Sonntag, 12. Mai 2019

Deutschland - ein Kirchenstaat: Macht dem ein Ende! Hä?

(c) Giordano-Bruno-Stiftung:
Die säkulare Buskampagne 2019,
Foto vom Bus (1). Foto: Evelin Frerk

Mein Lieblingsatheist hat mal wieder einen rausgehauen: Im STERN erschien dieser Tage ein langer Artikel, in dem Michael Schmidt – Salomon den Lesern die humanistische Welt erklärt. Mein erster, kurzer Kommentar dazu in einem Diskussionsforum mit Atheisten und Gläubigen:  „Nachrichten aus dem Paralleluniversum der Giordano-Bruno-Stiftung“. Eine Provokation, die einen der Gesprächspartner dort so aufgebracht hat, dass er mir Sehnsucht nach einer Theokratie, einen Gottesstaat vorwarf.

Nachdem wir uns im Gespräch nicht darauf einigen konnten, dass Michael Schmidt-Salomon (MSS) unfair und populistisch argumentiert, will ich meinen Eindruck an dieser Stelle einmal ausführlicher darlegen, zumal die Giordano-Bruno-Stiftung (GBS) in diesen Tagen wieder ihre große Anti-Kirchen-Kampagne starten will.

Dabei steht mir, ich muss es ehrlich gestehen, noch ein wenig das sogenannte „Wort zum Karfreitag“ im Wege, bei dem MSS im Stile des „Wort zum Sonntag“ eine süffisante Rede gegen die Ausgestaltung des gesellschaftlichen Rahmens für diesen christlichen Feiertag und das damit einhergehende Verbot lauter und fröhlicher Veranstaltungen forderte. Persönlich habe ich gar nichts dagegen, dass niemand Rücksicht auf christliche, muslimische oder staatliche Feste nehmen muss und finde, dass er seine private Lebensgestaltung deshalb auch nicht einschränken muss. Aber, welchen Sinn machen dann eigentlich noch staatliche Feiertage, die einen gewissen Inhalt religiöser Natur oder historischen Gedenkens transportieren wollen? Ich denke, da braucht es immer mal wieder die Diskussion und den gesellschaftlichen Konsens, der dann aber auch für einige Zeit durchgetragen wird. Wie feiern wir einen Festtag und warum tun wird das? In einem evangelischen Land macht daher ja ein freier Fronleichnamstag auch wenig Sinn. Und wo Festinhalte von einer Gesellschaft nicht mehr begangen oder gefeiert werden, brauch es auch keine freien Tage mehr. Mal ganz zu Schweigen davon, dass gerade der Karfreitag doch die humanistische Grundhaltung des Mitgefühls in außerordentlicher Weise in den Mittelpunkt stellen könnte. Ob sich Mitleiden und Mitfühlen allerdings mit Klamauk und lauten Tanzpartys so leicht verbinden lassen, das möge sich die GBS selbst fragen. Aber ab und an ist es ja auch gut, sich einmal abzulenken, vom ganzen Elend dieser Welt.

Kirchenstaat? Nein Danke", mit diesem plakativen Spruch ist der Bus der säkularen Buskampagne beschriftet. Dazu kann ja auch jeder Christ (mit Ausnahme einiger kleiner Splittergruppen nur aus ganzem Herzen Ja sagen). Ehrlich gesagt fällt mir auch so recht kein Land ein, wo man noch von einem Kirchenstaat reden kann, naja, vielleicht noch der Vatikan. Aber gegen den feudalistischen Kleinstaat des Papstes scheint man ja nicht protestieren zu wollen. Sonst stände der Bus – italienisch beschriftet – am Tiber und nicht in Deutschland. Weniger plakativ als der Spruch lautet denn auch das hiermit verfolgte Ziel der GBS:  „Die konsequente Trennung von Staat und Kirche sowie die strikte Beachtung des Verfassungsgebotes der weltanschaulichen Neutralität des Staates."

