittagsanfang), Vesper (zum Abend) und Komplet (zur Nacht). Dazu kommt noch die täglichen Messfeiern. Die eher kontemplativen Orden halten diese Gebetszeiten ein. Normalerweise liegen sie in Abständen von jeweils drei Stunden. Auch in den meisten Zisterzienserinnenklöstern wird also z.B. um 6.00 Uhr, um 9.00 Uhr, um 12.00 Uhr, um 15.00 Uhr, um 18.00 Uhr und gegen 20.00 Uhr gebetet, wobei sich die genauen Zeiten aus praktischen Gründen oft um eine halbe oder dreiviertel Stunde verschieben. Die Zeiten orientieren sich an den römischen Tagwachen, zur sechsten Stunde (Sext) ist daher die zweite Wache, zur neunten Stunde (Non), (die Todesstunde Jesu) ist die dritte Wache u.s.w..

Schwierig wird das in einer Gemeinschaft, wie in Stiepel. Einige Mönche sind “immer” da, einer ist Pfarrer, einer Wallfahrtsrektor, mindestens einer studiert, andere kümmern sich um Gäste und andere Aktivitäten, so gibt es z.B. Schafe im Klostergarten und Bienen. Auch in Stiepel ist es so, dass die Mönche ihren Unterhalt und den des Klosters selbst zu erarbeiten bzw. durch Spenden zu bestreiten haben. Es gibt vor allem fünf Tätigkeiten, die für die Zisterziensermönche weltweit aber auch in Stiepel charakteristisch sind: Seelsorgedienst, Jugenderziehung, handwerkliche Arbeit, Gästebetreuung, kulturelle und wissenschaftliche Aufgaben. In Stiepel bedienen sie sich wegen der Gebetszeiten daher eines kleinen “Tricks”: Es werden einzelne Gebete zusammen gelegt. Daher ist die Gebetsordnung in diesem Kloster so: 6.00 Uhr Vigil, Laudes, Terz, anschl. Konventsmesse und Frühstück; 12.30 Uhr Sext und Non, anschl. Mittagessen, 18.00 Uhr Vesper und 19.30 Uhr Komplet. Auf diese Weise können möglichst viele Mönche an den gemeinsamen Gebeten teilnehmen, ohne ihre jeweilige Arbeit am Morgen oder Mittag sehr häufig durch Gebetszeiten zu unterbrechen. 

Nach den Worten des Hl. Benedikt soll “dem Gottesdienst nichts vorgezogen werden” (RB Kap. 43). In den aktuellen Klosternachrichten findet sich ein interessanter Hinweis, den ich gern zitiere: “Immer wieder tragen sich Männer mit dem Gedanken in das Kloster einzutreten. Manche Bewerber wissen jedoch nicht, dass zur Grundvoraussetzung des monastischen Lebens die Freude am Gebet gehört und halten es daher nicht lange bei uns aus. In Stiepel singen und beten wir täglich zwischen 3 und 3 ½ Stunden. Interessierte müssen vor allem also begeisterte Beter sein, wenn sie zu uns kommen möchten.” Gebetet wird (mit Ausnahme der Vigil) ausnahmslos in lateinischer Sprache. Für ihren gregorianischen Choral ist Stiepel / Heiligenkreuz weithin berühmt. Die Aufnahmen der Mönchsgesänge verkauften sich millionenfach. So ist es eine Freude, dem Chorgebet der Mönche beizuwohnen (selbst wenn man eigentlich kein ausdrücklicher Freund der lateinischen Liturgie ist).

