Montag, 15. April 2019

Ein lauter Aufschrei aus dem Schweigekloster

Beinahe aus heiterem Himmel überraschte der emeritierte Papst Benedikt XVI. die katholische Welt mit einem umfassenden Schreiben zu einigen Aspekten der Krise, in die die katholische Kirche durch die Aufdeckung lange unter der Decke gehaltener Fälle körperlicher, spiritueller und gar sexueller Gewalt, geraten ist.

Überraschend, dass der 91jährige, 265. Bischof von Rom sich aus dem selbst gewählten Leben in Stille und Zurückgezogenheit erneut zu einem derart öffentlichkeitswirksamen Thema zu Wort meldet. Sicher auch ein Zeichen, dass ihn die aktuelle Krise zuinnerst berührt.
(Morgen feiert er übrigens seinen 92. Geburtstag.)

Sein 15seitiger Artikel, den er aus Notizen zusammenstellte, die er sich in den vergangenen Jahren zu diesem Thema gemacht hatte, erschien in deutscher Sprache im bayrischen Klerusblatt, einer Zeitschrift, der er über Jahrzehnte eng verbunden war. Sein Sekretär, Erzbischof Georg Gänswein beteuerte dieser Tage, dass Benedikt den Text eigenhändig verfasst habe.

Liest man die Kommentare und Analysen in weltlichen wie theologischen Zeitungen und verfolgt die Diskussionen in den sozialen Medien … muss es im Grunde mindestens zwei völlig unterschiedliche Variationen dieses Aufsatzes geben. Auf der einen Seite beinahe frenetischer Jubel, auf der anderen Seite ein vollständiger Verriß, der jede Achtung vor der Lebensleistung des Joseph Ratzinger vermissen läßt. Gemäßigte Stimmen sind selten, im Grunde gibt es nur „Pro und Contra“. Inzwischen melden sich auch Fachtheologen reihenweise zu Wort, die zwar unwesentlich gemäßigter reagieren, aber je nach kirchenpolitischer Ausrichtung ablehnend bis freudig. Die deutschen Bischöfe verhalten sich derzeit noch auffällig zurückhaltend.

Wie wenig manche vollmundige Kommentatoren dabei über Benedikt XVI. wissen, das offenbarte ausgerechnet der CICERO in einem Tweet: „Als er noch Papst war, hat er geschwiegen über den massenhaften sexuellen Missbrauch von Kindern. Jetzt meldet sich Papst Benedikt plötzlich zu Wort. Sein Beitrag dürfte jedoch nicht dazu beitragen, die Aufarbeitung zu befördern.“

Und ein im Grunde stets besonnener Priester schreibt auf facebook: „Die Kritiker Benedikts XVI. schäumen nun vor Wut. Sie können das Licht der Wahrheit nicht vertragen, da sie sich auf die Finsternis eingelassen haben. Jetzt schmerzen ihre Augen.“

Das ist eine Atmosphäre, in die hinein Kardinal Müller, einst enger Mitarbeiter des emeritierten Papstes, inzwischen aber außer Dienst gestellte Präfekt der Glaubenskongregation, mit spürbarer Freude etwas Öl ins lodernde Feuer gießt, so gerade eben in einem Interview mit der DPA:

Ex-Papst Benedikt XVI. habe mit seinem Schreiben als Einziger etwas Sinnvolles zur Missbrauchsdebatte in der katholischen Kirche beigetragen. „Benedikt hat in seinem Schreiben die Eiterbeule aufgestochen“. „Mit seinen 92 Jahren hat Benedikt XVI. einen Text verfasst, der intelligenter ist als alle Beiträge auf dem römischen „Missbrauchsgipfel“ und der neunmalklugen Moral-Experten bei der Deutschen Bischofskonferenz zusammen. Man sucht überall nach Schuldigen, umschleicht aber wie die Katze den heißen Brei“, sagte Müller. „Und das ist das falsche materialistische Menschenbild mit der Reduktion der Sexualität auf eine Ware und egoistische Genussmittel.“

Wie mag das den Menschen in den Ohren klingen, die in den letzten Monaten durchaus sehr sinnvolle Beiträge zur Missbrauchsdebatte geleistet haben?

Wenn es eine dem Postillion ebenbürtige katholische Satireseite gäbe, wäre man versucht zu denken, es habe sich einer einen gelungenen Scherz erlaubt. Aber das ist offenbar der Duktus eines katholischen Kardinals auf dem Höhepunkt der größten Krise, die die katholische Kirche seit vielen Jahren durchlebt. Christen streiten auf dem Niveau gewisser politischer Parteien um die richtigen Schritte zu einen neuen Aufbruch in der Kirche.