Da wird nun spannend, was damit gemeint ist. In dieser allgemeinen Formulierung fände er auch unter Christen sicherlich eine satte Mehrheit an Zustimmung. Aber, hören wir auf MSS:
„Unsere Kampagne richtet sich ausdrücklich nicht gegen die Kirche. Wir werben für einen weltanschaulich neutralen Staat. Dafür können auch gläubige Menschen eintreten.“

Na, da bekomme ich doch etwas das Gefühl, da will mir einer Sand in die Augen streuen. Dieses Werben für einen „säkularen Staat“ begründet der Philosoph so, dass der Staat ja in den letzten Jahren vielgestaltiger, pluraler, säkularer geworden sei und mehr und mehr herausgefordert wäre, auf dem Spiel feld der Religionen und Weltanschauungen zum „unparteiischen Schiedsrichter“ zu werden. Dass dies aktuell noch nicht gelänge sähe man daran, dass man heute den Christen Rechte gewähre, die den Muslimen z.B. nicht offen stünden.  Was er konkret damit meint, erklärt er leider nicht. Mir will auch im Grunde nichts einfallen, womit man diese Behauptung illustrieren könnte. Mal abgesehen davon, dass sich die vielgestaltigen Organisationsformen des Islam nicht so recht in den organisatorischen Rahmen einer „Körperschaft des öffentlichen Rechts“ einfügen lassen wollen.

Auf die kritische Frage des Interviewers, ob die GBS nun die sozialen Einrichtungen wie Caritas und Diakonie in Frage stellen wolle, antwortet dieser: „Wir sprechen uns nicht prinzipiell gegen die Kooperation, wohl aber gegen die Kumpanei von Staat und Kirche aus.“ Um dies zu erläutern bringt MSS das putzige Bild, dass erst die Weimarer Republik vor 100 Jahren Staat und Kirche getrennt habe, aber die Scheidungspapiere habe man bis heute nicht unterzeichnet. Daher gebe es eine Kumpanei bzw. eine staatliche Bevorzugung von Caritas und Diakonie gegenüber anderen Trägern.
„Es gibt in dem Bereich keinen wirklichen Wettbewerb – und die Kirchen verdienen sehr gut daran. Mit reiner Wohltätigkeit hat das wenig zu tun.“

Diese Behauptung wird immer wieder gerne aufgestellt und kaum ein Stammtischabend und kaum ein Facebook-Forum, wo das nicht auf den Tisch gebracht wird. Man wundert sich, dass ein Philosoph auf diesem Niveau argumentiert. Natürlich ist da auch was dran. Caritas und Diakonie tummeln sich hier im weiten Feld sozialen Engagements. Hier finden wir vom Krankenhaus, über den Kindergarten bis hin zum Hospizdienst zahlreiche soziale Angebote unterschiedlichster Träger. Ihnen allen gemeinsam ist, dass ihre Mitarbeiter über schlechte Bezahlung und ihre Träger über eine kaum auskömmliche Finanzierung jammern. 

In den Jugendjahren der Bundesrepublik haben die Väter und wenigen Mütter unseres Staates den Gedanken gehabt, die Gleichschaltung der sozialen Dienste und Initiativen zu beenden. Nie wieder sollte die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt (oder andere Organisationen) das Leben der Menschen von der Wiege bis zur Bahre bestimmen. Daher gründete man große Wohlfahrtsverbände mit gewerkschaftlichem, sozialistischen, christlichem, jüdischen Hintergrund. Heute ist diese Landschaft noch viel bunter als damals, weil sich auch noch viele kleinere, freie Träger gründe(te)n, die soziale Aufgaben im Auftrag der Kommune, des Landes oder des Bundes erfüllen möchten. Meist steht dahinter eine kreative Idee oder eine konkrete Notlage, auf die man antworten möchte.