Aufgrund der Bauform der Kirche gab es dort nicht die Möglichkeit, ein klassisches Chorgestühl einzubauen. Man hat daher im Chorraum zwei kleine Seitenkapellen gebaut, wo die Mönche in drei oder vier Reihen hintereinander sitzen. Es wirkt immer etwas sonderbar, wenn die Mönche sich während des Gebetes ab und zu zum “Apsis” bzw. nach Osten wenden. Eine Pilgerin fragte während der Andacht ihren begleitenden Diakon irritiert, warum die Mönche “zur Wand hin” beten würden. Die Irritation verginge, wenn man sich das etwas spezielle Spiepeler Chorgestühl als klassisches Chorgestühl denken würde. Zum Gebet tragen die Mönche besondere Oberwänder aus hellem Stoff (Kukulle) mit sehr weiten Ärmeln und Kapuze. Tagsüber sieht man sie (nur) in den klassischen weiß – schwarzen Zisterziensergewändern (weißes Untergewand (Tunika) mit schwarzem Überwurf (Skapulier) und nie in ziviler Kleidung. 

Anders als die Benediktiner verbinden die Zisterzienser in Stiepel mit ihren Chorgebeten keine ausgeprägte “Choreografie”. Die einzelnen Mönche kommen nach und nach in den Chorraum, es gibt keine gemeinschaftliche feierliche Prozession. Nur der Auszug erfolgt “gemeinsam” in Zweiergruppen. Vermutlich ist das ein Ausdruck der dem Orden eigenen Schlichtheit, die auch das Stiepeler Kloster prägt. So waren bei den frühen Zisterziensern Bilder, auch Darstellungen in Kirchenfenstern verboten – mit Ausnahme einer Darstellung der Gottesmutter Maria, deren Verehrung im Orden so bedeutsam ist, dass alle Zisterzienserklöster der Gottesmutter geweiht sind. Die Fenster im Kloster greifen diesen Aspekt der Einfachheit auf und zeigen ausschließlich Muster und Ornamente. Auch im Kloster selbst gibt es nur spärlich Bilder, alles ist funktional und schlicht - schön. Natürlich wurde die ursprüngliche Strenge des Ordens im Laufe der Jahrhunderte auch hier abgemildert. 

Diese schlichte Einfachheit erlebe ich auch in der Gastfreundschaft der Ordensgemeinschaft. Sie stellen einige Gästezimmer zur Verfügung und nehmen Männer und Frauen auf, die am Gebetsleben des Klosters teilnehmen möchten und Zeit für Stille und Gebet suchen. Ich habe das als sehr unaufdringliche, herzliche Gastfreundschaft erfahren. Den Gästen steht neben einem Zimmer auch der Speiseraum und eine Bibliothek zur Verfügung. Gäste und Mitarbeiter speisen hier zusammen und werden auch vom Gästepater bedient. Wer ein seelsorgliches Gespräch wünscht – findet einen Ansprechpartner – kann aber auch mit sich uns seinen Gedanken allein bleiben. So bildet sich rund um dieses Kloster ein interessantes Netzwerk von Kontakten und Freundschaften, das Menschen weit über die Bistumsgrenzen hinaus zusammenführt und mit Christus verbindet. 

Die Beschreibung des Klosterbaus selbst entnehme ich der Homepage des Klosters (www.kloster-stiepel.de) und ergänze das durch eigene Bilder. “Der moderne Kreuzgang von Stiepel ... ist durch seine Architektur ein Ort der Abgeschiedenheit und gleichzeitigen Offenheit in ebenmäßiger Harmonie: Geschieden vom Lärm der Welt, umschließt das Quadrum einen Raum der Stille, der durch seinen Innenhof nur zum Himmel hin offen ist. Der Blick richtet sich nach oben und überwindet so jegliche Enge. In dieser klassischen Form gestaltet, dient der Kreuzgang der Stille, dem Lesen und Meditieren wie auch der täglichen Prozession der Mönche. Zudem verbindet er alle wesentlichen Gemeinschaftsräume miteinander. Hier wird räumlich fassbar, was den Klosteralltag bestimmt: der gleichmäßige Rhythmus von ora, lege et labora. Immer wieder kreuzen sich diese Wege von Beten, Lesen und Arbeiten und münden schließlich in das eine Ziel, der Suche nach Gott (vgl. RB 58,7). Die Südseite des Kreuzganges ist ... der allabendlichen Lesung gewidmet. Hier sitzen die Mönche auf einer Holzbank, während einer von ihnen das Martyrologium des nächsten Tages vorliest, das heißt die Lebensbeschreibungen der christlichen Märtyrer und Bekenner... . Die sonst kahle Wand wird von einem kunstvollen Kreuz geziert. Es ist ein Geschenk unserer Mutterabtei....”