Wobei zur Ehrenrettung der Politik wäre noch zu sagen: Dort ist der Konflikt im besten Falle etwas inszeniert, um die Wähler zu motivieren und Themen zu profilieren. Hinter den Kulissen wird meist manierlich diskutiert und um Lösungen gerungen. Und nach der Sitzung trinkt man auch mal ein Bier. In der Kirche geht es aktuell offenbar eher um Leben und Tod, Himmel und Hölle, unumstössliche Wahrheit und Abfall vom Glauben. Kardinal Müller über die Gegenseite: „Das sind Leute, die weder glauben noch denken!“

Kein Wunder, dass viele Menschen dieser Art von Kirche kopfschüttelnd und enttäuscht den Rücken kehren. Ja, es gibt höchst unterschiedliche Auffassungen, wie angemessene Reaktionen auf die Krise aussehen könnten und wie die Krise zu überwinden ist. Aber ich bin schon der Meinung, dass wir als Christen auf andere Weise für unsere Überzeugungen streiten sollten. So, dass wir uns dabei noch in die Augen schauen können. Und so, dass wir einander in der Hl. Messe noch mit ehrlicher Überzeugung den Frieden wünschen können.

Grundsätzlich gehe ich erst einmal davon aus, dass eine Jacqueline Straub, die für das Priestertum der Frau streitet, ein Joachim Frank, der als Journalist für eine liberalere Kirche eintritt, ein Kardinal Sarah, der zutiefst erfüllt ist von altüberlieferten liturgischen Gesten und Haltungen, dass ein Papst Franziskus, ein Bischof Oster und ein Bischof Wilmer alle nach dem rechten Weg im Glauben suchen, den Weg, auf den Jesus Christus uns sehen möchte. Es ist hohe Zeit die Spaltungen zu überwinden und die Spalter zur Mäßigung zu rufen. Unser Streit sollte ein Niveau haben, wie es die Apostelgeschichte vom Streit zwischen den Aposteln Petrus und Paulus berichtet. Wir sollten unserem kirchenpolitischen Gegenüber nicht böse Absichten unterstellen und alle gemeinsam um den richtigen Weg ringen. Das gelingt nur, wenn wir uns an Evangelium und Tradition ausrichten, wenn wir bereit sind zu lernen und zu verstehen und dem Anderen mit Vertrauen und Freundlichkeit gegenüber treten. Vor allen großen Kirchenreformen hätten wir da aktuell erst einmal genug zu tun. Es kracht gewaltig im Gebälk der katholischen Kirche. Wir müssen aufpassen, dass wir nicht in Kürze in den Ruinen unserer Kirche im Regen stehen.

Ich glaube, wir müssen als Menschen guten Willens und unterschiedlicher Überzeugung mehr miteinander nach neuen Wegen Ausschau halten, vor allem nach gemeinsamen (Pilger-)wegen. Die Spalter und Durcheinanderbringer – die es durchaus auch gibt – sind mit etwas gutem Willen leicht zu identifizieren. Wie Papst Benedikt XVI. in seinem Schreiben sagt, so duldet Gott in seiner Kirche das Unkraut und den Weizen. Wir sollten nicht allzu vorschnell beginnen die falschen Pflanzen auszureißen.

Ich muss gestehen, dass das Schreiben von Papst Benedikt auch mich zunächst verstört hat. Daher habe ich mir die Zeit genommen es in Ruhe zu lesen. Die Anmerkungen, die mir bei der Lektüre in den Sinn gekommen sind möchte ich an dieser Stelle weiter geben. Kritisch, aber auch mit dem gebotenen Respekt vor der Lebensleistung eines großartigen Theologen und Kirchenmannes, den ich stets geschätzt, respektiert, zeitweise verehrt habe. Aber es macht ja auch keinen Sinn, dort nicht zu widersprechen, wo sich Fragen stellen oder die eigenen Überzeugungen zum Widerspruch rufen.

Auf den einleitenden Satz Benedikts z.B. sollten sich doch alle, die die Kirche im Herzen tragen, einigen können: „Der Umfang und das Gewicht der Nachrichten über derlei Vorgänge haben Priester und Laien zutiefst erschüttert und für nicht wenige den Glauben der Kirche als solchen in Frage gestellt. Hier mußte ein starkes Zeichen gesetzt und ein neuer Aufbruch gesucht werden, um Kirche wieder wirklich als Licht unter den Völkern und als helfende Kraft gegenüber den zerstörerischen Mächten glaubhaft zu machen.“

Diesem Neubeginn möchte der em. Papst mit seinen Gedanken unterstützen.