Es ist doch die große Angst aller Kämmerer, dass sich die Kirchen aus diesem Bereich zunehmend zurückziehen, weil auch bei ihnen die Mittel immer knapper werden. Dann fällt so manches wieder voll in die Haushalte der Städte, Kreise und Länder zurück. Ich kenne kaum einen Pfarrer, der allein aufgrund der Bilanzen seiner Kindergärten, Krankenhäuser und Pflegedienste  einen ruhigen Schlaf pflegt. Dass der Betrieb sozialer Einrichtungen kein besonders vergnügungssteuerpflichtiges Unterfangen ist und auch nicht „sehr gut daran verdient“ wird, kann man ja auch schon daran erkennen, dass die GBS jedenfalls ausweislich ihrer Homepage nicht als großer Träger sozialer Dienste unter die Leute geht. Vielleicht klänge dann mancher vollmundige Satz auch weniger knallig.
Natürlich liegt ein großer Teil der sozialen Dienste in den Händen kirchlicher Träger und sicherlich ist dort auch – aus verschiedensten Gründen – nicht alles Gold. Ich sehe aber keine Gewähr, dass irgendetwas besser würde, wenn all diese Dienste wieder unter staatliche Obhut gerieten. Und viele Dienste, die durch freie und kirchliche Träger angeboten werden, machen eine wirklich gute Arbeit, die sie mit Stolz den Prüfungsbehörden und Geldgebern gegenüber verantworten. 

Der wesentliche Unterschied zu einem völlig freien Markt hier ist, dass gerade die Absicht zur Gewinnerzielung ausgeschlossen wird. Dass dies auch anders sein kann, sieht man aktuell ja in der Diskussion um Altenpflegeeinrichtungen in privater Trägerschaft und deren von den Investoren erwarteter Gewinnspannen. Wer zahlt denn hier die Zeche am Ende?

Im Interview wird auch darauf hingewiesen, dass es doch inzwischen zahlreiche weitere freie Träger gibt, die sich in diesem „Markt“ tummeln. MSS bügelt das mit der Bemerkung ab, dass es ja noch Regionen gäbe, wo 80 % aller Kindertageseinrichtungen in kirchlicher Trägerschaft seien.  Angeblich, obwohl sich die Menschen in der Region etwas Anderes wünschen würden. Ich würde MSS wünschen, dass er wahrnimmt, dass sich diese Situation in einem rasanten Wandel befindet. Auch von Seiten der Kirche gibt es Interesse daran, Kindergärten für die Familien zu betreiben, die sich für ihre Kinder kirchliche Kindertageseinrichtungen wünschen. In meiner Heimat ist die Situation inzwischen so, dass wir nur gut ¼ der Kindertageseinrichtungen betreiben, aber 1/3 der Familien möchte bei uns einen Platz. Es ist bedauerlich, so vielen Menschen absagen zu müssen und zieht manche persönliche Enttäuschung nach sich. 

Nun kommt es im Interview zu den beliebten Themen Kirchenaustritt und Arbeitsplatz in kirchlichen Einrichtungen. Da sieht MSS die Religionsfreiheit in Gefahr. Anhänger der GBS finden bei der Caritas keinen Arbeitsplatz, wenn sie nicht wenigstens Mitglied einer Kirche oder anderen Glaubensgemeinschaft sind. Auch dieses Problem erkennen wir als Kirche und fragen uns zunehmend, wie man mit Leuten, die selbst nicht mehr kirchlich glauben und praktizieren das katholische Profil einer Kita, eines Krankenhauses, einer Schule oder einer Beratungsstelle bewahren kann. Ich denke, man würde sich – wenn auch aus unterschiedlicher Sicht – in dieser Diskussion auf Kompromisse einigen können. Wohl aber am Ende zum Leidwesen der weltanschaulich neutralen Strukturen des Staates, der zusätzliche Aufgaben zu schultern hätte, ginge es nach der GBS. Denn, dass ein humanistischer Träger wie ein Giordano-Bruno-Wohlfahrtsverband derartige Dienste übernähme würde sich ja auch mit der gewünschten Neutralität nicht besser vertragen als die Trägerschaft der AWO oder der jüdischen Zentralwohlfahrtsstelle. 

Gestreift wird übrigens noch die „Kumpanei des Staates“ mit den Kirchen z.B. in der Frage der Misshandlungen in der Heimerziehung, die in Heimen staatlicher wie kirchlicher Trägerschaft bedauerlicherweise gleichermaßen vorkam und analog im Umgang des Staates mit den Täterorganisationen kath. und ev. Kirche mit Blick auf die in deren Einrichtungen vorgekommenen Fälle sexueller Gewalt gegen Kinder und Schutzbefohlene. Zu diesem traurigen Thema kann ich nur schwer etwas beitragen. Im Evangelium heißt es klar: „Bei euch aber soll es nicht so sein…“ Für praktizierende Christen ist es schwer zu ertragen, dass „unsere Leute“ auch nicht besser handelten als jene, denen Jesu Wort: „Wer einen von diesen Kleinen etwas antut, für den wäre es besser…“ nicht in den Ohren klingt.

