Sonntag, 23. Dezember 2018

Weihnachten 2018 - Ein Fest-Spektakel der Superlative?

Ausnahmsweise einmal eine Predigt statt Blogbeitrag. Weil 4. Advent ist und uns damit ein ruhiger Tag vor dem hl. Abend geschenkt wird. Einen gesegneten Sonntag!

WEIHNACHTEN 2018
  • Vor 2 Jahren verübte Anis Amri einen Anschlag mit einem LKW auf den Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz in Berlin. 11 Menschen starben!
  • Im Weihnachtsgeschäft in Deutschland wird in diesem Jahr erstmals ein Umsatz von über 100 Mrd. Euro erwartet. „Die Konsumenten sind in Kauflaune!“
  • In Dortmund steht der - mit 45 m Höhe größte Weihnachtsbaum der Welt, aus 1.700 Rotfichten zusammengepuzzelt.
  • An das Weihnachtspostamt im Brandenburgischen Himmelpfort haben in diesem Jahr 277.000 Kinder ihre Weihnachtswünsche geschickt. Sie bekamen darauf eine Antwort vom „Weihnachtsmann“.
  • Schon seit mehr als 20 Jahren läuten die Coca-Cola Weihnachtstucks die Weihnachtszeit ein, jeden Abend in einer anderen Stadt... kürzlich im CentrO in Oberhausen.
  • In Rom auf dem Petersplatz gibt es eine Krippe … aus 700 Tonnen Sand.
  • Der päpstliche Weihnachtssegen „Urbi et Orbi“ wird von hunderten von Fernsehsendern in die ganze Welt übertragen und von vielen Millionen Menschen gesehen. Wohl kein Ereignis hat eine derartige Einschaltquote.

Weihnachten 2018
ein Ereignis,
ein Fest der Superlative!

Aber, kommen wir mal langsam runter,
atmen einmal ruhig durch
und versetzen wir uns heute abend,
einfach mal in ein Städtchen am Niederrhein,
namens Voerde -
nein, das muss man nicht kennen...

In einer Wohnung, sagen wir mal an der Friedrichsfelder Str. in Voerde treffen sich zwei schwangere Frauen zum Adventskaffee. Sie reden von ihrer Sorge, weil eine der beiden im Frühjahr aus ihrer Wohnung ausziehen muss – und noch nichts Neues gefunden hat.
Die Andere erzählt davon, wie sie mit ihrem Lebensgefährten lange diskutiert hatte:
Wir haben ja überlegt, ob wir das Kind wirklich haben wollen, haben können...

Hups, sagt die eine. Jetzt hat sie mich zum ersten Mal getreten.. Tiefe Freude... „Es war alles richtig so...“

Und jetzt stellen Sie sich vor, dieser ganz alltägliche „Adventskaffee“ steht auf einmal in der Hl. Schrift. 

Und die Worte, die eine der beiden Freundinnen gerade gesagt hat …
werden durch die Jahrhunderte von Millionen, ja Milliarden von Menschen gebetet.

Gegrüßet seist Du..
Voll der Gnaden
Der Herr ist mit Dir.
Du bist gebenedeit unter den Frauen
und gebenedeit ist die Frucht denes Leibes.

Vielleicht hätte die junge Frau von heute es etwas anders gesagt:

Hallo, guten Morgen Marie,
Mensch, Du siehst aber gut aus,
selig, glücklich,
gesegnet.
Gott ist bei Dir!
Du bist etwas ganz Besonderes...
und ich spüre das,
auch Dein Kind wird etwas ganz Besonderes sein!

Nicht viel anders war das damals,
diese Begegnung im Bergland von Judäa.

Wer jemals in Taizé war, der wird diesen Text der frohen Botschaft
immer mit einem ganz besonderen Fenster in Verbindung bringen.

Viele Jahre lang bin ich immer wieder dorthin gegangen
und habe mich an dieser Darstellung erfreut.

Maria und Elisabeth begegnen sich.
Im ganz normalen Alltag.
(Darauf verweist die lustige Katze im Hauseingang)

Eine alltäglich Begegnung,
von der in der Welt niemals Notiz genommen hätte -
und hätte das Kind noch so „im Leibe vor Freude gehüpft.“

Die Schlagzeilen waren schon damals andere -
und heute erst recht...

Was zählen schon im Getriebe
von Politik und Wirtschaft
zwei „ungeborene Kinder“,
wo aktuell in den Kriegsgebieten des Jemen oder Syriens
nicht mal geborene Kinder zählen.

Doch diese beiden Kinder sind etwas ganz Besonderes:
Der Künstler, Frere Eric hat sie
ungewöhnlilch gemalt. 

Sie stehen aufrecht, (wie es in Wirklichkeit niemals möglich wäre)
sie schauen sich an.
Ja, die beiden begegnen sich -
genauso, wie sich ihre Mütter begegnen.

Dieses Bild richtet unseren Blick
vom Geflimmer der Weltnachrichten
auf den Bildschirmen,
auf eine ganz alltägliche Szene,
führt die Unruhe der brausenden Welt,
zu einer Szene der Ruhe,
der Freude, der Seligkeit...
Läßt uns vom „Großen Ganzen“
aufs „Kleinste“ schauen.

Eine kleine Begegnung
im Bergland von Judäa,
normale Menschen,
Alltagsgeschichte,
der eine Geburt
in einem Stall in Bethlehem folgen sollte.

Kleiner“ „Unscheinbarer“
ging es gar nicht.
Menschen auf der Durchreise, ohne Kontakte im Dorf,
und unbeachteter Ort – vor den Toren.
Unerreicht vom Mitleid der Menschen,
zwei, drei Menschen – ganz allein,
statt Arzt und Hebamme – Ochs und Esel.

Du, Betlehem-Efrata,
bist zwar klein unter den Sippen Judas,
aus dir wird mir einer hervorgehen,
der über Israel herrschen soll.

Der Prophet Micha kündet die Wende an,
mit der Zeit, in der die Gebärende
einen Sohn geboren hat.

Die Wende der Zeiten -
durch ein Kind.

Kinder bekommen die Leute immer...“

Dieser Satz wird Konrad Adenauer zugeschrieben.

Kinder bekommen die Leute immer...“ das bedeutet ja (auch):
Anderes ist Wichtiger.“

Dieser Satz ist bis heute aktuell.
Allen Beschwörungen einer besseren Geburtenrate zum Trotz.

Worum dreht sich unsere Welt?
Was steht im Mittelpunkt all unserer Bemühungen?

Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren,
der Mittelpunkt aller Bemühungen ist Geld.

Es geht um Investitionen und Kosten,
um Gewinne und Rentabilität…

Das Geld steuert alles,
die Wirtschaft sowieso,
und die Politik auch,
man muss gar nicht an Lobbyismus und Korruption denken,
auch unser Bürgermeister schläft schlecht bei dem Gedanken,
wie die Infrastuktur der Stadt zu bezahlen ist...

Alles dreht sich ums Geld,
erst recht, wenn es fehlt.

Machen wir uns noch einmal auf den Weg,
in ein kleines, unbedeutendes Dorf,
diesmal nicht am Niederrhein,
nicht im Bergland von Judäa,
sondern nach Góra Kalvaria,
zu deutsch „Kalvarienberg“,
in der Nähe von Warschau.

Dort lebte im 19. Jahrhundert
der Rebbe von Ger,
Rabbi Jizchak Meïr.

Im Hof der jüdischen Schule ging
der Rabbi an einem Spätsommerabend
mit seinem Enkel spazieren.

Es war Neumond, der erste Tag des Monats Elul.
Der Zaddik fragte, ob man heute den Schofar geblasen habe,
wie es geboten ist, einen Monat, ehe das Jahr neu beginnt.

Danach begann er zu reden:
Wenn einer Führer wird, müssen alle nötigen Dinge da sein,
ein Lehrhaus und Zimmer und Tische und Stühle,
und einer wird Verwalter, und einer wird Diener und so fort.

Und dann kommt der böse Widersacher
und reißt das innerste Pünktlein heraus,
aber alles andre bleibt wie zuvor,
und das Rad dreht sich weiter, nur das innerste Pünktlein fehlt.”
Der Rabbi hob die Stimme:
Aber Gott helfe uns: man darf’s nicht geschehen lassen!”

Ein erschütternder Dialog!

Ist das „innerste Pünktlein“ unseres Lebens,
unserer Gesellschaft, heute etwa „das Geld“,
der Erfolg, der Wohnstand?

Was ist das innere Pünktchen unseres Lebens?

Darauf gibt das heutige Evangelium,
ja mehr noch das Evangelium
des Hl. Abends - eine ganz klare Antwort.

Weihnachten ist eine Antwort, ist die Antwort:

Im Mittelpunkt – ein Kind!
Das innere Pünktchen ist: der Mensch, ist Jesus, ist Gott....

Weihnachten focussiert unser Leben
wieder ganz neu.

(Ein Gedanke, den ich dann nicht ausgeführt habe:
Das Kreuz steht -
auch wenn die Welt
sich dreht!“)

In Jesus,
im Kind,
im Menschen,
in der Liebe,
in der Freude,
in der Seligkeit,
hat Gott uns
das innere Pünktchen“
geschenkt.

Möge die frohe Botschaft
von Weihnachten
das Leben unserer Stadt,
unseres Landes, unserer Welt
neu zentrieren.

Aber all dies beginnt,
tief in meinem, in deinem, in unserem Herzen.

Mittwoch, 28. November 2018

Der Jesuit und der Kardinal

Ich erinnere mich an eine einzige, kurze Begegnung mit Gerhard Ludwig Kardinal Müller. Nach der Amtseinführung des neuen Kölner Erzbischofs 2014 stand er am Rande der Festgemeinde auf dem Roncalliplatz, umgeben von einigen Leuten, die mit ihm sprechen wollten. Ich stellte mich ebenfalls dazu, in der Hoffnung mit ihm einige Worte wechseln zu können in einer Sache, über die wir zuvor korresponiert hatten. Da trat ein älterer Mann auf ihn zu und sagte: „Herr Kardinal, eines wollte ich Ihnen unbedingt noch sagen: Sie sind ein Kirchenschädling.“ Sprachs, drehte sich um und verschwand in der Menge. Der Kardinal war einigermaßen aufgebracht und offenbar ratlos, wo er nun mit seinem Ärger hin sollte. Mir schien, am Liebsten hätte er ihm einige wütende Sätze hinterher geworfen, aber das Gespräch mit mir lenkte ihn ab.

An diese Szene muss ich in diesen Tagen häufiger denken. Ich weiß gar nicht, was den Mann zu diesem verbalen Angriff auf den Kardinal verleitet hatte, zumal dieser eine hochgewachsene, Ehrfurcht einflößende Erscheinung ist, sein Kritiker dagegen ein kleineres Männchen.

