Auf eine bunte und vitale Art anziehend müssen die christlichen Gemeinden auf die Menschen der Antike gewirkt haben, für „Juden und Proselyten, Kreter und Araber…“. Sie alle hörten, wie die Freunde Jesu Gottes große Taten verkündeten. „Seht, wie sie einander lieben…“ heißt es in der Apostelgeschichte über diese Gemeinschaft.
Wie war das möglich? Vermutlich aus der verbindenden Botschaft, der Kraft des Hl. Geistes und der wirksamen Medizin der Vergebung, denn sieben mal siebzig mal möge man seinem Bruder und seiner Schwester vergeben – das hatte Jesus ihnen einst mit auf den Weg gegeben. Da kann man schon den Überblick verlieren, ob der Vorrat an Vergebungsbereitschaft bereits erschöpft ist. Leider ist von der fröhlichen Ausstrahlung von früher aktuell (zumindest in der Öffentlichkeit) wenig geblieben.
„Schlecht sieht er aus“, der Kölner Erzbischof in seiner
neuesten Videobotschaft. Grau ist er geworden beim Versuch, seinen Zuhörern
zu vermitteln, dass ein Verbleib im bischöflichen Amt, seine Weise sei, die Verantwortung
für das Versagen seines Bistums gegenüber den Opfern und im Umgang mit den
Tätern zu übernehmen und zu tragen. Er kommt dabei durchweg wahrhaftig rüber.
Und der Preis ist hoch für ihn, schließlich schwindet bei vielen Verantwortungsträgern
im Bistum das Vertrauen, dass diese Krise von der Bistumsleitung noch zu
meistern ist. Die Signale kommen beileibe nicht nur aus dem Kreis der Reformer.
Wahrhaftig kam auch Reinhard Marx, Kardinal und Erzbischof zu München rüber, als er angesichts desselben Dilemmas dem Hl. Vater seinen Rücktritt anbot, um Verantwortung für das Versagen seiner Vorgänger und für eigene Fehler zu übernehmen. Das war ein Paukenschlag! Denn eine solche Konsequenz kannte man bis dato nur aus der Politik, wo offenbar werdendes Versagen und von der politischen Bühne gehen, oft nur wenige Tage auseinander liegen.
Doch der Papst hat diese Pläne durchkreuzt. „So einfach kommst Du mir nicht davon!“ Reinhard Marx möge „sein Fleisch auf den Grill legen“. Ein ziemlich waghalsiges Bild, das nach Fege- und Höllenfeuer klingt und riecht. Der Münchner Kardinal ist nicht zu beneiden, denn es muss sich jetzt spürbar etwas verändern. Ob er dazu die Kraft hat? Die Herausforderung stellt sich für ihn aber nicht weniger als in Köln und Marx ist noch gar nicht da angekommen, wo Kardinal Woelki heute schon ist, nachdem dessen Veröffentlichung eines soliden Gutachtes von zahlreichen kommunikativen Pannen begleitet war. Die Fehler kann Marx zwar jetzt vermeiden, aber es ist nicht unwahrscheinlich, dass auch das dort erwartete Gutachten wenig erfreulich sein wird, für das Bistum und vermutlich auch für den vormaligen Trierer Bischof höchstselbst.
Die katholische Kirche befindet sich in einer tiefen Krise. Gibt es einen Ausweg? Weder der Verbleib im Amt noch die Flucht in den Vorruhestand scheint Erleichterung zu bringen. Es wird schwer werden und es gibt keine leichte Lösung. Die Missbrauchskrise ist eine Jahrhundertaufgabe, vermutlich die größte Krise nach dem Fiasko der Dogmatisierung der päpstlichen Unfehlbarkeit. Oder möglicherweise gar seit der Reformation Luthers, Calvins und Zwinglis.
Gibt es einen Ausweg? Einen Ausweg wohl nicht, aber einen Weg. Und den hat ausgerechnet der Hl. Papst Johannes Paul II. auf den Punkt gebracht. „Der Mensch ist der Weg der Kirche.“ (Redemptor hominis) Daraus kann sie lernen, dass sie sich ohne jedes Wenn und Aber hinter die Opfer zu stellen muss. Ich habe meine Zweifel ob das allen Verantwortlichen bereits klar ist.