Auch die Staatsdotationen werden noch schnell hingeworfen. Damals wären es ja selbst Kirchenfunktionäre gewesen, die diese Regelungen unterzeichnet hätten. Soweit ich mich aus dem Geschichtsunterricht erinnere gab es damals alles Andere als „Kumpanei“ zwischen Staat und Kirche. Im Gegenteil, man nannte das damals „Kirchenkampf“ und der wurde von der Kirche wirklich als Unterdrückung und Krieg erlebt. Allerdings konnte sich damals noch niemand vorstellen, dass Gesellschaft ohne Glauben und entsprechend ohne Kirche funktionieren könnte. Man stand daher vor der Aufgabe, den Kirchenbesitz zu enteignen und dennoch eine Finanzierung der Kirche sicher zu stellen, die deren Funktion weiter gewährleistete. Hier führte man dann unter Protest der Kirchen die direkte Finanzierung bestimmter kirchlicher Dienste (die berühmten Gehälter der höheren Geistlichen und den Unterhalt gewisser kirchlicher Einrichtungen) durch den Staat und die Kirchensteuer als Eigenanteil der Gläubigen zur Kirchenfinanzierung ein. Aus heutiger Sicht war das ein doppelter Segen für die Kirche. Sie entkam der Situation, dass Bischöfe auch Landesfürsten waren und Klöster Grundherren, die von ihren Untertanen Abgaben forderten. Und sie kam zu einer langfristig auskömmlichen, gerechteren Finanzierungsbasis. Sicherlich ist das alles weit von einem Ideal entfernt, aber so billig wie es gern und auch hier diskutiert wird, ist es nicht. Ich fürchte einfach, dass der Geschichtsunterricht zwischen den Siegen und Niederlagen des Kaisers Napoleon und der Wirtschaftskrise der 1930er Jahre einige Kapitelchen überschlagen hat. 

In dem Interview darf natürlich auch die Abtreibungsgesetzgebung nicht fehlen. Hier wird ebenfalls ein interessantes Geschichtchen präsentiert. Grob zusammengefasst habe der gute Kanzler Schmidt die Fristenlösung eingeführt. Diese sei aber von katholischen Funktionären unter den Bundesrichtern wieder gekippt worden. Schwangerschaftsabbrüche und die Information darüber durch Ärzte sei  daher bis heute gesetzeswidrig. Und das sei nur eine Folge staatlich-kirchlicher Kumpanei. 

Damit diskriminiere man nicht nur Millionen konfessionsfreier Menschen, sondern auch Jüdinnen und Musliminnen. Hm, soweit ich mich erinnere ist Abtreibung auch für gläubige Juden und Muslime keineswegs erlaubt! Und ich halte es durchaus für eine bedrängende humanistische Frage, inwieweit ein Kind im Leib der Mutter Anspruch auf Schutz hat. Ich kann mir ehrlich nicht vorstellen, dass ein Humanist sich die Haltung „Mein Bauch gehört mir!“ einfach so zu Eigen macht, sondern dass er durchaus das Recht der Mutter und das Lebensrecht des Ungeborenen in Beziehung setzt und hier abwägt. Jedenfalls kenne ich einige Philosophen, die hier sehr differenzierte und abwägende Meinungen vertreten. Da muss man natürlich nicht die kirchliche Haltung des Schutzes ungeborenen Lebens vom Moment der Zeugung an vertreten. Und ich sehe in der Kirche auch niemanden, der mit der aktuellen Gesetzeslösung in Deutschland vollständig einverstanden wäre. Ja, es gibt unglaubliche Verhärtungen in der Diskussion über die Frage des Schutzes der ungeborenen Kinder, wie uns die maßlosen Reaktionen auf entsprechende Protestaktionen von Abtreibungsgegnern in ganz Deutschland immer wieder lautstark vor Augen führen. „Hätt‘ Deine Mutter abgetrieben, wärt ihr uns erspart geblieben…“ Ich hoffe noch immer, dass Christen und Humanisten in vielen Punkten keine Gegner sondern eigentlich natürliche Verbündete sind.