Ich habe Kardinal Müller in den letzten Jahren oft gegen Angriffe in den sozialen Medien verteidigt und immer wieder für ihn Partei ergriffen. Mir scheint, er ist ein solider Dogmatiker mit wirklich profundem theologischem Wissen. Aber ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass er ein eher aufbrausender Charakter ist und nicht besonders geübt darin, mit Leuten zu kommunizieren, die ihm theologisch nicht das Wasser reichen können.

Mir scheint, dass es diese Charakterzüge waren, die ihn letztlich das exponierte Amt des Präfekten der Glaubenskongregation „gekostet“ haben. Im Vergleich zu seinem Vorgänger und Nachfolger im Amt, war Kardinal Müller weit mehr mit prägnanten und oft auch umstrittenen Wortmeldungen in den Medien.

Dabei täte man ihm unrecht, wenn man ihn im extrem konservativ-bewahrenden Lager der Kirche verortet. Es lohnte sich immer, seine Interviews im Zusammenhang zu lesen. Auch wenn man nicht jedem Gedanken zustimmte, aber hier sprach ein Denker, der etwas zu sagen hatte. Auf jeden Fall, konnte man seine Positionen nicht abtun und die Beschimpfung als „Kirchenschädling“ ist keineswegs gerechtfertigt, nein ich halte sie für eine schliche Unverschämtheit. Wer Gerhard Ludwig Kardinal Müller einzig als Gegner und Feind einer modernen und liberalen Theologie betrachtete, der kannte seinen Müller nicht. Dieser war (und ist) ein Mann, der sich nicht scheute um der Sache willen gleichermaßen mit den Piusbrüdern und den Kirchenvolksbewegten in den Clinch zu gehen.

Gestern war die Meldung zu lesen, Kardinal Müller bekomme für seine jüngst in Kanada geäußerten Positionen Zuspruch von Weihbischof Schneider aus Kasachstan, Kardinal Brandmüller aus Rom und Weihbischof Eleganti aus der Schweiz. Man kann sich aber vorstellen, dass diese an anderer Stelle durchaus mit Kardinal Müller über Kreuz lägen. Ich erinnere an die Diskussionen um dessen Rechtgläubigkeit nach seinem Aufstieg zum Präfekten der Glaubenskongregation, als sein Dogmatik-Lehrbuch in traditionellen Kreisen gnadenlos zerpflückt wurde.

Das Interview, das Gerhard Ludwig Kardinal Müller der kanadischen Plattform Lifesitenews gegeben hatte, hat in der Tat einige Aufregung ausgelöst. Wie immer sollte man sich erst nach Lektüre des gesamten Textes ein Urteil bilden: https://www.kath.net/news/65962

Werfen wir zunächst einmal einen Blick in die Arena der Streithähne, die nach diesem Interview aufgetreten sind. Den Pokal für die schärfste Äußerung hat hier sicherlich der Jesuitenpater Klaus Mertes verdient. In einem Interview mit katholisch.de äußerte er sich u.a. folgendermaßen: „Die jüngsten Aussagen des Kardinals zur Kirchenkrise seien der "zum Dogma geronnene klerikale Dünkel", der der Schlüssel zum Gesamtproblem Missbrauch ist...“
Auch die Aussage Müllers, dass sich die Kirche im Hinblick auf die Missbrauchsfälle mit der praktizierten Homosexualität auseinandersetzen müsse, griff der Jesuit auf. "Es gebe eine Fraktion, die den Homosexuellen die Schuld geben wolle, so Mertes. Doch das entscheidende Problem liege in der Tabuisierung der Homosexualität selbst. Die Aussagen des früheren Glaubenspräfekten seien daher "unglaublich dreist" und "abgründig falsch" und riet Kardinal Müller dazu, zehn Jahre lang Pfarrer in einer normalen Stadtgemeinde zu sein - und bis dahin zu schweigen.“

Der Essener Generalvikar schloss sich auf Facebook mit deutlichen Worten der Kritik an: „Ich stimme P. Mertes voll und ganz zu. Auch während der gerade stattfindenden Präventionstagung der Bischofskonferenz sorgen die Aussagen von Kardinal Müller für Empörung. Mit solchen Äußerungen, wie sie Müller von sich gibt, werde eine Sexualmoral zementiert, die zur sexuellen Gewalt beigetragen habe, stellte Prof. Harald Dreßing, Leiter des Forscherteams der MHG-Studie, unter großem Beifall des Auditoriums fest. Darum muss solchen brandgefährlichen Aussagen auch deutlich widersprochen werden.“

Während das Interview des ehemaligen Präfekten der Glaubenskongregation in manchen Kreisen gefeiert wurde, bekommt dieser offenbar aus der Riege derer, die aktuell in der Missbrauchskrise das Heft des Handelns in der Hand halten, heftigen geradezu empörten Gegenwind.

Das ließ der gescholtene Kardinal nicht auf sich sitzen und gab den Angriff mit gleicher Münze zurück: Die Wortmeldungen des Jesuitenpaters seien „dreiste Beschimpfungen". Diese habe "besinnungsloser Zorn" dem Direktor des Jesuitengymnasiums Sankt Blasien eingegeben, sagte Müller der "Passauer Neuen Presse".

Zugleich sprach der frühere Präfekt der Römischen Glaubenskongregation Mertes "Sachkenntnis und Urteilskraft" ab. Der Jesuit, der 2010 die ersten Missbrauchsfälle am Berliner Canisius-Kolleg publik gemacht hatte, gebe sich "zu Unrecht als Experte in Sachen sexueller Missbrauch von Jugendlichen aus".

Dagegen handle die Glaubenskongregation auf einer wirklichen Datenbasis, so Müller weiter. Er hielt Mertes vor, es sei "einfach nur infam, die sexuellen Verbrechen an Teenagern und jungen Erwachsenen für kirchenpolitische Ziele zu benutzen". Offenbar kenne der Jesuitenpater nicht "die biblische Lehre zu homosexuellen Handlungen und zur absoluten Verwerflichkeit der Schändung von Heranwachsenden". Müller fügte hinzu: "So wenig man eine Schreibmaschine zu einem Klavier weiterentwickeln kann", so wenig vermöge Mertes, "das Wort Gottes in das Gegenteil zu verkehren".

Im Grunde braucht man nicht viel mehr zu wissen, um zu erkennen, wo die Konfliktlinien verlaufen und um welche Themen da diskutiert wird. In diesen Tagen sekundieren die „üblichen Verdächtigen“ jeweils der einen oder anderen Seite, ein eher verstörendes Schauspiel das in der Öffentlichkeit einen wahrhaft verheerenden Eindruck erzeugt und mühsam aufgebautes Vertrauen in die Kirche (wieder und wieder) zerschlägt.

Ich würde mir wünschen, dass jeder Mensch, dessen Tun und Reden in diesem Tagen mit der Kirche in Verbindung gebracht wird, folgendes Signale setzt und entsprechend handelt:
  • Wir stehen an der Seite der Opfer, wir tun alles, um Unrecht wieder gut zu machen.
  • Wir investieren sehr viel Kraft in Aufklärung, Transparenz und Prävention.
  • Wir lassen kirchenpolitische Kämpfe ruhen und reden diszipliniert über alle Fragen, die sich in der Mißbrauchskrise stellen. Wir reden über Sexualität, Zölibat, Homosexualität, über das Miteinander und Zueinander von Männern und Frauen in der Kirche.
  • Wir tun alles, damit sich das Wirken der Kirche in Zukunft wieder nur um eines dreht: Die Verkündigung der Frohen Botschaft, die Sorge um die Menschen und die Anbetung Gottes.
Vor diesem Hintergrund macht es Sinn, das lange Interview von Kardinal Müller einmal im Gesamtzusammenhang zu lesen und hier und da zu kommentieren.

Die vielen Gedanken darin umfassend zu würdigen, das kann dieser Beitrag hier nicht leisten. Aber die Aufmerksamkeit auf die ein oder andere Aussage des Kardinals zu richten, könnte die Diskussion insgesamt erhellen. Ich hoffe, dass die vielen Müller – Kritiker den Text wirklich gelesen haben … fürchte aber, dass sie sich nur mit den Schlagworten aus der Presse begnügt haben.

Viel zitiert wurde ein Aspekt seiner Antwort auf die erste Frage von Dr. Maike Hickson: „Laien können nicht über Bischöfe urteilen.“ - wo Müller letztlich darauf aufmerksam macht, dass man jetzt nicht holterdipolter die Verfasstheit der Kirche auf den Kopf stellen kann. Letztlich wendet sich der Kardinal damit auch sehr deutlich gegen eine Initiative in den USA, die betont hatte, die „Laien“ müssten den Bischöfen jetzt mal Beine machen und vor allem die Rolle der Kardinäle in der Missbrauchsaffäre extern unter die Lupe nehmen. Bemerkenswert finde ich die abschließende Formulierung, wo der Kardinal um Dialog und Vertrauensbildung wirbt und die Verantwortung betont, die jeder mit seinen Wortmeldungen nun trägt.

Wesentlich ist an der Antwort des Kardinals auch, das er sehr klar sagt, dass ein straffällig gewordener Bischof oder Priester sehr wohl durch Laien vor weltlichen Gerichten zu verurteilen sei. Dass es aber in der Kirche ausreichende Strukturen gäbe, einen Priester oder Bischof auch noch kirchenrechtlich zur Verantwortung zu ziehen (was man dann auch tun müsse). Er betont die eigene Verantwortung der Bischöfe für ihre Diözesen und fordert vertrauensbildende Maßnahmen.

Geradezu verstörend jedoch ist Müllers Antwort auf die 2. Interviewfrage: Er habe Kardinal McCarrick persönlich nicht gekannt und niemand habe ihn über dessen Vergehen informiert. Und dann kommt es: Man habe ihn vermutlich deshalb nicht informiert, da man von seiner Seite eine „rigide Reaktion“ befürchtet habe. Doch hätte (s)eine rigide Reaktion „uns“ vor vielem bewahrt. „Dass er mit seinem Clan und geschützt von einer Homo-Lobby mafiös in der Kirche sein Unwesen treiben konnte, hängt mit einer Unterschätzung der moralischen Verwerflichkeit homosexueller Praxis unter Erwachsenen zusammen.“ Dies scheint mir ein Kernsatz des ganzen Interviews zu sein. Zur 3. Frage führt er dann weiter aus, dass die Glaubenskongregation für die Fälle sexuellen Mißbrauchs an Heranwachsenden zuständig gewesen sei, beklagt aber die fehlende Zuständigkeit für Fälle von Unzucht von Klerikern mit Klerikern oder Laien. Die kirchliche Sexualmoral dürfe auch nicht durch die weltliche Akzeptanz von Homosexualität relativiert werden.