Ein bedrückendes Foto fand ich kürzlich bei Markus Elstner (siehe oben), der als Kind von
einem Priester des Bistums Essen missbraucht wurde. Jener verschwand aus Bottrop und war später in Bayern tätig, in den Gemeinden Garching und Engelsberg. Bei einem Vortrag entdeckte
Elstner kürzlich mit verständlichem Entsetzen auf einer Ehrentafel an der Kirche in Engelsberg den Namen seines
Täters. Ein irritierendes Bild, goldene Lettern auf schwarzem Grund. Der Täter lebt auf Anordnung von Bischof Overbeck heute wieder in Essen. Doch dieser Verbrecher scheint in der Gemeinde noch immer geachtet zu sein.
Möglicherweise ist das rein katholisch-bayrische Ordnungsliebe, denn ein übermalter Name hinterließe eine Lücke auf der Ehrentafel, als sei in diesen Jahren kein Pfarrer dort gewesen. Aber, warum nicht, schon in der Antike wurden Namen und Bilder entfernt? "Damnatio memoriae - Verdammung des Andenkens" nannte man das. Auch hier wäre es gut, dies mit den Augen der Opfer zu sehen (Markus Elstner ist da nicht der Einzige.) Vielleicht sollte auf einer solchen Tafel demnächst stehen: "Von 1992 –
2008 amtierte ein Pfarrer, der als Missbrauchstäter verurteilt wurde. Aus
Achtung und Rücksichtnahme vor seinen Opfern haben wir seinen Namen hier getilgt." (An dieser Stelle möchte ich kurz etwas darauf hinweisen, dass der Begriff "Opfer" umstritten ist, wegen der vielschichtigen Bedeutung des Wortes. Ich bitte um Verständnis, dass ich ihn dennoch verwende, da auch die Begriffe "Betroffene" und "Überlebende" gewisse Schwächen haben.)
Rätselhaft, warum nach so vielen Jahren der Name immer noch dort steht, als sei nichts geschehen. Nach wie vor ein Baustein für den Eindruck, die Kirche habe ihre Lektion noch immer nicht gelernt. Es führt kein Weg daran vorbei, sich der Vergangenheit und den Opfern zu stellen. Dabei sollten die Verantwortlichen vermeiden, den Eindruck zu vermitteln, man sei von der Organisation der Täter nun zum Anwalt der Betroffenen mutiert. Der Platz in der Büßerecke bleibt auf absehbare Zeit angemessen.
Der Umgang mit den Opfern ist nicht leicht, denn die Kirche
hat sie über viele Jahrzehnte vergessen, hat versucht sie zum Schweigen zu
bringen, unsichtbar zu machen. Manche von ihnen starben nach einem von den
Missbrauchserfahrungen zerrütteten Leben, ohne jemals aus dem Mund der Täter
oder eines Bischofs ein Wort des Bedauerns oder gar eine ehrliche Bitte um Vergebung gehört zu haben. Sie haben jedes
Recht zornig zu sein. Und als Kirchenverantwortliche dürfen wir ihnen den Mund
nicht verbieten. Auch wenn es schwer fällt und die Anklage ungerecht erscheinen
mag: sie haben jedes Recht, ihre Empörung, ihren Schmerz, ihre Enttäuschung, ja
sogar ihren Hass Ausdruck zu verleihen.
Wenn wir als Kirchenverantwortliche merken, dass uns das trifft, wenn wir es ungerecht finden, wenn wir den Impuls spüren, die Institution verteidigen zu wollen, dann sollten wir umso stiller werden und Herz und Ohr öffnen. Und sollte das helfen: auch das Portmonaie. Jeder Euro, der das Leben eines körperlich, geistig und seelisch missbrauchten Menschen leichter macht, ist gut investiertes Geld. Im Übrigen auch, wenn er aus aktuellen Kirchensteuereinnahmen genommen werden muss.