Ähnlich wird auch die Frage der „Freitodbegleitung“ in das Interview eingebracht. Auch hier ist die Kirche der Bremser an der humanistischen Lokomotive.

 „Unsere Gesetze sind quasi von der Wiege bis zur Bahre religiös bestimmt.“ Der Zynismus dieses Satzes geht einem erst auf, wenn man eine Weile über die Konsequenz des Gesagten in Sachen ärtzliche Freitodbegleitung und Abtreibung nachdenkt.

„Das Beste kommt zum Schluss!“
Auf den Einwand des Fragestellers, dass die Kirchen doch nicht „nur rückwärtsgewandte Organisationen“ seien, die „sich in alle Belange des Lebens einmischen“: „Sie geben immer noch vielen Menschen Halt und Orientierung, sie stehen für Werte ein.“ Kommt dann MSS Unterscheidung humanistischer und christlicher Werte. Der Aspekt, der mich besonders aufregt:

„Ich glaube, viele Menschen verwechseln die humanistischen Werte mit den christlichen Werten. Christliche Werte waren zum Beispiel die körperliche Züchtigung von Kindern oder der Kuppelparagraph. Die Gleichberechtigung von Mann und Frau, Meinungsfreiheit, Selbstbestimmung – all das, was bei uns im Grundgesetz steht, sind humanistische Werte.“

Das ist eine perfide Aschenputtel-Taktik. Die guten ins humanistische Töpfchen, die Schlechten ins gierige Kröpfchen der Kirche. Selbstverständlich wird MSS genügend Beispiele finden, um die Sünden der Kirche und die Sünden von Kirchenmännern in diesem Kontext zu präsentieren. Es gab das sicherlich auch genug. Aber wenn man sowas diskutiert, muss man entschieden an die Wurzeln zurück gehen. Und das wären bei christlichen Werten die Werte Jesu, die Werte des Evangeliums. Oft genug wurden diese in der Kirchengeschichte verdunkelt, das ist keine Frage. Erst recht da, wo sich die Kirche mit der Macht verbündet hatte oder sich Machtstrategien nur das christliche Mäntelchen umhingen. Ähnliche ließe sich auch mit dem Deckmantel des Humanismus trefflich betreiben. Christliche Werte, das sind Nächstenliebe, das ist auch Feindesliebe, das ist auch Unterstützung und Hilfe für jene, die meine Hilfe gerade nötig haben, das ist Rücksichtnahme auf Kinder, das ist Sorge für Arme, Alte und Kranke, das ist Achtung vor den Eltern und vor alten Menschen, das ist Achtung vor dem Eigentum der Anderen, das ist, sich nicht selbst zum Herrscher und Unfehlbaren zu erheben, sondern über sich einen Gott zu sehen, dem man für sein humanes Handeln verantwortlich ist. Das ist Ehrlichkeit, Gradlinigkeit… und manches mehr.

Ich sehe nirgends die Perikope des Evangeliums, wo Jesus Kuppelei verdammte oder zur Züchtigung von Kindern aufrief. Nein, das was nach MSS christliche Werte „waren“, das waren und sind schon immer Handlungen gewesen, die Gott missfallen (auch wenn Menschen das sicher über Jahrhunderte auch schon mal anders sahen.) Ich halte auch nichts davon die ganze Sache umzudrehen und für alle Gute „Christlichkeit“ zu beanspruchen. Dem hohen Anspruch des Evangeliums sind Christen manches Mal nicht gerecht geworden. Oder sie haben das Wort Jesu verdreht und verbogen.

Sowenig das Wort „christlich“ jeder Handlung heiligt, die damit gestempelt wird, so wenig wird das Wort „humanistisch“ Menschen an ethisch schlechten Handlungen hindern.

Die Geschichte ist voller Beispiele, wo Christen sich für Arme, Alte, Kranke aufgeopfert haben. Ja, es gibt die Idee der „Hexenverfolgungen“, die aus einer unseligen Mischung von Aberglauben und Christentum entstanden ist. Aber es gab auch auf allen Ebenen der Kirche immer Widerstand dagegen, ich erinnere hier nur an Friedrich Spee oder an die päpstlichen Verdammungen des Hexenglaubens. Übrigens bis in die heutige Zeit, wo dieser in manchen Regionen Afrikas weiterhin lebendig ist.