Auf die bemerkenswerte Frage, ob „Richtlinien“ in dieser Sache weiter helfen oder ob nicht eher eine „tiefere Bekehrung der Herzen“ gefordert sei antwortet Kardinal Müller, dass die Krise ihren Ursprung in einer „Verweltlichung der Kirche“ und in „einer Reduktion des Priesters auf einen Funktionär“ habe. Es gäbe Bischöfe, die die Kirche säkularisieren wollten, um nicht mehr als „unbequeme Mahner und Leute von gestern“ dazustehen. Diese opferten die Wahrheit des Dogmas und die Prinzipien der Moral“, da diese nicht mehr mit der Lebenswirklichkeit übereinstimmten. So stände einem „Leben nach den eigenen Lüsten und Bedürfnissen“, angepasst an eine „Welt ohne Gott“ die Offenbarung nicht mehr im Wege. Das ist für den Kardinal ein „Atheismus, der sich in der Kirche breitgemacht“ habe.

Auf diesem Horizont analysiert er dann eine Zahl aus der Statistik, dass nämlich nur 5 % der Täter krankhaft pädophil seien. Daher habe die große Masse der Täter „freiwillentlich aus Unmoral das 6. Gebot des Dekalogs mit Füßen getreten“ und setze sich „blasphemisch über den heiligen Willen Gottes hinweg“.

Was mir an dieser Stelle und auch im ganzen Interview fehlt, ist eine klare Positionierung auf der Seite der Opfer, deren Sichtweise, deren Schicksal und deren Situation an keiner Stelle auch nur erwähnt werden. 

Ich würde sagen, dass es unbedingt Beides braucht, klare Richtlinien und eine tiefe Bekehrung der Herzen. Das eine geht nicht ohne das Andere. Aber die Aufarbeitung der Mißbrauchsfälle hat auch gezeigt, dass wir nicht über eine Frage der Moral reden, sondern über eindeutige Verbrechen an Menschen, die der Macht eines Anderen ausgeliefert sind, weil dieser über ihnen steht, älter ist, einen Status hat, der ihm Macht verleiht. Er setzt sich über den Willen und das Wohl anderer Menschen hinweg und zudem über den Willen Gottes. Im schlimmsten Fall setzt er noch sein persönliches Wollen mit dem Willen Gottes gleich. Bekehrung kann man nicht erzwingen, klare Richtlinien aber sehr wohl durchsetzen. 

In der 6. und 7. Frage geht es um das Kirchenrecht und die Unterschiede zwischen dem CIC 1983 und 1917.
Interessant ist, dass der Kardinal hier gleichgewichtig die zölibatären und die verheirateten Priester des östlichen Ritus erwähnt, die auch in ihrer Ehe ein Vorbild für die Herde sein sollen. „Nicht die wilde Gier nach der Befriedigung, sondern die leibliche und geistige Überantwortung in der Agape an eine Person des anderen Geschlechts ist der Sinn der Sexualität.“

Keine Sternstunde ist die wütende Antwort auf die Frage, dass Kardinal Cupich ja davon gesprochen habe, dass man „differenzieren“ müsse zwischen einvernehmlichen sexuellen Kontakten zwischen Erwachsenen und dem Missbrauch Minderjähriger. „Man kann alles differenzieren und sich dabei noch als großer Intellektueller vorkommen, aber nicht die schwere Sünde relativieren.“

Ich frage mich: War das nötig? Gibt es eine Konfliktgeschichte zwischen den beiden Kardinälen? Natürlich muss man differenzieren! Und das tut die Kirche doch auch. Für einen überführten Mißbraucher gibt es klare Kirchenstrafen (wenn sie denn angewandt werden), für einen sündigen Kleriker gibt es die Beichte. Nicht nur hier wird deutlich, dass für Kardinal Müller eigentlich kein wesenhafter Unterschied zwischen Mißbrauchsverbrechen und Zölibatsverstößen von Priestern besteht, besonders dort, wo es um männliche Betroffene geht. Beides müsse durch eine Stärkung der Disziplin, durch tieferen Glauben und klarere Regeln verhindert werden.

In Frage 9 und vielen folgenden geht es denn auch um die Rolle der Homosexualität und die ungewöhnliche Tatsache, dass 80 % der Opfer dieser Sexualverbrecher „Jugendliche männlichen Geschlechts“ seien, "der größte Teil schon nach der Pubertät". In einigen etwas verschachtelten Sätzen zieht der Kardinal daraus dann offenbar den Schluß, dass bei den Tätern eine „tiefe Unordnung ihrer Triebwelt“ vorliege. Und meint offenbar auch, dass daraus zu schließen sei, dass die Täter zwar überwiegend homosexuell seien, woraus man aber nicht schließen könne, dass überdurchschnittlich viele Prieser homosexuell seien, wohl aber, dass die Homosexuellen unter diesen besonders häufig zu Tätern würden. Man hätte hier wenigstens erwähnen können, dass es einige schlüssige Erklärungen für die hohe Zahl männlicher Opfer gibt, die nicht von der Notwendigkeit homosexuell veranlagter Täter ausgehen. Wenngleich diese Erklärungen sicher nur einen gewissen Teil des Phänomens erhellen.

Der Kardinal führt weiter aus: „Meiner Ansicht nach gibt es keine homosexuellen Männer oder gar Priester.“ Es könne aber „Männer und Frauen geben mit einer ungeordneten Triebstruktur in Bezug auf Personen des eigenen oder anderen Geschlechtes.“ Sexualität außerhalb der Ehe sei „Unzucht und Missbrauch der Geschlechtlichkeit“, sei diese auf Personen gleichen Geschlechts gerichtet handele es sich um eine „widernatürliche Steigerung der Sünde“.

Unbedingt zuzustimmen ist dem Kardinal in der Bemerkung: „Nur wer gelernt hat, sich zu beherrschen, erfüllt … auch die moralische Voraussetzung für den Empfang der Priesterweihe.“ Als Ehemann würde ich dies auch für Eheleute so fordern.

Insgesamt erkennt Müller in der Kirche offenbar mächtige Stimmen, die darauf aus sind, die Homosexualität von dem Makel freizusprechen, eine „widernatürliche Steigerung der Sünde der Unzucht“ darzustellen. Ganz offen spricht er von einer „Gay Lobby“ in der Welt aber auch in der Kirche, die an diesem Ziel arbeitet (deren Protagonisten er aber nicht kenne und nenne).

Diesen wirft er vor, sich „ins warme Mäntelchen des Zeitgeistes einkleiden“ zu wollen um „modern und zeitgemäß anzukommen auf Kosten ihrer Mitbrüder.“

Hier entdeckt er wiederum eine „Verweltlichung der Kirche“ und den „schleichenden Einfluss des Atheismus in der Kirche“, der verantwortlich sei für die Krise der Kirche seit einem halben Jahrhundert.

Offenbar hat er keine hohe Meinung von einigen seiner priesterlichen und bischöflichen Mitbrüder, denen er attestiert, dass sie „im naiven Glauben, modern sein zu wollen, gar nicht das Gift merken, das sie jeden Tag einschlürfen und das sie fahrlässig anderen zu trinken anbieten.“

In diesem Kontext kommt er abschließend auf die Hintergründe zu sprechen, aufgrund derer er glaubt, sein Amt als Präfekt der Glaubenskongregation verloren zu haben.

Eine Gruppe von Kardinälen habe beim Papst den Eindruck vermittelt, er stünde als Präfekt nicht hinter dessen Ideen. Diese hätten aber nie mit ihm selbst gesprochen und sie hätten doch wissen müssen, dass er als Bischof und Kardinal nicht dem Papst nach dem Mund zu reden habe, sondern die Lehre des katholischen Glaubens zu vertreten habe. In diesem Zusammenhang erwähnt er seine „orthodoxe Auslegung“ von Amoris laetitia, bemängelt, dass seine anonymen Kritiker offenbar nicht sein Buch über das Papsttum gelesen hätten. „Das Lehramt der Bischöfe und des Papstes steht unter dem Wort Gottes in Schrift und Tradition und dient ihm.“ Er habe sich als Präfekt „keiner Innovation oder Reformen im katholischen Sinne des Wortes widersetzt“ und man habe ihm bis heute nicht mitgeteilt, was der Grund für die Nichtverlängerung seines Mandates sei.

Es sei argerlich, „dass theologisch ungebildete Leute in den Bischofsrang erhoben werden, die unfähig sind zu lehren und dies dem Papst mit einer infantilen Ergebenheit meinen danken zu müssen.“

Diese Formulierungen aus dem Mund eines Kardinals muss man wirklich erst einmal verdauen. Der Papst, umgeben von „Schmeichlern und Karrieristen am päpstlichen Hof“, denen noch dazu grundlegende theologische Fähigkeiten fehlen. Wann hat man so etwas jemals gehört?

Auch zum „Klerikalismus“ hat der Kardinal eine klare Meinung. „Klerikalismus als Vorwurf gegen gute Priester dient der homophilen Lobby als Vernebelung ihrer Missetaten und unchristlichen Ideologie.“

Wenn das – durchaus problematische - Wort vom „Klerikalismus“, das ja das Machtgefälle beschreiben soll, das die Mißbrauchstaten überhaupt möglich macht, derart von der einen oder anderne Seite als Kampfbegriff verwendet wird, dann ist es in der Tat wertlos geworden. Ich denke an die klugen Worte meines Bischofs Felix Genn, der in diesem Zusammenhang von „geistlichem Mißbrauch“ sprach. Wann immer jemand als Kleriker sein Amt dazu mißbraucht, mit Hilfe der durch Weihe und Status gegebenen Macht persönliche Wünsche und Bedürfnisse durchzusetzten sollten wir sehr aufmerksam werden. Hier wird die Botschaft Jesu schon verbogen und entstellt. Hier hält dann in der Tat der „Atheismus ins Christentum“ Einzug. Und jeder, der mit solcher klerikaler (und anderer) Macht ausgestattet ist, sollte sich in jeglicher Hinsicht im Griff haben. „Wir tragen unseren Schatz in zerbrechlichen Gefäßen. Unsere Kraft kommt von Gott und nicht von uns.“ Wie recht Paulus hier mit seinen Worten hat.

Bezüglich der Gründe für die Ablösung des Kardinals von seiner Aufgabe an der Spitze der Glaubenskongregation weiß ich nach der Lektüre des Interviews weit mehr, als ich jemals wissen wollte.