Der Tag endet für die Mönche mit der Komplet, dem Abendgebet. An der Tür zur Klausur stellt sich der Prior auf mit einem Aspergil in der Hand auf. Jeder Mönch tritt vor ihn hin, verneigt sich und wird mit Weihwasser gesegnet. Erinnerung an die Taufe, an den Ursprung, an die frische Quelle des Evangeliums und der Regel des Hl. Benedikt, die auch hier in Stiepel leise plätschert und die „Durchreisenden“ einlädt, hier zu rasten und Wasser zu schöpfen aus den Quellen des Heils. Mit dieser Segnung beginnt das große Stillschweigen und die Ruhe der Nacht, die bis zur Vigil am frühen Morgen gewahrt bleibt. „Rede, Herr; denn dein Diener hört.“

Wenn du vernünftig bist, erweise dich als 
Schale und nicht als Kanal, der fast gleichzeitig 
empfängt und weiter gibt, während jene 
wartet, bis sie erfüllt ist. Auf diese Weise gibt 
sie das, was bei ihr überfließt, ohne eigenen 
Schaden weiter...

Lerne auch du, nur aus der Fülle auszugießen 
und habe nicht den Wunsch freigiebiger zu sein 
als Gott. Die Schale ahmt die Quelle nach. Erst 
wenn sie mit Wasser gesättigt ist, strömt sie 
zum Fluss, wird zur See. Die Schale schämt sich 
nicht, nicht überströmender zu sein als die 
Quelle...

Ich möchte nicht reich werden, wenn du dabei 
leer wirst. Wenn du nämlich mit dir selbst 
schlecht umgehst, wem bist du dann gut? 
Wenn du kannst, hilf mir aus deiner Fülle, 
wenn nicht, schone dich.

Bernhard von Clairvaux (1090-1153)

Sonntag, 4. Mai 2014

Vier auf einen Streich - Heiligsprechungen in Rom

Es war ein kirchliches Ausnahmeereignis: Noch nie in der Geschichte der Kirche waren zwei Päpste gemeinsam heilig gesprochen worden; noch nie in der Geschichte der Kirche waren ein amtierender Papst und ein emeritierter Papst dabei anwesend. Da ging die Kreativität mit einigen Hobbydesignern am Computer durch, um auf diese Einzigartigkeit hinzuweisen posteten sie Bilder, wie z.B. ein Portrait der vier Päpste in Beatles – Manier auf dem Zebrastreifen vor den Abbey-Road-Studios. Die Feier selbst war eher schlicht und einfach, anders als in der Vergangenheit fehlten darin eher emotionale und dramatische Momente, wie z.B. die feierliche Enthüllung der Heiligenportraits an der Fassade der Peterskirche oder die Verlesung einer Biografie. Die Messe orientierte sich an Texten und Inhalten des “Weißen Sonntag”, die Predigt war kurz und prägnant. Am berührendsten war für mich noch der abschließende Satz der Homilie, die erstaunlich wenig auf Leben und Leistung der neuen Heiligen einging sondern das Tagesevangelium (Thomas und die Wunden Jesu und den “Barmherzigkeitssonntag”) aufgriff: “Mögen beide uns lehren, keinen Anstoß zu nehmen an den Wunden Christi und in das Geheimnis der göttlichen Barmherzigkeit einzudringen, die immer hofft und immer verzeiht, weil sie immer liebt.”

Fürchet euch nicht Heilige des Neuen Jahrtausend zu werden. (Hl. Johannes Paul II.)