So wie es klingt, sind wir aber in unseren Diskussionen schon wieder über diesen Punkt hinaus. Das Aushalten und geduldig helfen ist einem gewissen Aktivismus gewichen. Bei den Opfern zu stehen, hintern ihnen zu stehen, ihre Geschichten zu hören, das ist schwer. Weit leichter ist es, gleich die Kirche umkrempeln zu wollen mit Reformen à la Maria 2.0 oder mit Restauration à la Maria 1.0 – um die beiden Bewegungen einmal als Synonym für die kirchenpolitischen Lager zu gebrauchen.
Soweit ich mich recht erinnere, war es der Regensburger Bischof Rudolf Voderholzer, der ein Schlagwort in die Diskussion eingebracht hat. Das Schlagwort, das da lautet „der Missbrauch mit dem Missbrauch“. Ich kann eine gewisse Abwehr verstehen, wenn Menschen auftreten und fordern, dass ein Identitätsmarker des Katholischen, das sakramentale zölibatäre Hirtenamt aufgrund der Missbräuche zu reformieren sei, wenn etwas, was mir als Bischof wahrhaft HEILIG ist, grundstürzend verändert werden soll. Es ist verständlich, dass einem das verkehrt vorkommt, dass man vielleicht gar empört ist und die Argumentation als falsch empfindet. Schließlich hat man selbst sein Leben darauf gebaut!Wer in der Diskussion um die richtigen Maßnahmen nicht zuerst das Wohl der Opfer im Auge hat, der missbraucht deren Schicksal für eigene Interessen. Das liegt doch eigentlich klar auf der Hand, oder?
Leider ist „Missbrauch“ ein vielschichtiges Wort, das zahlreiche Tatbestände umfasst. Die Rede vom „Missbrauch mit dem Missbrauch“ setzt allerdings unvergleichliche Dinge gleich. Der sogenannte „liturgische Missbrauch“, die Abänderung eines liturgischen Textes ist nichts gegen das sexuelle Verbrechen an einem Kind. Man darf so etwas nicht sprachlich auf eine Ebene ziehen. Auch unterstellt der Vorwurf des „Missbrauchs mit dem Missbrauch“ dem Gesprächspartner von vornherein Unwahrhaftigkeit und niedere Motive. Ist es etwa ausgeschlossen, dass jene, die wirklich auf der Seite der Opfer stehen, gerade deshalb aus voller Überzeugung und ohne jede Arglist systemische Veränderungen fordern? Selbst wenn die Ursache der Missbrauchstaten nicht im Zölibat allein liegen kann, könnten sie nicht durch die priesterliche Lebensform und die Haltung der Kirche zu Fragen der sexuellen Identität der Priester begünstigt worden sein? Lassen sich die vielen Indizien in diese Richtung so einfach vom Tisch wischen? Kann es sein, dass das zölibatäre Leben im Pfarrhaus eine Anziehungskraft für jene hat, die ihre sexuellen Präferenzen und Bedürfnisse nicht erkunden und erproben konnten und wollten und daher auch nie in Frieden damit leben konnten? Eine vergleichbare These wird mit Blick auf homosexuelle Männer im priesterlichen Dienst gerade unter Kirchentreuen gern vorgetragen.
Ist möglicherweise das von Papst Benedikt (in seinem jüngsten Text im Klerusblatt) beklagte Verschwinden der besonderen geistlich-priesterlichen Atmosphäre in Priesterseminaren und Kollegien weit mehr ein Ausdruck des grundsätzlichen Problems als ein Teil der Lösung? Könnte die Art und Weise wie die Themen Sexualität und Zölibat in der Formation des Priester bearbeitet wurden und noch werden evtl. ein Risikofaktor sein? Könnten auf diesem Wege Menschen ins Priesteramt gelangen, die sich nicht gründlich und ehrlich mit der eigenen Sexualität auseinandergesetzt und die starken Triebkräfte in ihrem Innersten nicht genügend im Griff haben. Es ist ein Warnzeichen, wenn deutlich wird, dass viele Übergriffigkeiten erst nach über einem Jahrzehnt im Priesteramt stattfanden, in Zeiten einer ersten Lebens- und Berufungskrise. Wie gelänge es, Priester im Blick auf ihren Umgang mit Sexualität und anderen Fragen der Lebensführung gut zu begleiten?