Das Interview läßt spüren: Hier ist jemand tief verletzt, verletzt über die Tatsache, dass Leute, die ihm theologisch und intellektuell nicht das Wasser reichen können, mit dazu beigetragen haben, dass er heute nicht mehr im Amt ist. Möglicherweise hatte er auch das Ideal der Zusammenarbeit zwischen Papst Johannes Paul II. und Kardinal Ratzinger vor Augen als er sein Amt antrat.

Die vom Kardinal beanspruchte Expertise in Sachen „Sexueller Mißbrauch“ vermisse ich in seinem langen Interwiew durchaus. Es ist sicher sein gutes Recht und auch seine Aufgabe als Kardinal, die katholische Lehre in Erinnerung zu rufen. Sicher auch, sich für die traditionelle Ehe und die Haltung der Kirche zur gelebten Homosexualität zu engagieren. Man fragt sich allerdings: „Muss es mit dem Holzhammer sein?“ Und wenn er schon die große Sachkenntnis der Glaubenskongregation für sich reklamiert, warum dann kein einziges Wort zur Rolle des Zölibat, zur Priesterausbildung, zur konkreten Lebensform und Lebenswirklichkeit vieler Priester, zum angemessenen Umgang mit den Opfern, zu Strukturen und Organisationsformen in der Kirche, die Missbrauch begünstigen? Die Fehler liegen allesamt bei den Anderen, bei denen, die sich ins Priestertum gemogelt haben, bei der bösen Welt und bei Seilschaften homosexueller oder homophiler Kleriker und möglicherweise auch beim Papst selbst. Ich lese auch kein einziges, auch nur annähernd selbstkritisches Wort. Auch das macht dieses Interview – bei allem was darin auch wichtig und richtig ist – für mich ziemlich unverdaulich. Auf meiner persönlichen Sympathie-Skala, von sagen wir mal 10 Punkten rutscht Kardinal Müller mit seinen aktuellen Wortmeldungen sicher um einige Punkte ab, sagen wir mal von 8 auf 5 Punkte. Ich hoffe sehr, dass er es schafft, an seine früheren Stärken wieder anzuknüpfen. Wir brauchen solche Leute, die in den Chor derjenigen, die auch in der Missbrauchskrise die immer gleichen Heilmittel für die Kirche empfehlen, begründete, kritische Worte hineinsprechen und beispielsweise auf die erschreckende Tatsache aufmerksam machen, dass es beispielsweise Machtmißbrauch, Gewalt und sexuellen Mißbrauch auch durch Frauen geben kann, dass auch Schwule nicht alle nur sanft und lieb sind und dass die Aufhebung des Zölibats neben der Lösung von Problemen auch viele neue schafft. Umso bedeutsamer ist, dass sie auch durch persönliche Integrität und Glaubwürdigkeit Gehör finden und nicht nur durch Amt und Würde.

Ich bin eigentlich unverdächtig, zum Kreis der Schmeichler und Karrieristen zu zählen. Ich weiß auch nicht genug darüber, wie gut oder schlecht Papst Franziskus mit seinen Mitarbeitern umgeht. Aber ich würde mir wünschen, dass er u.a. Gerhard Ludwig Kardinal Müller für einige Tage zu sich einlädt, dass die beiden miteinander die Messe feiern, die Bibel lesen, essen, einmal gemeinsam mit den Schwestern der schmerzhaften Mutter am Borgo Santo Spirito den obdachlosen Lebensmittelspenden austeilen und über ihre Differenzen ins Gespräch kommen.

Und allen Kontrahenten würde ich empfehlen, nicht nur die Verse über Unzucht und Barmherzigkeit zu zitieren, sondern den folgenden kleinen Dialog zweimal zu lesen, bevor sie in einem Interview über einen Anderen sprechen: „Petrus fragte Jesus: "Sag mal, wie oft soll ich jemandem vergeben, der mir Unrecht tut? Siebenmal?" "Nein!", antwortete Jesus, "Siebzigmal siebenmal! Soll heißen; ohne Ende! Zähl nicht nach. Vergib!"

Kyrie eleison!

Donnerstag, 6. September 2018

Es sind die Schwulen! Es ist der Zölibat! Es ist der Klerikalismus!

Die Diskussion um den Ex-Kardinal McCarrick, sein Verhalten und seine Verbrechen beschäftigt mich und viele weitere Menschen nach wie vor. Auch auf die Gefahr hin, mich zu wiederholen, möchte ich noch einige weitere Gedankensplitter anfügen und zur Diskussion stellen. 

Als ich gestern im Rahmen eines Trauercafés mit einer Dame ins Gespräch kam, erzählte sie mir vom Krebsleiden ihres Mannes. Monatelang haben die Ärzte nach dem Ursprung der Erkrankung gesucht, um eine passende Therapie zu finden, am Ende war es eine Erkrankung der Ohrspeicheldrüse, eine eher seltene Diagnose. Der Weg zu dieser Diagnose war lang. Er begann mit einem nächtlichen Sturz im Hotel. Als dann nach einem Jahr die Rippen noch immer schmerzten begann eine monatelange Odysee durch deutsche Krankenhäuser. Jetzt ist die Diagnose da – die Therapie und ihr Erfolg noch unsicher. Mir ging später durch den Kopf, wie sehr eine solche Krebserkrankung ein Synonym für die Missbrauchskrise in der kath. Kirche sein könnte.

Eine Krebserkrankung stellt das normale Leben völlig auf den Kopf. Was bisher wichtig war und den Tag bestimmte, das ist plötzlich unbedeutend. Es geht jetzt nur ums Überleben. Die Therapie selbst richtet sich dann nicht nur gegen den Krebs, sie betrifft den ganzen Körper mit, ja sie schädigt ihn mit. Therapie und Diagnose „schmecken“ dem Kranken nicht, man ist geneigt, vor der gesamten Dramatik die Augen zu verschließen. Ich denke, ein jeder Leser kann den Gedanken an dieser Stelle eigenständig zu Ende bringen.

Weihbischof Marian Eleganti von Chur hat sein mündliches Statement zur Homosexualität im Priestertum nun auch noch einmal aufgeschrieben und veröffentlicht: das „Homosexuellen-Tabu ist Teil der Vertuschung“. 

Man möchte ihm zurufen „Halt ein, wo läufst Du hin...“ Ich verstehe ja seine Irritation aufgrund der Tatsache, dass ein überraschend hoher Anteil der Verbrechen innerhalb der Kirche von Männern an älteren männlichen Kindern- und Jugendlichen begangen wurde. Da sehe ich nirgends ein „Tabu“, denn das wird offen kommuniziert und ist Gegenstand einiger Studien. Dennoch überzeugt mich die Stellungnahme des Weihbischofs nicht. Dabei glaube ich schon, dass er es ehrlich meint und dass man mit ihm reden könnte. Eine Antwort mit dem Holzhammer ist nicht nötig, aber doch mehr Differenzierung und Tiefe. Wir reden hier von Tätern, die a) ihr Versprechen von Keuschheit und Zölibat nicht einhalten und b) bei diesen Übertretungen auch noch unschuldige Menschen für ihren Sexualtrieb mißbrauchen. Was daran "homosexuell" sein soll erschließt sich mir nicht.

Der Weihbischof hat mit der Beobachtung recht, dass viele der Opfer Jungen sind. Dafür gibt es ja durchaus Erklärungsansätze. Insgesamt müssen wir aber feststellen, hier sind nicht "Homosexuelle", die sich ins Priestertum eingeschlichen haben wie „Diebe in der Nacht“ und die verbotenerweise ihrem Sexualtrieb nachgehen, sondern Menschen, die pädophile bzw. ephebophile Neigungen haben. Unter ihnen besonders viele, die sich an Jungen vergreifen. Wir müssen also konstatieren, dass es offenbar unter Priestern solche gibt, die eine gestörte Entwicklung ihrer sexuellen Präferenzen und ihrer Triebsteuerung haben. Es ist für mich eine brennende Frage, warum Menschen mit Entwicklungsstörungen in einem so bedeutenden Bereich des Menschseins ins Priestertum streben und warum es im Verlauf der doch sehr tiefgehenden Ausbildung und Formung niemandem auffällt. Offenbar schaut man genauer auf persönliche (und dann möglicherweise auch zum Zweck der Ablenkung zelebrierte) Frömmigkeit und Spiritualität denn auf menschliche Reifungsdefizite. Ob diese Störungen homo- oder heterosexuell "unterfüttert" sind, halte ich für zweitrangig. Interessant finde ich dagegen die Frage, welche Rolle die "Männerwelt" Priesterausbildung und Priestertum dabei spielte und vielleicht noch spielt. Mir ist ein keuscher, zölibatär lebender homosexueller Priester völlig recht. Aber ich verabscheue Priester, die ihre sexuellen Neigungen nicht kontrollieren können. Hier stellen sich grundsätzliche Fragen an die Priesterausbildung und das Priesterbild der Kandidaten und der Kirche. Wobei man durchaus feststellen muss, dass sich in diesen Themenbereichen die Priesterausbildung schon wesentlich weiterentwickelt hat. Aber sowas zeigt ja erst in Jahrzehnten seine Auswirkungen. Interessant wären evtl. Projekte, mit denen man auf Defizite in der Vergangenheit im Rahmen von Fortbildung und geistlicher Begleitung von Priestern gezielt eingehen könnte.

Was ich besonders schwierig finde ist, dass Weihbischof Eleganti und mit ihm manche Andere behaupten: „Das Hauptproblem sind die Homosexuellen.“ Angeblich fühlten sich Homosexuelle ganz besonders stark zu jungen Männern hingezogen und hätten Probleme in der Triebsteuerung. Ich bin da skeptisch. Nicht umsonst ist das Internet voll mit jungen oder auf jung gemachten Pornodarstellerinnen. Für die entschlossene Bekämpfung von Missbrauch in der Kirche ist es unerheblich, ob die Täter mit Blick auf die Opfer eine gewisse Geschlechterpräferenz haben. Allen Menschen mit homosexuellen Neigungen grundsätzlich die Eignung zum Priestertum abzusprechen würde – selbst wenn ich den Gedanken des Weihbischofs folgen würde – das Problem noch eher verschärfen, weil es das offene Gespräch über die eigene Sexualität unmöglich macht, wenn ich wegen meiner homosexuellen Neigungen gleich ausgesiebt würde. Das Problem des Missbrauchs ist viel zu komplex, als es auf den Teilaspekt einer homosexuell gestörten sexuellen Reife des Täters engzuführen. Wenn Marian Eleganti in einem angeblichen Tabu über Homosexualität im Priesteramt zu reden einen Aspekt der „Vertuschung“ sieht, wird er sich fragen lassen müssen, ob nicht die Fixierung auf diesen Teilaspekt die weit größere „Vertuschung“ darstellt.