“SANTO SUBITO” - die vielen Transparente mit diesem Spruch stachen bei den Trauerfeierlichkeiten für Papst Johannes Paul II. vor beinahe 10 Jahren unmittelbar ins Auge.  “SANTO SUBITO” - sofort heilig, lautete die Forderung der Gläubigen, die durch die Transparente zum Ausdruck kam und die sicher von den weitaus meisten Trauernden auf der Welt genau so unterstützt wurde. Die Maler der Transparente griffen damit also genau die Stimmung auf, die rund um den Petersdom herrschte. Es war selbst aus der Ferne emotional sehr berührend, wie dieser Papst seinen schweren Leidensweg bis zum Ende ging. Man konnte leicht zu der Überzeugung gelangen: Dieser Papst war ein Heiliger. 
Manche Beobachter hielten die Transparente allerdings für eine gut organisierte Kampagne, wofür auch sprechen würde, dass sie sehr professionell wirkten und keineswegs wie in einer Nacht- und Nebelaktion in einer Pilgerherberge gemalt.  

Nun ist – unter anderem – die Verehrung der Gläubigen für einen möglichen Heiligen und der Wunsch nach einer Heiligsprechung einer der Ausgangspunkte für die Aufnahme des Heiligsprechungsprozesses. Bei Johannes Paul II. war es aber nun wirklich eine Heiligsprechung in Rekordzeit, 2005 verstorben, 2011 selig und schon 2014 heilig gesprochen, nicht einmal 10 Jahre nach seinem Tod. Noch im Jahr seines Todes begann der Seligsprechungsprozess, die eigentlich hierfür vorgesehene Wartezeit von fünf Jahren nach dem Tod wurde hierfür eigens von Papst Benedikt XVI. aufgehoben. Auch dies: einmalig! Selbst bei Mutter Theresa wartete man noch fast zwei Jahre ab. 

Es wird auch keinen Heiligen in der ganzen Kirchengeschichte geben, dem zu Lebzeiten so vielen Menschen “persönlich” begegnet sind (wenn das Wort auch etwas übertrieben erscheint) wie Papst Johannes Paul II.; der auf seinen Pastoralreisen von vielen Millionen Menschen “leibhaftig” erlebt werden konnte. Ich durfte ihn drei Mal persönlich sehen, bei seinem Besuch in Münster 1987, wo ich als Mitglied des großen Chores dabei war; im Rahmen eines ökumenischen Gebetes mit dem Papst und Frere Roger Schutz von Taizé zum Jahreswechsel 1987/1988 im Petersdom und bei einer Pilgerreise nach Rom im Jahre 2004, als er von seiner Krankheit schon schwer gezeichnet war. Er war eine Persönlichkeit, die einen in den Bann zog und auch jenseits solcher persönlicher Erfahrungen allgegenwärtig war. Selbst als schwer kranker Mann gelang es ihm, die ganze riesige Audienzhalle in den Bann zu ziehen, mit den sparsamen Gesten und Worten, die ihm damals noch möglich waren. Tief beeindruckend! Nach seinem Tod war ich 2005, 2007 und 2009 wieder in Rom und erlebte, wie viele Menschen noch immer zu seinem Grab unter dem Petersdom pilgerten und dafür in langen Schlangen anstanden.

Es kann hier nicht der Ort sein, die Verdienste, die Leistungen, die Gläubigkeit, die Frömmigkeit, die Heiligkeit dieses Menschen umfassend zu würdigen. Ich lese gerade das Buch “Johannes Paul II., Das faszinierende Leben des beliebtesten Papstes aller Zeiten” von Luigi Accattoli, einem italienischen Journalisten und Autor über das 26jährige Pontifikat und sein Leben. Und ich staune, wie vielseitig, wie hellsichtig und aktuell, ja modern dieser Papst stets war. 