Ich erinnere an die Wurzeln der heutigen medizinischen Versorgung und des Krankenhauswesens, die allesamt im Christentum und in den Hospitälern liegen, die von frommen Bruderschaften erfunden und später von Krankenpflegeorden fortgeführt wurden. In jüngster Zeit: Was wäre die Hospizbewegung ohne engagierte evangelische und katholische Christen? Die Begleitung von Menschen in der letzten Phase ihres Lebens erschöpft sich eben nicht nur im ärztlich begleiteten Freitod.

Ja, ich höre schon die Einwände, lieber MSS; was ist mit liberaler Demokratie, was ist mit Sklaverei, was ist mit Religionsfreiheit, was ist mit Gleichberechtigung der Geschlechter und und und…  Ja, es stimmt! Die Kirche, insbesondere deren Kirchenleitung braucht nicht selten quälend lang für eine gute Einsicht. Aber das beklagen vor allem engagierte und im Kopf bewegliche Christen in aller Welt und sorgen dafür, dass die Dinge in Bewegung kommen. Das geschieht, ich gestehe es ehrlich ein, oft weitaus langsamer als es vermutlich in Vorstand und Kuratorium der GBS möglich ist. Leider kommt die Kirche mit einer so schlanken Struktur nicht aus und beteiligt ihre Mitglieder auf vielen Ebenen und ist vor allem weltweit eng vernetzt. Trotzdem, bei aller gebotenen Gründlichkeit und Multikulturalität würde ich mir auch manchmal schnellere Verbesserungen wünschen.

Ich erinnere an den Widerstand zahlreicher Christen gegen faschistische und kommunistische Systeme, die Würde des Einzelnen und seiner Haltungen und Überzeugungen für wertlos hielten und diese der Volksgemeinschaft oder dem Wohl des sozialistischen Staates unterordneten. Beispiele hierfür finden sich von der Kreuzigung Jesu an bis in die jüngste Zeit, wo christliche Geistliche nach wie vor in den Konzentrations- und Umerziehungslagern Chinas und Nordkoreas verschwinden.

MSS diagnostiziert eine unselige Verbindung zwischen Chauvinismus und Religion z.B. in Polen, Ungarn und in der Türkei. Da ist ihm sicher zuzustimmen. Es gibt offenbar immer die Versuchung, religiöse Überzeugungen mit der Macht der Mächtigen durchzusetzen und einige Christen, die dieser Versuchung erliegen. Das wird von der Mehrheit der engagierten Christen im Übrigen auch öffentlich sehr beklagt.

Diese Situation kann man aber nicht bekämpfen durch eine weitere Schwächung der Kirchen und der Christen, sondern mit dem Gegenteil. Die Mehrheit aller gläubigen Christen weiß, dass mit autoritären Systemen kein Staat zu machen ist und dass die Religion in solchen Systemen immer verliert. Sie erinnern sich noch gut an die Diktatur des Nationalsozialismus und sie wissen, dass gelebtes Christentum nur dann einen Wert hat, wenn es in Freiheit gelebt wird. Christen denken und Handeln anders, weil sie sich an den Werten und am Weg Jesu Christi orientieren. Dieser Lebensweg lebt und strahlt aus – nicht unter Zwang sondern wenn, dann allein aus Einsicht und Entscheidung.  

Sicherlich haben die Kirchen da auch weiterhin noch einen Pilgerweg zu gehen. Anders als MSS glaubt, scheinen sie mir allerdings durchaus mit der modernen Welt Schritt zu halten. Jedenfalls liegen sie nicht immer ganz weit zurück – und manchmal ist es ja auch gut, die „Avantgarde“ im Auge zu halten, aber doch bei denen zu bleiben, die sonst abgehängt würden.

Das kann nur gelingen, wenn wir den einzelnen Menschen stärken…“ Genau, das sehen wir als Kirchen gar nicht anders als MSS und so handeln wir sicherlich in weitgehend allen Bezügen kirchlichen Handelns, was nicht ausschließt, dass es hier und da nach wie vor Widersprüche gibt, auf die hinzuweisen ist.