Übrigens: Wenn es ein „Tabu“ gibt, bzw. einen Aufschrei aufgrund solcher Bemerkungen, dann das, dass es nicht richtig ist, der „Homosexualität“ und „die Homosexuellen“ unter den Generalverdacht zu stellen, die Ursache für die Missbrauchstaten im Raum der Kirche zu sein. Aber ich kann mir auch nicht vorstellen, dass Bischof Marian Eleganti das wirklich sagen wollte.

Einem ähnlichen Argumentationsmuster folgt die These: „Der Zölibat ist schuld.“ Wenn die Priester nur alle verheiratet wären, dann würde sowas nicht passieren. Viele scheinen geneigt zu sein, dieser These erst einmal zuzustimmen. Wenn sie aber wahr wäre, dann dürfte es in Familien kaum noch Missbrauchstaten geben. (Die Fachfrauen im Jugendamt hier erzählen mir da furchtbare Wahrheiten.) Dann wären auch die Prostituierten arbeitslos und ein Großteil des täglichen Datenverkehrs im Internet würde wegfallen. Nein, eine Ehe ist kein Garant für eine geregelte „Triebabfuhr“. Und wir leben mit vielen verheirateten und nicht verheirateten Menschen zusammen, die über Monate keine sexuellen Aktivitäten mit anderen Personen erleben und die sich dennoch völlig im Griff haben. Ja, es mag einzelne Täter im Raum der Kirche geben, deren unerfülltes Sexualleben sich so auswirkt, dass sie vor allem aus diesem Grund zu Tätern werden. Dennoch ist die Ehe kein Heilmittel für tiefsitzende, gestörte sexuelle Präferenzen. Wer unsere Lebenswelt aufmerksam anschaut, der kann das Problem, dass sich mächtige gestandene Männer junge bis sehr junge Frauen gefügig machen doch allenthalben entdecken. Die Abschaffung des Zölibats löst das Problem nicht.

Auch das Machtgefälle, die Hierarchie innerhalb der Kirche ist nicht das einzige Problem. In einer facebook-Diskussion begegnete mir das kürzlich so: „Meiner Meinung nach ist dass oftmals ein Machtproblem, der nicht gekonnte Umgang mit Macht, der sowohl Männer als auch Frauen zu Tätern macht.“ Das ist Quatsch. Richtig wäre, dass „Macht“ den Missbrauch begünstigt. Dass mächtige Männer eher die Möglichkeit haben, ihre Opfer unter ihre Kontrolle zu bringen. Macht, beispielsweise auch in dem Sinne, dass ein älterer Mann sicher eine klare Autorität gegenüber einem Kind hat, die er auch missbrauchen kann, zumal wenn er noch dazu „der Pastor“ ist und Eltern und Großeltern von ihm mit Hochachtung sprechen. Es ist für die Täter wichtig, ihre Opfer zu kontrollieren. Wenn ich mich als Kirchenmitarbeiter mit einer Jugendlichen in der Gemeinde einlassen würde, bedeutete das das Ende meiner beruflichen Laufbahn und wohl auch meiner Existenz, wenn diese mich in der Öffentlichkeit beschuldigte, mit ihr Sex gehabt zu haben. Ganz ähnlich wäre das bei einer Affaire mit einer gleichaltrigen Frau. Ich könnte mich doch nirgends mehr sehen lassen. Daher ist es für die Täter so wichtig, ihr Opfer in der Hand zu haben. Daher ist der Machtmissbrauch ein Symptom, ein Risikofaktor, eine Begleiterscheinung des Missbrauchsgeschehens, aber eher nicht die Ursache. Deshalb sehe ich die Rede vom „Klerikalismus“ als Kernproblem auch eher skeptisch. Ja, der begünstigt die Ausübung von Macht und gibt dem Täter Möglichkeiten, die ein pädophiler Lehrer oder Betreuer nicht hat. Letzlich ist der „Klerikalismus“ eine spezifische Spielart der Machtausübung. Es ist sicher sinnvoll, die Strukturen in der Kirche zu verändern und um problematische Aspekte zu bereinigen. Die katholische Kirche hat eine klare hierarchische Struktur. Die halte ich auch für heilsnotwendig. Dennoch wäre es sinnvoll, einige Verästelungen und etwas Dickicht wegzuschneiden. Aber auf der anderen Seite haben wir durchaus Probleme mit zu wenig bzw. mit schlechter Leitung. Daher stimme ich dem sehr klugen Statement meines Bischofs Dr. Felix Genn absolut zu, der kürzlich über das nun notwendige Handeln mit Blick auf den Missbrauchsskandal sprach und resumierte: „Das wird dazu führen, dass Priester und auch Bischöfe in der katholischen Kirche an vielen Stellen Macht und Einfluss abgeben und dass wir zu einem neuen Verhältnis von Laien und Priestern, von Haupt- und Ehrenamtlichen, von Männern und Frauen in der katholischen Kirche kommen müssen. Wie das konkret aussehen wird, kann ich Ihnen heute nicht sagen. Ich bin aber davon überzeugt: Wir brauchen Veränderungen.“

Mein Freund Harald Stollmeier brachte die Diskussion heute auf die prägnante Formulierung: „die erste Frage ist, warum sie es TUN. Die zweite ist, warum sie es tun KÖNNEN. Die dritte, warum sie es immer WIEDER tun können.“

In diesen Zusammenhängen irritiert mich zutiefst, wie sehr der Teilaspekt des Skandals, der sich nun rund um Kardinal McCarrick noch einmal in besonderer Weise zuspitzt von kirchenpolitischen Lobbygruppen und Interessen sagen wir mal vorsichtig (mal bewusst, mal unbewusst) „genutzt“ wird. Umso wichtiger ist es, in allem, was wir tun und reden bei den Opfern zu sein und nicht zuerst darüber zu sinnieren, was im Sinne meiner kirchenpolitischen Linie am Ende die Kirche dabei heraus kommt, von der ich schon lange träume. Auch da bin ich ganz bei Bischof Genn, wenn er sagt: „Natürlich ist es gut und wichtig, dass wir uns hierfür bei den Opfern entschuldigen. Bei allem, was wir tun, müssen die Opfer im Mittelpunkt stehen: Was können wir für sie tun? Wie können wir angesichts des unvorstellbaren Leids, das Priester und andere Menschen der Kirche ihnen zugefügt haben, alles uns Mögliche tun, die Verbrecher zur Rechenschaft zu ziehen? Und schließlich: Welche Maßnahmen müssen wir ergreifen, um möglichst zu verhindern, dass es weitere Opfer gibt?“ Und er betont, dass wir dabei nicht stehen bleiben dürfen. Der Missbrauchsskandal deckt ja auch andere Defizite der Kirche auf. Was können wir tun, damit wir Kirche nach dem Herzen Jesu und nach dem Willen Gottes werden?

Es ist mehr als gruselig, was in dieser Hinsicht gerade in der katholischen Kirche Amerikas passiert. Da wird ernsthaft zum "Bürgerkrieg" gegen den Hl. Vater aufgerufen, da positionieren sich Bischöfe mal hinter Erzbischof Viganò, mal hinter Papst Franziskus. Man fordert den Rücktritt des Papstes, der mit Blick auf die Bewältigung der Missbrauchsproblematik (wie auch sein Vorgänger) wichtige Schritte voran getan hat, aber an anderer Stelle auch nicht immer glücklich agierte. Ob Papst Benedikt ahnte, dass er durch seinen prophetischen (und sicher richtigen) Akt eines Rücktritts vom Amt des Papstes auch solche, vorher eigentlich unvorstellbaren Forderungen, überhaupt erst denkbar gemacht hat. Kirchenrechtlich kann ein Papst gar nicht unter Druck zurücktreten. Ob sich diejenigen Leute, die heute nach Rücktritt rufen bzw. einen solchen überhaupt als möglichen Schritt in Erwägung ziehen (Stimmen, die ja gerade im sehr konservativen Lager erklingen), wirklich bewusst sind, in welchem Maße sie das Papstamt an sich durch derlei Kampagnen beschädigen? Der Tonfall der aktuell gehäuft kursierenden Papiere lässt aufhorchen.

Ich würde mich wünschen, dass sich alle Katholiken gerade unter dem Eindruck der Krise nicht gegenseitig beharken, sondern bei den Opfern stehen, bei denen, die Jesus in die Mitte gestellt hat. Das wir ganz klar machen, dass von uns keine Gefahren ausgehen, dass jeder von uns Gott in die Hand verspricht, dass er niemals willentlich einen anderen Menschen zum Opfer macht, weder seiner sexuellen Gelüste noch irgendwelcher anderer Triebe. Dafür gibt das Evangelium Ansporn genug. Und wenn das nicht reicht, muss die Kirche ihren haupt- und ehrenamtlich engagierten Mitarbeitern eine hilfreiche EXIT – Strategie anbieten, eine sichere Zone, in die jemand flüchten kann, der in der Gefahr steht zum Täter, zum Sünder, zum Verbrecher zu werden. Egal, ob es dabei um die Versuchungen der Macht, des Geldes, der Sexualität, der Heuchelei … oder welcher Kardinalsünde auch immer geht.

Die geistlichen Grundlagen und Instrumente dafür haben wir. Mögen wir auch Kraft und Ausdauer aufbringen, eine bessere Kirche zu sein, die auf all ihren Wegen und mit jedem einzelnen Schritt mit Freude und Menschlichkeit Christus entgegen geht, wohl wissend um die eigene Fehlerhaftigkeit und Sündigkeit.

Dienstag, 28. August 2018

Die heilige Kirche als "Kinderficker-Sekte"

Kinderficker-Sekte!

So darf man nach dem Beschluss eines Berliner Amtsgerichtes seit 2012 meine katholische Kirche straflos nennen. 
Kinderficker-Sekte! Dieses Wort tut weh, sehr weh!
Aber weit schmerzhafter ist der Mißbrauch selbst, das Leid, das Kinder und Jugendliche erdulden mußten in Räumen und durch Menschen der Kirche. 
Auch wenn immer wieder Kirchenleute und Wissenschaftler darauf hinweisen, dass die Zahl der kirchlichen Mitarbeiter, der Priester, Bischöfe und Kardinäle die zu Mißbrauchern werden nicht höher ist als unter Sportlehrern, Erziehern und Familienvätern, so kann darin keinerlei Trost liegen. Jesus sagt ja in der Bibel: „Bei euch aber soll es nicht so sein.“ - und dieses Wort gilt unbedingt auch mit Blick auf Menschen, die ihren Einfluß und ihre Macht über andere Menschen ausnutzen, um ihre Triebe zu befriedigen. Und das völlig unabhängig davon, ob es sich um Kinderpornografie handelt, um „einvernehmlichen Sex“ mit Volljährigen, um Beziehungen mit Schutzbefohlenen, mit jungen Leuten in der Jugendarbeit, in Seminaren oder in der Studentenseelsorge. Bei euch aber soll es nicht so sein! Da darf die immer stärker sexualisierte Gesellschaft nicht als Entschuldigung herhalten.