Auf der anderen Seite betonen die Diskutanten, dass die kirchliche Sexualmoral und das priesterliche Lebensideal jegliche sexuelle Betätigung streng verbieten. Hätten sich die Priester an die gegebenen heiligen Ordnungen gehalten gäbe es heute keine Krise! Hier wird der Weg in einer klaren Verkündigung gesehen. Die Kirche brauche keine Nachbesserungen. Auch diese Argumente haben ja Gewicht. Aber sie finden leider nicht zueinander. Lieber werden im Gerangel um den Zölibat bedeutsame Fakten zurechtgebogen und vom Tisch gewischt.
Niemand kann bestreiten, dass die Krise der Kirche andauert und
kein Silberstreif am Horizont in Sicht ist. Im Gegenteil, es scheint beinahe
täglich schlimmer zu werden. Die Missbrauchsfälle gefährden die Glaubwürdigkeit
der Institution und erschüttern sie bis auf den Grund. Manch einer hofft schon auf den endgültigen Zusammenbruch der Kirche(n).
Die Heftigkeit der Auseinandersetzungen dieser Tage erklärt sich sicher aus der Dramatik der Situation. Leider werden im Streit die christlichen Tugenden über Bord geworfen und zwar von allen Beteiligten. Manchmal klärt ja ein Gewitter die Fronten und es geht wieder voran. Doch davon scheint weit und breit nichts zu sehen. Die Gewitterzellen haben sich offenbar über der Kirche festgehängt. Auch der Synodale Weg ist heftigst umkämpft. Die Reformer drängen auf Entscheidungen. Die Bewahrer attackieren ihn und drängen die Glaubenskongregation, der Kirche in Deutschland die Spaltung, das Schisma zu attestieren. Man darf gespannt sein, ob die römischen Behörden jenen auf den Leim gehen, die für sich in Anspruch nehmen, die Reinheit der Kirche und deren Einheit wahren zu wollen. Kann es eine Lösung im Sinne Jesu sein, alle rauszuwerfen, die nicht jeden Abschnitt des Katechismus freudig unterschreiben? Kann es eine Lösung sein, die Kirche gesundzuschrumpfen? Das Problem ist, dass man es für die „Neuevangelisierung“ just mit der Kundschaft zu tun bekommt, die man gerade noch vor die Tür gesetzt hat. Wir können uns das Missionsgebiet ja nicht bei Amazon bestellen oder in ferne Länder ausziehen, wo die „edlen Wilden“ das Wort des Evangeliums in ihren Herzen schon lange ersehnten. Und auch eine Kirche, die überaus treu zu Lehramt und Katechismus steht, ist und bleibt eine Kirche der Sünder. Das Übel des geistlichen und des sexuellen Missbrauchs wird bleiben, denn solche Täter (die sich ja ihre eigene Sündhaftigkeit nicht eingestehen können), werden auch da dabei sein und ihre dunklen Seiten sorgfältig verbergen und im Geheimen ausleben.
Wir sind in der Kirche an einem toten Punkt angekommen. Es geht nicht voran. Nirgends. Die widerstreitenden Lager blockieren, was sie angeblich ersehnen: Evangelisierung, gar „Neu-Evangelisierung“. Wer sollte sich für das Wort des Herren interessieren, das eine Horde von „Kesselflickern“ im Streit sich gegenseitig um die Ohren hauen. Wir brauchen eine gänzlich erneuerte Diskussionskultur.