Mich verwundert, wie sehr angesichts einer solchen Lebensleistung noch immer über gewisse und interpretierbare “Kleinigkeiten” diskutiert und gestritten wird. Für Traditionalisten ist es u.a. das interreligiöse Gebetstreffen in Assisi, der Korankuss und eine gewisse Wertschätzung, die der Heilige dem Islam entgegen gebracht hat. Die Vertreter der Gegenseite werfen ihm den Umgang mit den Befreiungstheologen vor und den “erhobenen Zeigefinger” gegenüber Ernesto Cardenal. Andere richten ihn wegen mehr oder minder gelungener Auswahl einiger Bischöfe. Aber es erschreckt, wie schnell Katholiken bereit sind, eine solche vielseitige Lebensleistung auf wenige Sätze einzudampfen, wenn es der Aussageabsicht eines Artikels oder eines schnellen Kommentars dienen soll.

Vielleicht sollte man sein Augenmerk zunächst einmal darauf richten, was “Heiligsprechung” eigentlich ist. Mir sind dabei zwei Aspekte wichtig: Jeder von uns ist zur “Heiligkeit” berufen. Jeder sollte sehen, dass er mit seinem und ihrem persönlichen Leben und Glauben vor Gottes Augen bestehen kann. Jede(r) sollte (warum nicht) nach einem “heroischen Tugendgrad” streben. 
Bei einer offiziellen Heiligsprechung geht es daher unter anderem darum, dass die Kirche mit größtmöglicher Sicherheit annehmen kann, dass dieser Mensch nun bei Gott im Himmel ist, dass sein Leben und sein Glauben, sein Tun und Lassen vor den Augen des gerechten und barmherzigen Gottes Bestand haben. 

Damit verknüpft ist auch das “Wunder”; in der Regel eine wunderbare Heilung, die man der Fürbitte eines bestimmten Heiligen zuschreiben kann. Zunächst einmal zeigt sich darin sicher eine historische Kontinuität, denn schließlich wurden über Jahrhunderte die Heiligen in aussichtslosen oder schwierigen Anliegen um Hilfe und Fürbitte angerufen und es ereigneten sich zahlreiche wunderbare Dinge an ihren Gräbern und Wallfahrtsorten. Ein Wunder ist also in gewisser Weise ein Beleg für die begründete Hoffnung, dass jemand bereits im Himmel ist und von dort her einer Fürbitte oder einem Gebet zur Erhörung verhelfen kann. 

Nun bin ich persönlich sehr fest davon überzeugt, dass auch meine Oma Franziska, die Mutter meines Vaters heute schon im Himmel ist. Sie hat im Krieg ihren Mann verloren und dann in schwieriger Zeit ihre beiden Jungs allein groß gezogen. Sie hat nach dem Krieg nie wieder geheiratet, denn für sie war mein Opa Josef – ihr Mann und er ist es über seinen Tod hinaus geblieben. Unter großen Mühen hat sie ihr Leben gemeistert und auf vieles verzichtet. Zeitlebens war sie von einer tiefen, schlichten Gläubigkeit. Regelmäßig ging sie zum Gottesdienst und war in der Familie stets zur Stelle, wenn sie gebraucht wurde. Ich verdanke ihr sicher ein gutes Stück, dass ich heute ein gläubiger Mensch bin. Ihre schwere Krankheit ertrug sie geduldig und gläubig, sterben konnte sie, als der Kaplan ihr die Sterbesakramente spendete, in Frieden legte sie ihr Leben in Gottes Hand. Wo könnte sie anders sein als im Himmel?