In immer neuen Wellen erschüttern die Mißbrauchsfälle in der katholischen Kirche Gemeinde und Gesellschaft. Die Menschen haben ein durchaus feines Gespür für Unwahrhaftigkeiten. Man kann nicht anders als zu konstatieren: der gute Ruf der Kirche, das Renomee ihrer Seelsorger ist auf lange Zeit ruiniert. Zumindest, was ihre Stellung in der Öffentlichkeit angeht. Man muss geradezu froh und dankbar sein, dass es trotz der schrecklichen Nachrichten der letzten Jahrzehnte überhaupt noch Familien gibt, die sich in Kirche und Gemeinde engagieren und ihre Kinder den Gemeinden in Katechese, Jugendarbeit und Ferienlager anvertrauen. Ich bin zutiefst dankbar für dieses Vertrauen. Glücklicherweise ist die Mißbrauchsprävention im kirchlichen Leben sehr wichtig geworden. Hier wird inzwischen oft großartige Arbeit geleistet.

Vertuscher auf allerhöchster Ebene – der Fisch stinkt vom Kopfe her?

Nachdem in den letzten Jahren schon zahlreiche erschütternde Mißbrauchsfälle bekannt wurden richtet der Bericht einer Grand Jury der Justizbehörde von Pennsylvania nun den Focus auf das Verhalten und Versagen von Bischöfen, hier in sechs amerikanischen Bistümern. Es ist mehr als erschütternd zu lesen, wozu geweihte katholische Männer offenbar in der Lage sind. Da fehlen mir absolut die Worte. Man verstummt vor so viel Abartigkeit. Insbesondere wenn davon berichtet wird, dass Priester einander die Opfer zuführen, Kinder entsetzlich quälen, auspeitschen oder mit Kreuzen markieren bzw. gar Fotos machen, wo nackte Kinder wie gekreuzigt hingelegt werden. UNBEGREIFLICH! 
Dazu kommt der bizarre Fall des amerikanischen Kardinals Theodore McCarrick, der ganz offensichtlich intime Beziehungen pflegte und Übergriffe auf Seminaristen und mindestens einen  minderjährigen Jungen ausübte. Er unterhielt ein Ferienhaus, wo diese Personen mit ihm in einem Bett schlafen mußten. Dies war – wie zu hören ist – seit Jahren, ja Jahrzehnten gerüchteweise in breiten Kreisen der amerikanischen Kirche bekannt. 

Der vatikanische Diplomat und ehemalige Nuntius in Amerika, Erzbischof Carlo Maria Viganò hat nun – als Pensionär – ein 11seitiges „Zeugnis“ veröffentlicht, in dem er zahlreiche Kardinäle und Bischöfe, bis hin zum Papst der Mitwisserschaft und der Vertuschung bezichtigt und ihren gemeinschaftlichen Rücktritt fordert. Damit steht plötzlich auch Papst Franziskus im Focus der Vorwürfe, die aber durchaus auch seine Vorgänger mit treffen. 

Mindestens ein amerikanischer Bischof hat sich nun schon hinter dieses „Zeugnis“ gestellt, ein weiterer den Nuntius hoch gelobt, doch die Diskussion kommt gerade erst in Gang. Es irritiert jedoch, dass Erzbischof Viganò seine Anklagen in der Causa McCarrick mit eher allgemeiner Kritik am kirchenpolitischen Kurs und der Person des amtierenden Papstes verbindet. Zudem scheint McCarrick die Auflagen, die ihm Papst Benedikt auferlegt haben soll, konsequent mißachtet zu haben. Erzbischof Viganò selbst wird sich fragen lassen müssen, warum er sein Zeugnis gerade jetzt vorlegt und nicht schon vorher öffentlich benannt hatte, was doch unter Amerikas Katholiken offenbar weithin geahnt wurde. Auch befinden sich unter den angeprangerten Persönlichkeiten auffällig viele, mit denen er persönlich über Kreuz liegt. Doch selbst wenn man diese persönliche Färbung berücksichtigt, so bleibt die beschriebene Causa McCarrick verstörend genug. Und die benannten Personen werden sich erklären müssen, warum sie geschwiegen haben. Der Papst selbst wollte sich zu diesen Beschuldigungen jedoch nicht äußern. Dennoch wäre es sehr wünschenwert, wenn aus seinem Mund noch klare Worte zu hören wären. Leider drückt sich Papst Franziskus in diesen Runden nicht immer glücklich aus. Warum sagt er nicht einfach: Ich habe davon gehört, aber mir fehlen genauere Informationen und ich möchte auch mit Papst Benedikt darüber sprechen. Auch würde das den Rahmen dieser Gesprächsrunde sprengen, aber wir werden dazu Stellung nehmen.

Wie auch immer – der Fall des ehemaligen Kardinals wirft ein helles Licht auf die Schwierigkeiten, die die Kirche im Umgang mit Mißbrauchsverbrechen hat. Mögen auch die Handlungen des Ex-Kardinals mit dem normalen Strafrecht nicht (mehr) zu bestrafen sein, so verbietet die kirchliche Lehre ein solches Verhalten ja mit allergrößter Klarheit. Es ist mir unbegreiflich, mit welchen Gedankenwindungen sich der Bischof wohl innerlich gerechtfertigt haben mag. Wie hat er nur sein Gewissen erstickt? Und wie konnten über Jahre hierüber Gerüchte kursieren, ja gar Berichte nach Rom geschickt werden, ohne dass jemand klar und eindeutig einschritt? Wenn es tatsächlich unter Papst Benedikt klare Auflagen gegeben haben sollte – wieso wurden sie nicht durchgesetzt? Wieso konnte ein solcher Mann im Vatikan auch später noch ein- und ausgehen? Es dauert sicher nur einige wenige Tage, bis ein junger Geistlicher im Ordinariat zu erscheinen hat, wenn ihm die Beziehung zu einer Frau nachgesagt wird. Und wenn dies der Wahrheit entspricht, wird man ihm nahelegen, die Beziehung zu beenden oder den priesterlichen Dienst niederzulegen. Und meist hat er ohne Abschiedsfeier die Gemeinde zu verlassen. Und dann läßt man so einen „Kardinal“ einfach gewähren? Hat man aus dem Fall Groer oder den Vorgängen im Priesterseminar in Chur gar nicht gelernt? Was haben solche Menschen noch am Altar zu suchen? Viganò bezichtigt den Ex-Kardinal gar der „frevelhaften Feier der Hl. Eucharistie“. Man mag sich gar nicht ausmalen, was damit konkret gemeint ist. 

Offene Ohren und Herzen für die Opfer

Nein, der Mißbrauch von Kindern, Jugendlichen, Erwachsenen ist nicht deshalb schlimm, weil er die heilige Institution Kirche beschädigt, ja zerstört. Auch nicht, weil die Verbrechen ihrer Diener das Zeugnis des Evangeliums verdunkeln. Der Mißbrauch ist schlimm, weil er genau zu den Worten passt, die Jesus über die menschlichen Versuchungen spricht: „Wer einem von diesen Kleinen, die an mich glauben, Ärgernis gibt, für den wäre es besser, wenn ihm ein Mühlstein um den Hals gehängt und er in der Tiefe des Meeres versenkt würde. ... Wenn dir deine Hand oder dein Fuß Ärgernis gibt, dann hau sie ab und wirf sie weg! Es ist besser für dich, verstümmelt oder lahm in das Leben zu gelangen, als mit zwei Händen und zwei Füßen in das ewige Feuer geworfen zu werden. Und wenn dir dein Auge Ärgernis gibt, dann reiß es aus! Es ist besser für dich, einäugig in das Leben zu kommen, als mit zwei Augen in das Feuer der Hölle geworfen zu werden. Hütet euch davor, einen von diesen Kleinen zu verachten! Denn ich sage euch: Ihre Engel im Himmel sehen stets das Angesicht meines himmlischen Vaters.“ (Wobei die alte Einheitsübersetzung zutreffender von „zum Bösen verführt“ spricht. Wie das Jesus-Wort weiter geführt werden müßte, bezöge man es auf den amerikanischen Ex-Kardinal überlasse ich Ihrer Phantasie.)

Büßen und Beten für die Täter?
Die „Väter“ haben gesündigt – den Söhnen werden die Zähne stumpf?

Natürlich ist es eine verständliche Haltung, dass Menschen, die im Kontext der Mißbrauchsfälle eine völlig reine Weste haben, nicht in die ganze Sache mit hineingezogen werden möchten. Aber es ist so, dass wir alle, die wir uns mit der katholischen Kirche identifizieren, in ihr und für sie arbeiten, in gewisser Weise in Mithaftung genommen werden für die Taten unserer verbrecherischen „Schwestern und Brüder“. Spürbar wird das unmittelbar, wenn es um Geld geht, Geld, das zur Entschädigung, „Wiedergutmachung“, für therapeutische Maßnahmen an Menschen gezahlt wird, die die Mißbräuche überlebt haben. Da wären zunächst die Täter selbst in der Pflicht, jeden Cent, den sie nicht fürs eigene Überleben brauchen, für die Opfer abzugeben. Aber das wird nicht reichen. Paulus hat oft recht in seinen Briefen, denn es gilt auch hier: wenn ein Glied leidet, dann leiden alle anderen mit. Und als diejenigen, die der „Kinderficker-Sekte“ verbunden bleiben, tragen wir die Schuld der Täter mit. In viel klarerer Weise als dies der Verein eines mißbrauchenden Fußballtrainers zu tun hat oder die Schule eines mißbrauchenden Lehrers. Eben weil die Kirche mehr ist als eine Institution.

Und von daher hat der Papst auch recht, wenn er in seinem aktuellen Schreiben das ganze Gottesvolk mit einbezieht und zu Buße und Fasten aufruft. Auch wenn das manch einem Katholiken sauer aufgestoßen ist. Wir hängen (leider) alle mit drin, auch wenn wir persönlich absolut unschuldig sein sollten. Mir kommt das rätselhafte Wort aus dem Buch Exodus in den Sinn: „Ich suche die Schuld der Väter an den Kindern heim, an der dritten und vierten Generation, bei denen, die mich hassen.“ Auch wenn das exegetisch hier sicher nicht passt. 