Über ein besonders bedrückendes Beispiel für das Scheitern der bisherigen Dialogkultur stolperte ich in diesen Tagen bei Facebook. Stellvertretend für die Front der „Bewahrer“ trat Martin Lohmann auf, ein langgedienter Publizist, zuletzt verantwortlich für den konservativ-katholischen Fernsehkanal „K-TV“. Der Bonner betont, seit vielen Jahren mit der amtierenden Vizevorsitzenden des ZdK Karin Kortmann befreundet zu sein. In einem „Zwischenruf“ auf seiner facebook-Seite (Ursprünglich wohl bei kath.net) las man etwas über „Gerüchte“ im Kontext der Visitiation im Erzbistum Köln: „Zu den Gerüchten gehört es auch, dass der ZdK-Präsident und seine Stellvertreterin, Thomas Sternberg und Karin Kortmann, reichlich daran interessiert sind, dass vor allem eines nach der Visitation folgt: Woelki muss weg. Ob das stimmen kann? Ob das vorstellbar wäre? Immerhin wäre (auch) das ein Hinweis darauf, dass es nun wirklich nicht um den Missbrauchsskandal und dessen Aufarbeitung geht und ging. Manche Beobachter und Fakten-Kenner hatten das - fast schon unter dem empörten Protest derer, die doch erklärtermaßen nichts als eine Aufklärung wollen - ja schon mehrfach angedeutet und gesagt. Und jetzt kommt für diejenigen, die sich so empört gaben und vermeintlich ausschließlich an der Aufarbeitung interessiert waren, das große „Ertappt“, „Erwischt“?“
Da ist er wieder, der „Knüppel aus dem Sack“, das Wort vom „Missbrauch mit dem Missbrauch“. Hier noch ein weiteres Mal gewendet, denn Lohmanns Fazit lautet: „Ja, es geht darum, diesen (Kardinal Woelki) als Störenfried für den „Suizidalen“ Weg weg zu mobben. Arglist? Falschheit? Missbrauch des Missbrauchs?“
Beim „Gerüchte-Geraune“ im „Zwischenruf“ geht also darum, dass Verantwortungsträgern des Zentralkomitee der Katholiken einen möglichen Rücktritt von Kardinal Woelki begrüßen würden. Die Überzeugung, dass Kardinal Woelki an der Aufgabe der Missbrauchsaufklärung gescheitert ist, ist ja in der Berichterstattung aus Köln häufiger zu hören. Lohmann sieht darin jedoch einen Beleg dafür, dass es in Köln nicht um Aufklärung ginge, sondern das wahre Ziel sei: „Woelki muss weg.“ Nicht wegen des Skandals, sondern weil er dem „Synodalen Weg“ im Wege sei. Sonst macht ja freilich das Name-Dropping der ZdK-Spitze in diesem Kontext auch keinen Sinn. Ist es zynisch, wenn Lohmann seinen Text mit der Frage beschließt, „wie viel Mut es noch gibt zur Ehrlichkeit und zur Fairness“? Es sei längst ein Kampf ausgebrochen zwischen „Gerechtigkeit und Lüge“ und zwischen „wirklicher und katholischer Reform“ und „offensichtlicher antikatholischer Deform“.
Ist es wirklich notwendig, vor jedem Argument der Gegenseite Unehrlichkeit vorzuwerfen und ihr die Liebe zur Kirche abzusprechen? Kein Wunder, dass sich die so gescholtene Kortmann direkt auf diesen Post zu Wort meldet und bittet: „Lieber Martin, wer Gerüchte schürt ist unredlich und bezweckt Zwist. Behaupte keine Dinge von mir, die Du nicht belegen kannst.“ Dann verteidigt sie den synodalen Weg und betont: „Die Opfer stehen im Mittelpunkt und sind der Auslöser des Synodalen Wegs.“
Martin Lohmann antwortet ihr und der Öffentlichkeit daraufhin doppelt, einmal direkt auf seiner facebook-Seite und später mit einem Interview bei Kath.net. Er gibt sich, leicht ironisch „beruhigt, dass niemand von Euch gegen einen Kardinal vorgeht...“, hält aber dennoch diese Behauptung aufrecht, obwohl er sich so was eigentlich „nicht vorstellen kann“. Ausführlich legt er dar, dass Kardinal Woelki mehr als jeder andere Bischof aufgeklärt habe und dass die Sexuallehre der Kirche eine Schutzfunktion habe, die müsse: „wieder klarer erkannt, verkündet und aus gebotener Verantwortung gelebt werden.“ Es gehe eben nicht um strukturelle Veränderungen wie „Zölibat oder Frauenordination, liebe Karin!“ Denn es gelte „Opfer zu vermeiden, weil sich manche - und jeder einzelne ist einer zu viel - verbrecherisch nicht an das gehalten hat, was die Kirche lehrend anbietet.“