Auch dass wir Gemeinschaft brauchen „Wir sind alle eine Familie“ mit gemeinsamen Werten und gemeinsamem Erbe, mit dieser Erkenntnis laufen Sie bei uns offene Türen ein. Wir glauben allerdings nicht, dass die Individualität des Menschen durch eine fiktive „Menschheitsfamilie“ absorbiert wird. In der Menschheitsfamilie gibt es auch jeweils kleinere Gruppen, die durch ein gemeinsames (hier christliches) Erbe verbunden sind. Natürlich ist unser Erbe im Guten wie im Schlechten durch rund 1.800 Jahre Christentum in Deutschland geprägt und beeinflusst. Aus dieser Erfolgs- und Leidensgeschichte können wir viel lernen für die Zukunft. Allerdings nicht, indem wir uns von diesem Erbe trennen und einen neuen Humanismus konstruieren, als wäre dies als theoretische Konstrukt gemeinsamer Werte ohne Wurzeln in der Geschichte möglich. 

Das Beste kommt zum Schluß, dass gilt für dieses Interview von MSS gleich doppelt:
Auf die Frage nach einem Land, in dem die Trennung von Staat und Kirche seiner Meinung nach gut läuft? Überlegt er erst und sagt dann:
„Tatsächlich sind wir in Deutschland schon relativ weit. ... Frankreich und die USA, die oft als Musterbeispiel für Laizismus gelten, sind keine leuchtenden Vorbilder. Dort wird die Religion aus der öffentlichen Debatte herausgenommen, aber wir müssen über Religion diskutieren – und mit ihr.“
Da sind wir uns dann am Ende wenigstens einigermaßen einig geworden. Anders als in der „Dialoggruppe“ bei fb.

Man fragt sich, welches Zerr- und Feindbild von Kirche und Christentum dem Denken mancher Aktivisten zu Grunde liegt. Nirgendwo wird das schöner auf den Punkt gebracht als im Kampf gegen einen gefühlten Kirchenstaat Deutschland. Dabei gibt es sicher bedenkenswerte Punkte und vieles wird auch zu Recht kritisiert. Nur ist dieses Interview alles Andere als auf der Höhe der Zeit. Nein, es ist nicht auf philosophischem, sondern auf recht schlichtem Stammtischniveau, wenig differenzierend und ziemlich populistisch. Als Einladung zum Dialog "mit der Religion" empfinde ich das ebenso wenig wie die konkreten Gesprächserfahrungen mit den Anhängern der GBS. Aber wer weiß, vielleicht kommt das ja noch, wenn man mal Regeln humanistischer Gesprächskultur entwickelt.

Hier das Interview mit MSS im STERN: 

Schon im Vorfeld der Aktion wurde ich um einen Gastbeitrag zur Kampagne der gbs (nach einer Wortmeldung bei fb) gebeten: https://www.kath.net/news/67630

1 Kommentar:

  1. Es gibt schon ein paar Dinge, die ich mir in Bezug auf eine klarere Trennung von Kirche und Staat wünschen würde: Mir gefällt die aktuelle Regelung des Religionsunterrichtes nicht. Ich möchte weder evangelischen, noch islamischen noch katholischen Religionsunterricht an unseren Schulen. Ich wünsche mir einen religionsübergreifenden, vergleichenden Religionsunterricht, der von vorneherein deutlich macht, dass es keinen "einzig wahren" Glauben geben kann. Ich fände es auch besser, wenn niemand (auch nicht bei der Einschulung seiner Kinder oder am Arbeitsplatz) Angaben zu seiner Glaubenszugehörigkeit machen müsste. Glauben ist etwas Privates und sollte vom Datenschutz abgedeckt sein.
    Auf der anderen Seite möchte ich auch eine Lanze für die Kirchen brechen. So habe ich in ökumenischen Projektchören mitgesungen, und Dinge besungen, an die ich persönlich nicht glauben kann. Aber die kirchliche Musik und das damit verbundene Gemeinschaftserlebnis wäre ohne das Engagement der Kirchen kaum möglich.
    Ansonsten ist es unerheblich, aus welchen Motiven jemand versucht, ein einigermaßen "gutes" Leben zu führen.

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