Die Spannung greift Bischof Ackermann in seiner Stellungnahme zum Papstbrief auf. „Sicher wird die Frage gestellt werden, warum der Papst dieses Schreiben an das ganze Volk Gottes richtet, wo doch die Schuld und Verantwortung in erster Linie bei den Priestern, den Bischöfen und Ordensoberen liegt. Spricht der Papst nicht allzu leicht in der Wir-Form und nimmt damit diejenigen in der Kirche mit in Haftung, die aufgrund des skandalösen Verhaltens von Priestern selbst eher zu den Leidtragenden gehören? Der Brief wird sich diese Frage gefallen lassen müssen. Zugleich lässt der Papst keinen Zweifel daran, dass er dem Klerus allein nicht die notwendige Kraft zur Erneuerung zutraut.“

Mehr als gute Worte - Was wird konkret getan?

Ich bin sehr gespannt, welche konkreten Maßnahmen nun folgen werden. Und wie die Katholiken der Welt in die Entscheidungsprozesse mit einbezogen werden. Wenn der Papst im Gespräch mit Mißbrauchsopfern in Irland jedoch davon spricht, dass zur Zeit keine weiteren Maßnahmen geplant seien, dann frage ich mich, ob wir wirklich damit rechnen können, dass das verstörende Problem an der Wurzel angepackt wird. 

Kann die Kirche überhaupt über Sex reden?

Eine dieser Wurzeln ist sicherlich die Sexualmoral der Kirche. Die ist natürlich durch das Fehlverhalten und die Verbrechen eines Teils der Kleriker nicht auf einmal unlogisch und ungültig. Doch hat die Glaubwürdigkeit der kirchlichen Moralverkündigung sehr darunter gelitten. Ohne das glaubwürdige, gute und anständige Vorbild der Kirchenleute wird es schwer werden, die Menschen von diesem Weg zu überzeugen. Wenn nicht einmal die Priester „keusch“ leben, warum sollen sich normale Menschen an „einengende“ Vorgaben halten?

Aber das eigentliche Problem ist nicht die Morallehre der Kirche an sich. Es geht eher um eine überzeugende Übersetzung in die Bedingungen der heutigen Zeit. Die Prinzipien der Morallehre sind und bleiben von geradezu ewiger Gültigkeit. Aber der Kirche muss es gelingen, zu einem reifen Umgang mit der menschlichen Urkraft der Sexualität zu kommen. Und dies insbesondere bei ihren Mitarbeitern, bei Katecheten, Pastoralreferenten, Ordensleuten und Priestern. Diejenigen unter ihnen, die in Ehe und Familie leben, haben dabei ganz andere Entwicklungschancen durch die gelebte Partnerschaft als es Priester haben. Das ist eine Herausforderung, auf die es neue Antworten braucht. Wir brauchen im zölibatären Priestertum und in den Orden nur solche Menschen, die mit ihren sexuellen Trieben umgehen können, worauf auch immer die sich ausrichten. Mir ist ehrlich gesagt der homosexuelle Kaplan, der keusch und zölibatär lebt deutlich lieber als der Pfarrer, der ab und an in der nächsten größeren Stadt eine Prostituierte aufsucht. Und dieser auch noch lieber als ein Priester, der Kinder anfasst und missbraucht. 

Vielleicht ist es wirklich notwendig, einmal ganz offen und systematisch hinzuschauen, wie der Zölibat durch die Priester gelebt wird. Es gibt ganz bestimmt eine sehr große Bandbreite legitimer, priesterlicher Lebensweisen. Aber die Kirche sollte sich auch die Frage stellen, inwieweit die besondere, hervorgehobene Stellung eines Priesters und das Leben im Zölibat auch negative Einflüsse auf des Denken und Verhalten der Geistlichen haben könnte. Kennt nicht jeder von uns Priester mit ganz besonderen Marotten? Wer gibt einem Priester liebevolles Feedback, wenn er sich eher „spezielle“ Verhaltensweisen angewöhnt? Und zwar möglichst eine Person – auf Augenhöhe. Dies scheint mir umso wichtiger, als die klassische Pfarrhaushälterin seltener wird. Das Leben in der Familie, der Nachbarschaft, in Vereinen und in intensiven Freundschaften schleifen bei uns Menschen manche Ecke rund. Selbstredend darf jeder Mensch Ecken, Kanten und Marotten haben und kein Priester ist deshalb ein schlechterer Priester. Aber es gibt auch echte Fehlentwicklungen, denen man frühzeitig wehren könnte. 

Selbstverständlich steht es auch einem Priester zu, einen Fehler zu machen. Oder auch mehrere. Aber dann kommt es auch darauf an, wie er mit seinen Fehlern umgeht. Doch wenn der Fehler kein Fehler mehr ist, sondern ein Verbrechen, wenn es nicht ein Besuch bei einer Prostituierten war oder spontaner Sex im Urlaub, sondern ein Mißbrauch an Kindern … dann müssen Konsequenzen folgen. Und hier müssen unbedingt die staatlichen Strafverfolgungsbehörden einbezogen werden. 

Die Ausbildung der Priesteramtskandidaten (und anderer kirchlicher Mitarbeiter) 

Es sollte doch möglich sein, den Priesteramtskandidaten in der Ausbildung zu vermitteln, dass sie auf ihre Neigungen aufmerksam achten sollen. Warum sollte jemand der spürt, dass ihn der Umgang mit Kindern sexuell erregt, dass er sich zu besonders jungen Frauen oder Männern hingezogen fühlt, nicht das Gespräch mit einem eigens beauftragten Priester der Diözese suchen, der gemeinsam mit dem Betreffenden nach Auswegen und Therapien sucht. Es gibt doch in manchen Bistümern auch Ansprechpartner für Süchte, warum nicht für sexuelle Fragen? Das wäre doch eine möglicherweise hilfreiche Maßnahme und wenn hierdurch auch nur ein einziger Mißbrauch verhindert würde. 

Der Gedanken erscheint ihnen etwas „gewagt“? Warum denn nicht? Für kaum einen Beruf erhält der Bewerber so viel menschliche Begleitung und Formung wie für den Priesterberuf. Da sollte man solche Dinge nicht ausblenden. Aber ich fürchte obwohl sich Manches verbessert hat, konnte die Kirche insgesamt in diesen Fragen noch immer nicht zu einer einheitlichen, verständlichen, heutigen Sprache und zu einer klaren Haltung finden. Noch immer müssen wir eher verschwurbelte Erklärungen und Kommentare aus dem Mund kirchlicher Akteure hören. Besonders für die allgemeine Öffentlichkeit machen theologische und semantische Schnörkel keinen Sinn. Den Vergebungsbitten und Ankündigungen müssen Taten folgen, sichtbare und spürbare Veränderungen. 

Wir sollten als Kirche ganz genau hinschauen, aus welchen Motiven jemand Priester werden möchte. Und diese in ihrer ganzen Breite und Farbigkeit erforschen. Es gibt da neben „Berufung“ sicher einen ganzen Fächer an Motivationen bis hin zu möglichen pädophilen Neigungen vor denen man durch eine Flucht ins „keusche“ Priesterleben zu fliehen versucht – statt sich in Therapie zu begeben. 

Was ist eigentlich „Klerikalismus“?

Papst Franziskus spricht häufig von der Gefahr des „Klerikalismus“. Das ist ein schillernder Begriff.  Man hat etwas das Gefühl, dass der Papst beim Mißbrauch durch Priester sehr auf den Aspekt des Machtgefälles fixiert ist und die Vielschichtigkeit dieses Phänomens nicht ausreichend wahrnimmt. Auch Priester die ausdrücklich nicht „klerikal“ auftreten, können zu Mißbrauchern werden, gerade weil sie den Jugendlichen nahe sein wollen.

Jeder Priester muss in der Lage sein, seine Triebe zu beherrschen (auch jeder Pastoralreferent, selbst wenn er ledig sein sollte), selbst wenn eine 20jährige, sehr attraktive Jugendliche bewußt Sex mit ihm will. Und auch dann noch, wenn Alkohol und eine aufgeladene Stimmung im Spiel ist. Das ist nicht zuviel verlangt. Gewisse innerliche Grenzen braucht es, die man im Umgang mit Kindern und Jugendlichen nicht überschreitet, niemals. Zu Recht verlangt die Kirche dies auch von den Eheleuten. 

Nur kein Aufsehen! Nur niemanden bloßstellen!

Ich spüre bei mir selbst, dass ich geneigt bin, den entsetzlichen Skandal zu verharmlosen. Ich kann mir auch vorstellen, dass ich gar nicht genau hinsehen möchte, wenn mir jemand erzählt, ein Pfarrer habe eine Beziehung oder ein anderer würde mit den Kindern gemeinsam duschen gehen oder hätte ein Kind unsittlich angefasst. Ich habe das einmal erlebt, als mir Gemeindemitglieder vor Jahren einmal erzählten, sie hätten meinen damaligen Pfarrer mit einer Frau in einem Einkaufzentrum gesehen und er habe eine Beziehung mit dieser verheirateten Frau. Man fängt an, nach entlastenden Erklärungen für Dinge zu suchen die jenseits der eigenen Vorstellungswelt liegen oder die einfach zu schmerzhaft, unangenehm, schrecklich sind.

Dieses Phänomen nutzen die Täter gezielt aus, und versuchen die Menschen in ihrem Umfeld einzulullen und ihr Tun zu verschleiern und zu verharmlosen. So ist mancher gern geneigt, den Erklärungen und Verharmlosungen Glauben zu schenken. 

Anders kann ich mir die jahrzehntelange „Vertuschung“ solcher Vorfälle und Verbrechen kaum erklären. Ich fürchte inzwischen allerdings auch, dass es in der Kirche sogar Netzwerke geben könnte, wo Priester solche Verbrechen gegenseitig ermöglichen und verschleiern. Die Erfahrung zeigt, dass die Täter sehr geschickt sind, ihr Umfeld zu manipulieren und dafür auch gewisse Mechanismen des Klerikalismus und der Frömmigkeit zu mißbrauchen und ihr nach wie vor hohes Sozialprestige einzusetzen.

Was tun mit den Tätern?

Der Papst hat auch kürzlich wieder von einer „Null-Toleranz“ für Mißbraucher gesprochen. Das ist sicher richtig. Aber es muss auch sichtbar und für Täter und Opfer spürbar werden. Es darf nicht sein, dass der Mißbraucher gemütlich in einer schönen Stadt lebt und von seiner Rente recht gut leben kann, während das Opfer aufgrund seiner Traumatisierungen jeden Tag mit den Folgen der Taten kämpft und wirtschaftlich nicht auf die Beine kommt. Ob der Rentner nun noch Messen zelebriert oder nicht, ob ihm die Ausübung des Priesteramtes verboten wird oder er sogar laiisiert wird, das spielt keine Rolle wie die Tatsache, dass er nicht spürbar bestraft und an weiteren Taten gehindert wird. Es ist sicher nicht leicht, hier Gerechtigkeit möglich zu machen, zumal das staatliche Recht nicht immer hilfreich ist. Aber wir müssen es versuchen. 