In einem Gespräch mit kath.net legt er nach: „Ich konnte und kann und will mir eigentlich nach wie vor nicht vorstellen, dass zwei von mir so geschätzte Personen wie Thomas Sternberg und Karin Kortmann hinter den Kulissen andere gegen den Kölner Kardinal munitioniert haben sollen. Das wäre nun wirklich schäbig – und letztlich auch verräterisch. Insofern bin ich angesichts der Reaktion von Karin Kortmann schon ein wenig verwundert.“
Lohmann betont, wie sehr er Karin Kortmann schätze, mit der er seit Jahrzehnten eine echte Streitkultur pflege. „Mit Fairness, mit Respekt, mit Wertschätzung.“
Er deutet dann deren Bemerkung, er solle nichts schreiben, was er nicht belegen könne in der Weise, dass diese Wortmeldung ja kein Dementi sei. „Was, wenn es eben – leider – kein Gerücht oder mehr als „nur“ ein „Gerücht“ ist?“ Auf die Nachfrage, ob er mehr wisse verweist er dann aber auf vertrauliche Quellen, die er zu schützen habe. Doch unter dem Strich fühlt sich Lohmann bestätigt: „Der Missbrauchsskandal und damit die Opfer werden genutzt für „strukturelle Veränderungen“ der Kirche.“
Dem folgt eine Reihe bekannter Vorwürfe gegenüber dem ZdK und abschließend fordert Martin Lohmann von diesem schlicht: „Dialog. Respekt. Toleranz. Miteinander. Christusförmigkeit. Bekenntnisbereitschaft. Empathie. Lebensschutz. Wir alle müssen neu lernen, das Verbindende zu suchen und Widerspruch auszuhalten. Ich behaupte nach wie vor, dass wir besser und enger zusammenwachsen, wenn wir uns besser und enger im Sinne der Geistführung, die ja nichts Beliebiges darstellt, am Gottessohn orientieren, ihm näher kommen und ihm treu folgen. Freiheit und Wahrheit haben einen Namen: Jesus Christus.“
Kurz gestreift werden noch „böswillige Cancel Culture“ und „Kontaktschuld“.
Es müsse: „wirklich alles getan werden, um den Opfern dieser schrecklichen Verbrechen derer, die sich an keine Regeln der Verantwortung und der Moral gehalten haben, zu helfen, sie zu schützen und die Täter zu bestrafen. Da gibt es für mich keinen Zweifel. Aber es muss eben, weil man nicht kurzsichtig und geblendet sein darf, auch alles getan werden, um künftige Opfer zu vermeiden. Da helfen dann nur Klarheit und Ordnung, nicht zuletzt gelehrte und gelernte Enthaltsamkeit, was zugegebenermaßen in einer sexualisierten Welt, die etwas ganz anderes laut und bunt predigt, nicht einfach ist.“
Das Interview schließt mit „Ich bin und bleibe ein Anhänger des Dialogs und der Fairness.“ „Ach ja, was mir noch wichtig ist: Ich freue mich auf das nächste Gespräch, die nächste Begegnung mit Karin Kortmann – in alter Freundschaft.“
Ich habe mir das dreimal durchgelesen und frage mich: muss das sein? Offenbar kennen sich die beiden Protagonisten seit Jahren. Aber wenn ich jemanden so schätze, wie ich das behaupte – warum rufe ich nicht an und frage: Was ist da dran, Karin? Und spiele nicht ein solches Spielchen mit ihr... Was mich betrifft, so wäre eine solche Freundschaft spätestens mit dem Schlusssatz des kath.net – Interviews beendet. Offenheit, Gradlinigkeit und Ehrlichkeit sind für mich Basis echter Freundschaft. Man kann nicht von Fairness reden und eine Freundin ohne wirklichen Erkenntnisgewinn öffentlich in die Pfanne hauen. Diese Gesprächs-Unkultur erscheint mir symptomatisch für viele Dialoge im Raum der Kirche. Dass sie inzwischen sogar Freundschaften dominiert und beschädigt macht mir ernsthaft Sorgen.