Für mich ist meine Oma in diesem Sinne auch eine Heilige, aber halt eine, die ihr Leben eher im Verborgenen gelebt hat und das ist bei Johannes Paul II. absolut anders. Den größten Teil seines Lebens lebte er in aller Öffentlichkeit, ähnlich wie es Papst Benedikt XVI. bei seinem Rücktritt betont hat, dass man nämlich als Papst sein ganzes Leben zu geben hat, dass es dann keinen privaten Rest mehr gibt, sondern dass man sich ganz in Gottes Hand gibt. Dass Johannes Paul II. heute von zahllosen Menschen verehrt wird, daran kann es ebenfalls keinen Zweifel geben und allein von dieser Tatsache her ist es vollständig gerechtfertigt mit der Heiligsprechung letztlich offiziell nachzuvollziehen, dass es ja schon in aller Welt üblich ist, diesen Hl. Papst zu verehren. Die Seligsprechung bestätigt ja im Grunde die Verehrung eines verstorbenen Menschen in einem bestimmten Land, einer Region, einer Gemeinschaft. Aber das ging ja bei Karol Wojtyła schon zuvor weit über Polen oder Italien hinaus. 

Natürlich mag man kritisch sehen, dass einzelne Gruppen und Gemeinschaften, allen voran der ehemalige Privatsekretär und heutige Erzbischof von Krakau, Stanisław Kardinal Dziwisz so sehr aufs Tempo gedrückt haben und z.B. mit der Verbreitung von “Blutreliquien” bzw. der Veröffentlichung von eher privaten Texten des Hl. Vaters auch gewisse Grenzen überschritten haben. Aber die Tatsache der breiten Verehrung für Papst Johannes Paul II. an sich ist ja überhaupt nicht zu leugnen, auch wenn man hier und da die Beobachtung machen kann, dass sie nach 10 Jahren ein Stück weit schon ihren “Zenit” überschritten hat, selbst in Polen. Aber es ist sicher angemessen zu konstatieren, dass sie noch immer hoch ist, vielleicht höher als bei den vielen, vielen anderen Seligen und Heiligen, die er selbst zur “Ehre der Altäre” erhoben hat. Vermutlich muss man daher diese Heiligsprechung auch in diesem speziellen Kontext sehen. 

"Giovanni, nimm dich nicht so wichtig, du bist ja nur der Papst.” - dieser Ausspruch wird Papst Johannes XXIII. zugeschrieben. Vielleicht sollte man das – trotz der aufgeregten Diskussionen um die Heiligsprechung – auch hier so sehen statt sich in Kleinkrittelei zu ergehen. Fakt ist, der Hl. Johannes Paul II. wird auch in den nächsten Jahren und Jahrzehnten zahlreiche Verehrer finden. In Polen, in Deutschland, in Italien und bei vielen gläubigen Menschen, die sich dankbar an seine Verdienste, seine Worte, seine Taten erinnern. Daher ist Heiligsprechung ja auch in erster Linie die Erlaubnis der Kirche, einen Heiligen als solchen zu verehren. Daher wird ja auch so genau geprüft, ob es Gründe gibt, die dieser Verehrung entgegen stehen oder die letztlich unter den Gläubigen Verunsicherung auslösen würden. Dennoch wird mit der Heiligsprechung nicht jedes Wort und jedes Tun und Lassen des Heiligen “heilig” gesprochen und quasi nachträglich “gut” gemacht. Auch wird mit der Heiligsprechung des Konzilspapstes Johannes XXIII. dem 2. Vatikanischen Konzil kein zusätzliches “Gewicht” gegeben. Ein Heiliger darf auch Schwächen haben – da finden sich in der Geschichte genügend Beispiele. Insofern ist ein Heiliger auch ein Mensch wie Du und ich, manchmal auch ein Sünder, der der Barmherzigkeit Gottes bedarf.