Es stellt sich daher die Frage, was mit Leuten, wie Kardinal McCarrick geschehen soll. Einige facebook-Freunde haben schon sowas wie Inklusenzellen vorgeschlagen, wo man ihn bei Wasser und Brot... Es darf nicht sein, dass sich die Kirche mehr darum bemüht, den Täter angemessen unterzubringen und zu beschäftigen als dem Opfer eine weitgehende Rückkehr ins Leben zu ermöglichen. Natürlich trägt die Kirche Mitverantwortung für die Zukunft des Täters. Allein schon, um weitere Taten zu verhindern. So ganz abwegig fände ich ein geschlossenes „Chorherrenkloster“ mit regelmäßigen Gebeten und Gottesdiensten unter Vorsitz eines unbescholtenen Gefängnisseelsorgers nicht. Ein Haus, in das sie nach der im Gefängnis verbüßten Strafe einziehen. Ein Haus, wo die Bewohner nicht einfach so ihre Zimmer verlassen können, aber doch immer wieder zu Gottesdiensten zusammenkommen. Wo sie durchaus auch eine Zeitlang von den Sakramenten ausgeschlossen werden und therapeutische Hilfe bekommen. Ein Haus mit einer klaren und strengen Regel und der Gelegenheit mit Fasten und Arbeiten überzeugend Buße zu tun und den Opfern so weitere Unterstützung zukommen zu lassen. 

Die Homo-Lobby und der Mißbrauch???

Gerade haben sich wieder zwei Bischöfe zu Wort gemeldet, Kardinal Burke in den USA und der Schweizer Weihbischof Eleganti, die aus der Tatsache, dass die allermeisten Mißbrauchsfälle zwischen Priestern und männlichen Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen angezeigt wurden ableiten, dass man die angebliche Homosexualität der Mißbrauchstäter genauer in den Blick zu nehmen habe. Damit greifen sie Gerüchte um eine „Homo-Lobby“ im Vatikan und verschiedene Skandale der letzten Zeit auf, mit Priestern, die mit Callboys oder in homosexuellen Partnerbörsen verkehrten. 

Das Bistum St. Gallen hat sich soeben in scharfer Form gegen solche Mutmaßungen verwahrt und sich von den Worten des Weihbischofs distanziert. „Es ist unerträglich, dass die Thematik der Übergriffe mit dem Thema der Homosexualität verbunden wird. Eine solche Aussage ist das Gegenteil von seriösen Anstrengungen, künftig sexuelle Übergriffe zu verhindern und die geschehenen schlimmen Taten an Opfern aufzuarbeiten.“ 

Nein, mit Homosexualität hat Mißbrauch, auch wenn er an 16 – 18jährigen Schülern geschieht, nichts zu tun. Es hat aber sehr wohl mit einer unausgereiften, ungesunden und fehlgeleiteten Sexualität zu tun. Es ist erschütternd, dass es nicht gelingt, solche angehenden Priester frühzeitig zu identifizieren und evtl. die Hilfe von Psychologen und Psychiatern in Anspruch zu nehmen, auch um eine Reifung in der sexuellen Identität zu ermöglichen. Nicht selten gelingt es diesen Personen, ihre Neigungen unter besonderen anderen Stärken, durch theologische und menschlich-kommunikative Qualitäten oder besondere Frömmigkeit zu verbergen. Ob sich solche unausgereifte, kranke Sexualität dann auf junge Männer oder Frauen ausrichtet ist unerheblich. Das Problem sind nicht Priester mit homosexueller Ausrichtung, sondern solche mit krankhaften Neigungen oder mangelnder Triebkontrolle.

Die statistischen Zahlen über Missbrauch auf Homosexualität der Täter bzw. auf homosexuelle Netzwerke zuzuspitzen kommt einer Verharmlosung der ganzen Problematik gleich. Der Missbrauch ist ein Krebsgeschwür, dass die ganze Kirche durchzieht. Dafür gibt es keine einfache Erklärung. Schuld ist nicht einfach der "Modernismus", die "Homo-Lobby" bzw. "die Schwulen" oder die "sexuelle Revolution". Derlei Erklärungsmuster greifen viel zu kurz und verschleiern die Dramatik des Problems, für das es keine ganz einfachen Lösungen gibt.

Wenn es so ist, dass bestimmte Formen des Missbrauchs innerhalb der Kirche gehäuft vorkommen (Ältere männliche Täter nutzen ein Machtgefälle, um sich vor allem älteren Jungen, Jugendlichen und jungen Männern zu nähern), gerade dann muss sich die Kirche fragen, warum sie einen solchen Tätertypus anzieht und welche Mitschuld sie selbst an dieser auffälligen Häufung einer derart fehlgeleiteten sexuellen Orientierung bei ihrem Priestern trägt. Deren pädophile Ausrichtung hat sich nämlich zu weiten Teilen im Schoß und unter dem Dach der Kirche selbst entwickelt.

Dass besonders viele Jungen zu Opfern wurden hat – so zeigt es ja auch der Fall McCarrick - offenbar damit zu tun, dass diese für die Täter leichter verfügbar waren. Möglicherweise liegt auch ein Teil der Erklärung in der Tatsache, dass manche Priesteramtskandidaten sich einer homosexuellen Veranlagung nicht stellen und sie ablehnen bzw. oberflächlich bekämpfen (weil das in der Priesterausbildung ja bis heute nicht gern gesehen wird bzw. sogar durch vatikanische Instruktion die Weihe von Männern mit tiefsitzenden homosexuellen Neigungen ausgeschlossen wird). Auch hierdurch mag es zu Fehlentwicklungen kommen. Hier wäre eine Präzisierung der Vorgaben notwendig, die den Kandidaten völlige Offenheit ermöglicht.


Wie wird es weiter gehen?

Es wird notwendig sein, auch die Macht- und Gehorsamsstrukturen innerhalb der Kirche kritisch in den Blick zu nehmen, inwieweit durch diese Traditionen und Hierarchien die Aufdeckung von Missbrauchsfällen behindert wurde und wird. Es wird sich auch die Frage stellen, inwieweit Laien, Frauen, Mütter, Väter in den Entscheidungswegen und Kontrollinstanzen mit ihrem Sachverstand und ihrer besonderen Sensibilität in solchen Fragen stärker eingebunden werden müssten.

Ich bin inzwischen 51 Jahre alt, als ich geboren wurde war das 2. Vatikanische Konzil gerade vorbei. Seit meiner Kindheit bin ich in der Kirche aktiv, seit mehr als der Hälfte meiner Lebenszeit nun katholische Seelsorger. Eine so beispiellose Krise habe ich bis heute nicht erlebt, bei allem Auf und Ab der vergangenen Jahre. Es ist Zeit für ein entschlossenes Handeln, um das Phänomen an der Wurzel zu packen, denn der Mißbrauchskandal legt einige Schwachstellen der Kirche offen. Auch haben einige Beobachter der Situation deutlich gemacht, dass der Klerus allein nicht die notwendige Kraft zur Erneuerung haben wird und dass hierzu auch die Stimme der Laien gehört und ihr guter Rat berücksichtigt werden muss. Daher stimme ich dem Bischof von Portsmouth in Großbritannien, Philip Egan unbedingt zu, der eine Bischofssynode der Weltkirche zu dieser Thematik fordert.

Bis dahin sollte in den Bistümern der Welt alles getan werden, um mit den Betroffenen des Mißbrauchs auf allen Ebenen ins Gespräch zu kommen, sie bei ihrem Lebensweg nach Kräften zu unterstützen, die Ausbildung der Priester noch weiter zu verbessern, eine offene Gesprächskultur auch über schwierige Fragen zu etablieren, den Geist der Gemeinschaft zwischen Laien, Ordensleuten und Klerikern zu stärken und ihr Miteinander zu fördern und die Augen offen zu halten und Herz und Ohren zu öffnen für die Opfer von Mißbrauch, der ja auch außerhalb kirchlicher Lebenswelten millionenfach geschieht. Die Kirche hat ein so wertvolles und heute leider überaus notwendiges Zeugnis zu geben von einer sehr menschlich gelebten, liebevoll gestalteten Sexualität. Dieses lebenswichtige Zeugnis dürfen wir nicht durch unser fehlerhaftes Handeln, unsere abgehobene Sprache und Fehler in Verkündigung und Kommunikation der Menschheit vorenthalten. 

Herr, erwecke deine Kirche
und fange bei mir an.

Vergebungsbitte von Papst Franziskus:

„Gestern traf ich acht Menschen, die den Missbrauch von Macht, Gewissen und Sexualität überlebt hatten. In Anlehnung an das, was mir gesagt wurde, möchte ich diese Verbrechen zu Füßen der Barmherzigkeit des Herrn legen und um Vergebung bitten.

Wir bitten um Vergebung für Missbrauch in Irland, Missbrauch von Macht und Gewissen, sexuellen Missbrauch durch Mitglieder, die verantwortungsvolle Positionen in der Kirche innehatten, und insbesondere um Vergebung für jeden Missbrauch, der in verschiedenen Arten von Institutionen unter der Leitung von Ordensleuten und anderen Kirchenangehörigen begangen wurden.

Wir bitten auch um Vergebung für die Fälle von Arbeitsausbeutung, zu denen so viele Kinder gezwungen wurden: Wir bitten um Vergebung.

Wir bitten um Vergebung für all jene Zeiten, in denen wir als Kirche den Überlebenden keinerlei Form von Mitgefühl, Suche nach Gerechtigkeit und Wahrheit mit konkreten Taten gezeigt haben: Wir bitten um Vergebung.

Wir bitten um Vergebung für jene Mitglieder der Hierarchie, die diese schmerzhafte Situation nicht angegangen sind, sondern geschwiegen haben: Wir bitten um Vergebung.

Wir bitten um Vergebung für die Kinder, die ihren Müttern weggenommen wurden, und für all die Zeiten, in denen alleinerziehenden Müttern, als sie später ihre Kinder suchten, gesagt wurde, die Suche nach den Kindern, von denen sie getrennt worden waren, sei eine Todsünde - und dasselbe wurde den Söhnen und Töchtern gesagt, die nach ihren Müttern suchten. Dies ist keine Todsünde, es ist das vierte Gebot. Wir bitten um Vergebung.

Möge der Herr diesen Zustand von Scham und Schuld aufrechterhalten und wachsen lassen und uns die Kraft geben, dafür Sorge zu tragen, dass diese Dinge nie wieder geschehen und dass Gerechtigkeit wird. Amen.“