Warum ich das hier so ausführlich ventiliere? Weil es etwas ist, was ich inzwischen auch zunehmend erlebe. Ich komme aus einer klassischen lebendigen Kleinstadt-Volkskirche. Wir hatten einige sehr konservative Pastöre. Ich habe die Diskussionen mit ihnen immer genossen. Und auch später viele Kontakte mit Menschen gepflegt, die ihre christliche Berufung sehr ernst nehmen und traditionell kirchliche Formen und Inhalte vertraten. Die Tradition der Kirche ist reich, interessant, vielfältig und tief spirituell. Wir dürfen sie keineswegs über Bord werfen. Aber sie braucht auch Lebendigkeit und eine Verwurzelung im gesellschaftlichen Leben. Inzwischen wird man allerdings als Gesprächspartner sofort taxiert und in Schubladen einsortiert. Die Bereitschaft, Dialoge außerhalb der eigenen Bubble zu führen ist gering. Man bemüht sich nicht einmal mehr um Verständnis für die Argumente und Positionen der Anderen. Und gerade das war mir immer wichtig. Ich finde es spannend zu erfahren, was Menschen bewegt, die sich der außerordentlichen Form der Hl. Messe zuwenden oder sich zum Leben in einem Kartäuserkloster berufen fühlen. Deshalb muss ich weder Kartäuser werden noch regelmäßig zur Messe der Petrusbruderschaft fahren.
Die Fronten scheinen unüberbrückbar. Während die Einen die Lösung in einer Festigung der bestehenden Strukturen und energischer Verteidigung der Lehre sehen, erhoffen die Anderen die Erlösung durch die Veränderung der Strukturen und Weiterentwicklung oder Veränderung der Lehre.
Natürlich ist es grundfalsch, die Opfer sexuellen Missbrauchs heranzuziehen, wenn man sie als Hebel gebraucht, um gewisse Forderungen umzusetzen. Im Umgang mit ihnen sollte man ehrlich und wahrhaftig bleiben und ihr Schicksal keineswegs verzwecken. Aber es ist nicht weniger falsch die Gegenposition mit seinem Engagement für die Opfer zu begründen, die bei „echten und kirchentreuen Priestern“ nicht Opfer geworden wären. Denn es waren auch hochgelobte kirchentreue Priester unter den Tätern und Missbrauchern. Es ist sehr einfach zu sagen: „Weil dieser Mann übergriffig war, weil er zum Täter und Verbrecher wurde, haben wir als die helle und gute Seite der Kirche damit nichts zu tun.“ Ich verweise da mal auf die hoch gepriesenen neuen geistlichen Bewegungen, bei denen sich manche Lichtgestalt inzwischen als Dunkelmann entpuppte. Und dennoch verteidigt noch heute Mancher einzelne Täter, weil sie doch so fromm und so treu waren. Da müssen die Anklagen der Opfer unwahr sein.
Nein, die Verbrechen geschahen im Herzen der Kirche, auch durch Täter die als vorbildliche Priester galten und von ihrem Umfeld gegen jeden Verdacht verteidigt wurden. Der Missbrauch ist ein Krebsgeschwür und seine Therapie ist nicht einfach.
Mein Eindruck ist: Die normalen Gläubigen schauen relativ
verstört und irritiert auf den immer schärferen Ton. Und wenden sich ab. Die
relative Erfolglosigkeit öffentlicher Aktionen des einen oder anderen Lagers
spricht da Bände. Gegen Kardinal Woelki demonstriert ein überschaubarer Kreis
von 200 – 300 Leuten, für ein „Dubium“, das ein Schisma feststellen lassen will,
interessieren sich bei Facebook nicht mal 200 Leute. Und das trotz engagierter
Öffentlichkeitsarbeit. Für die breite Öffentlichkeit bietet die Kirche das Bild
einer zerstrittenen Organisation, die ihre Probleme und Unglaubwürdigkeiten
nicht in den Griff bekommt und deren Wortmeldungen man keinerlei Bedeutung mehr
zuschreiben sollte. Nur ihre Finanzkraft und Gestaltungsmacht in Deutschland bremst
ihren Weg in die gesellschaftliche Bedeutungslosigkeit noch ab. Der Stempel "Missbrauch" klebt so fest an der Kirche, dass die Details der Aufarbeitung und all die Bemühungen um Prävention und Wandel die Mehrheit der Deutschen kaum mehr erreichen.