Einige recht "spitze" Kommentatoren stellen die Frage, ob mit der Heiligsprechung zweier Päpste nicht letztlich die Heiligkeit z.B. der Päpste Paul VI., des seligen Piux IX. oder Pius XII. in Frage gestellt würde. Warum heute die Heiligsprechung von Johannes XXIII. und Johannes Paul II. und nicht die dieser drei? Denn es ist doch höchst unwahrscheinlich, dass in der näheren Zukunft noch weitere Heiligsprechungen von Päpsten folgen werden. Diese Überlegung ist nicht ganz falsch, aber sie verschweigt, dass die nunmehr selig gesprochenen Päpste im Kirchenvolk viel stärker in Erinnerung sind und intensiver verehrt werden. Vermutlich kennen nicht einmal die Urheber dieser angespitzten Kommentare selbst zehn Personen, die das Grab von Paul VI. unter dem Petersdom kennen oder am Grab von Pius XII. (die Bilder zeigen die Grabstätten von Johannes Paul I. und Pius dem XI.) um dessen Seligsprechung gebetet haben. Natürlich ist es unzweifelhaft, dass fast alle Päpste – mal mit Ausnahme einiger Gegenpäpste
und Gestalten der finstersten Renaissance - Gottes Gnade und die Aufnahme in den Himmel erfahren haben. Aber es kommt auch darauf an, dass sie mit ihren Taten, ihrer Frömmigkeit und Ihrem Wirken im Bewusstsein und im Gebetsleben der Gläubigen präsent sind. Und da leuchten die beiden nun heilig gesprochen Päpste sicher und vielen anderen hervor. 
Ist in den letzten Jahren noch ein Pfarrzentrum als “Montini-Haus” benannt - oder eine Kirche auf das Patronat Pius IX. oder des X. geweiht worden? Welcher normale Katholik verbindet heute noch viel mehr als “Humanae vitae” und die Auseinandersetzung um die Empfängnisverhütung mit dem Namen von Paul VI.? Dabei wäre seine Enzyklika “Evangelii nuntiandi” sicher eine Relectüre wert. Bei Johannes XXIII. fallen mir dagegen direkt einige Pfarreien ein, die sich den “Friedenspapst” zum Patron gewählt haben.

In einem besonders perfiden Artikel, den ich kürzlich lesen musste, wurde gemutmaßt, dass Franziskus die Heiligsprechung von Johannes Paul II. ganz bewusst mit der des Konzilspapstes Johannes XXIII. verbunden habe. Die Autorin präsentierte darin den Karol Wojtyła als “Reaktionär” gegenüber dem “Reformer” Angelo Roncalli. Und das wird dann als “Journalistischer Mehrwert” verkauft. (www.journal21.ch/rom-bleibt-rom) Interessanterweise vertreten sogar einige konservative Kommentatoren eine ähnliche Position, wenn auch aus anderen Motiven. 

Unstrittig dürfte sein, dass die gemeinsame Heiligsprechung auf den Wunsch von Papst Franziskus zurückgeht. Wohl um dies zu ermöglichen, hat er ausdrücklich auf den Erweis eines weiteren Wunders auf Fürsprache des Hl. Johannes XXIII. verzichtet. Wie man hört wohl eher aus Zeitgründen, da evtl. gemeldete Gebetserhörungen noch nicht abschließend überprüft waren. Man darf annehmen, dass es ihm hierbei aber eher weniger um das oft spekulierte kirchenpolitisches Signal ging (Reformer = Johannes XXIII. + Franziskus und Reaktionär = Johannes Paul II. + Benedikt XVI.), sondern vielmehr darum, der Heiligsprechung von Päpsten nicht noch durch zwei getrennte Feiern doppelt soviel Gewicht und Bedeutung zu geben. Das sollte doch ganz im Interesse vieler Beobachter liegen. 