Allein diese Beobachtung sollte die Kampfhähne wieder zusammen bringen. Zumal – weil sie doch im Grunde (wenn auch mit teils
gegensätzlichen Mitteln), ein gemeinsames Ziel verfolgen, das man getrost „Evangelisierung“ nennen darf. Alle wollen doch, dass die Botschaft des
Evangeliums weiter gesagt wird, dass die Gesellschaft zutiefst human bleibt und
immer mehr wird, dass der Glaube in Gemeinden, Kirchen, Orden und geistlichen
Gruppen und Gemeinschaften gelebt wird. Sollte es da nicht möglich sein, wieder
mehr zusammenzurücken und in einem ersten Schritt eine halbwegs versöhnte
Gemeinschaft in Vielfalt zu werden. Ich weiß, wie schwer das jenen fällt, die
„die Sache Gottes“ zu ihrer Sache gemacht haben und die glauben, das Heiligste
gegen Profanierung zu beschützen. Und wie schwer das aber auch jenen fällt, die
unter den Schwächen und Verbrechen der real existierenden Kirche zu leiden
hatten und sich eine ganz andere Kirche wünschen. Bringt die unterschiedliche Sicht auf die Bedeutung eines Segens für ein lesbisches Paar wirklich das Evangelium um seine Kraft? Oder besorgt dies weit mehr der verbissene Streit darum?
Ich fürchte, mit der Stärkung der Disziplin allein ist das Problem für die Kirche nicht gelöst. Natürlich braucht es Regeln, an die sich alle halten müssen. Gerade in der Missbrauchsprävention werden die allgemeinen Regeln oft in einen konkreten Verhaltenskodex übersetzt, Regeln, die auch unbeabsichtigte Grenzüberschreitungen verhindern sollen. Aber es gibt systemische Umstände, die Missbrauch begünstigt haben und die muss man in den Blick nehmen. Und warum sollte man in einer guten Diskussion nicht bewahren, was gut ist und sich von dem verabschieden, was Opfer produziert hat?
Es gibt nur einen Weg, Dialog und Vergebung, Vergebung und Dialog. Wir müssen raus aus den ideologischen Gräben und aufeinander zugehen. Wir müssen neu auf das Evangelium hören und offen sein, dass es uns verändern, ja wandeln kann. Wir müssen die Vorwürfe beiseite legen und die politischen und rhetorischen Tricks und Winkelzüge lassen. Wir müssen aufhören, die einen als Traditionalisten zu verunglimpfen und die anderen als Revoluzzer. Der andere ist und bleibt mein Bruder, die andere meine Schwester und idealerweise auch dann mein Freund, wenn wir unterschiedlicher Meinung sind.
Ut unum sint - „dass sie eins seien“. Dieser Auftrag des Hl. Johannes Paul II. bedeutet nicht, dass wir eine Schablone entwickeln, nach der die Einen der Einheit würdig sind und die Anderen draußen bleiben oder ins Schisma zu gehen haben. Einheit bedeutet Dialog, Liebe und Vergebungsbereitschaft. Ein anstrengender aber auch ein schöner Weg.
Wie auch immer wir ihn konkret gehen: wir nehmen die Schuld der Vergangenheit mit und wir gehen ihn in Verantwortung für jene, die im Raum der Kirche niederen Gelüsten und hehren Überzeugungen geopfert wurden und die unter ihr gelitten haben. Ihnen dürfen wir nie wieder den Rücken zukehren. Sie erinnern uns an die Verantwortung, die Zahl der Opfer in Gegenwart und Zukunft nicht noch zu erhöhen. Wir müssen wachsam sein und bleiben. Und letztlich auch demütig!