Die Verkürzung des Wirkens dieser Persönlichkeiten auf die oben beschriebenen (peinlichen) Kurzformeln führt definitiv in die Irre. Schon vom äußeren Auftreten der beiden dürfte dieser Eindruck eigentlich widerlegt werden. Johannes XXIII. verbinde ich mit einem eher barocken Auftreten; mit der Tiara, die erst Paul VI. ablegte; mit der Sedia gestatoria, dem päpstlichen Tragesessel und den Fächern aus Straußenfedern; dem ganzen höfischen Gepräge und dem Pluralis Majestatis. Es war erst Johannes Paul II., der das Papstamt im Grunde neu erfunden, nein neu geprägt hat. Ohne ihn und sein langes Pontifikat wäre die Wahl eines Deutschen wie Benedikt XVI. oder gar des Argentiniers Franziskus undenkbar gewesen. Man sollte nicht vergessen, dass vor ihm über 450 Jahre (seit dem “Holländer” Hadrian) ausschließlich Italiener zu Päpsten gewählt worden waren. Er hat das Papstamt in einer Weise reformiert, die über Jahrhunderte vorher nicht denkbar gewesen wäre. Er hat seine Schritte auf ein weites Feld gelenkt und das sehr eurozentristisch und italienisch geprägte Amt in die ganze Welt hinaus geführt, ja damit die kath. Kirche als Weltkirche ganz neu erschlossen.

Alle Päpste der Geschichte standen vor der Herausforderung, die auseinanderstrebenden Flügel und unterschiedlichen Überzeugungen in der Kirche zusammenzuführen. Das war schon zur Zeit des 1. Vatikanischen Konzils unter Pius IX. so. Dieser Herausforderung hat sich mit dem 2. Vatikanischen Konzil auch Johannes XXIII. gestellt und nach diesem Konzil auch alle seine Nachfolger. Es ging darum, das Kirchenschiff in der Mitte des Traditionsstromes zu halten und ich bin überzeugt, dass keiner der Nachfolger Johannes XXIII. die Reformen des Konzils, die eigentliche Richtung des Konzils umbiegen wollte, allenfalls ging es darum, überbordende Reformschritte abzubremsen, um wieder zum Eigentlichen, zur Mitte, zu Gott zu gelangen. Papst Benedikt sprach daher von einer “Hermeneutik der Kontinuität”. Gerade Johannes Paul II. verdanken wir sehr mutige Schritte auf diesem Weg, man denke nur an seine Begegnungen mit den Vertretern der getrennten Kirchen, des Judentums, der nichtchristlichen Religionen. Man denke an seine aufsehenerregenden Vergebungsbitten für die Fehler und Sünden der (kath.) Christen in der Vergangenheit, seine Reisen, seine Begegnungen mit fremden Kulturen und Menschen, sein Engagement gegen die gottlosen Ideologien in aller Welt. Es gibt in seinen Texten und in seiner Theologie sicher noch manchen Schatz zu heben. 

Nur der sehr oberflächliche Blick auf die beiden – zusammen heilige gesprochenen Päpste – trennt sie voneinander und teilt sie – unangemessen - in “Reformer” und “Reaktionäre” ein, doch sind sie sich näher als man gemeinhin zu sehen bereit ist.  

Natürlich ist die Frage berechtigt und richtig, ob die vielen Heilig- und Seligsprechungen und ob insbesondere die Heiligsprechung von Päpsten nicht auch negative Begleiteffekte hat und zu einer Relativierung dieses besonderen kirchlichen Aktes führt. Es gibt ja seit Benedikt und Franziskus durchaus auch eine spürbare Gegenbewegung hierzu. Aber sie liegt doch ganz auf der Linie der Entdeckung der Weite und Größe der wahrhaft katholischen Weltkirche, wo es eben nicht ausreicht, den Blick auf Persönlichkeiten wie Hildegard von Bingen oder Ambrosius von Mailand oder Cyrillus und Methodius zu richten, sondern es darüber hinaus auch viel Sinn macht auf Karl Lwanga und die 40 Martyrer von Uganda zu schauen oder auf Juan Diego Cuauhtlatoatzin in Mexiko und viele mehr.

Heiliger Pius V. - bitte für uns!
Seliger Papst Innozenz XI. - bitte für uns!
Seliger Papst Pius IX. - bitte für uns!
Heiliger Papst Pius X. - bitte für uns!
Heiliger Papst Johannes XXIII. - bitte für uns!
Heiliger Papst Johannes Paul II. - bitte für uns!