Zunächst stellt er den Wandel der Sexualmoral rund um die sog. 68er – Bewegung in den Mittelpunkt seiner Überlegungen: „Man kann sagen, daß in den 20 Jahren von 1960 – 1980 die bisher geltenden Maßstäbe in Fragen Sexualität vollkommen weggebrochen sind und eine Normlosigkeit entstanden ist, die man inzwischen abzufangen sich gemüht hat.“

Ich kann gut nachvollziehen, dass ihn dieser Wandel sehr bewegt hat. Er erlebte diesen auf dem Höhepunkt seiner wissenschaftlichen Laufbahn aus allernächster Nähe mit und offenbar hat dieser Wandel ihn sehr irritiert und beschäftigt. Mit Blick auf die Situation der Kirche zieht er das Fazit: „Der weitgehende Zusammenbruch des Priesternachwuchses in jenen Jahren und die übergroße Zahl von Laisierungen waren eine Konsequenz all dieser Vorgänge.“

Dass es nach dem 2. Vatikanum zu diesen Phänomenen kam, ist ja in der Tat ein verwirrendes Faktum, das bis dato noch wenig aufgearbeitet wurde.

Es ist sicher berechtigt, diesen 1. Absatz des Schreibens daraufhin zu befragten, ob hier nicht nur die negativen Seiten der sexuellen Revolution in den Focus gestellt wurden. Die ist ja nicht von finsteren Mächten angestiftet worden, sondern war die Folge eines breiten gesellschaftlichen Wandels.

Dass die Kirche und damit der emeritierte Papst und langjährige Präfekt der Glaubenskongregation in der sexuellen Revolution plötzlich keinen Widerspruch zur kirchlichen Lehre mehr erkennen würde, kann im Grunde auch niemand erwartet haben. Von daher ist die Betroffenheit vieler Kommentatoren da etwas scheinheilig.

Problematisch empfinde ich im Text des ehemaligen Pontifex die sehr allgemein gehaltene Bemerkung zum Ende des 1. Absatzes: „Zu der Physiognomie der 68er Revolution gehörte, daß nun auch Pädophilie als erlaubt und als angemessen diagnostiziert wurde.“

Man darf sicher mit Fug und Recht auch auf die negativen Folgen und auch die Irrwege der sexuellen Revolution hinweisen. Da gab es auch mit Blick auf die Sexualität von Kindern und Jugendlichen ausgesprochen obscure Sichtweisen. Aber insgesamt gesehen wurde Pädophililie mitnichten als erlaubt und angemessen betrachtet. Erst recht nicht, wenn man die normalen Menschen betrachtet, die nicht im Auge des Sturms der sexuellen Revolution irgendwelche neuen Theorien entwickelten. Bis zum heutigen Tag haben die Menschen jedoch ein feines Gespür dafür, dass Kinder (erst recht die eigenen Kinder) vor Grenzverletzungen und sexueller Gewalt bewahrt werden müssen. Und die zunehmend klareren gesetzlichen Regelungen zur Verhinderung von Mißbrauch und Therapie und Bestrafung der (möglichen) Täter sind sicher auch eine Frucht intensiver Reflexion.

Im Kontext der sexuellen Revolution in der Gesellschaft im Gefolge der 68er – Bewegung schildert Benedikt XVI. nun ausführlich einige problematische Entwicklungen in der Moraltheologie der Kirche. Da geht es um die Bedeutung des Naturrechts und der Rolle der Bibel, um die (Un-)möglichkeit eine Morallehre nur auf der Bibel aufzubauen, um Konflikte zwischen den universitären Moraltheologen und dem kirchlichen Lehramt. Am Beispiel des Moraltheologen Franz Böckle schildert der emeritierte Papst den Kernkonflikt, nämlich die These, ob es in der Sicht der Moraltheologie Handlungen geben könne, die immer und unter allen Umständen als schlecht einzustufen seien. Hier haben ihm viele Kommentatoren zum Vorwurf gemacht, dass Franz Böckle (der gegen eine solche Entscheidung Widerstand angekündigt hatte), zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der entsprechenden päpstlichen Enzyklika bereits verstorben war.

Hier mag es sich um eine sehr abstrakte moraltheologische Diskussion handeln, aber mit Blick auf Pädophilie finde ich, handelt es sich hier ja doch um Taten, die immer und unter allen Umständen als schlecht einzustufen sind.

Kardinal Müller fasst diese Gedanken seines Landsmannes mit den Worten zusammen: „Das grundsätzliche Problem bestehe in einem Zusammenbruch der bürgerlichen Moral und dem aus seiner Sicht missglückten Versuch "einer katholischen Moralbegründung ohne das Naturrecht und die Offenbarung".

Interessant – und bedenklich finde ich die bisher noch wenig beachteten, abschließenden Bemerkungen, mit denen Benedikt sich Gedanken zur Zukunft des Christentums macht: „In der alten Kirche wurde das Katechumenat gegenüber einer immer mehr demoralisierten Kultur als Lebensraum geschaffen, in dem das Besondere und Neue der christlichen Weise zu leben eingeübt wurde und zugleich geschützt war gegenüber der allgemeinen Lebensweise.“ Hiervon ausgehend fordert er „katechumenale Gemeinschaften“, in denen sich christliches Leben behaupten könne. Also letztlich, ein Rückzug aus der Welt in Reservate des Christlichen. Benedikt greift damit einen in jüngster Zeit wieder populären Gedanken auf, der in manchen christlichen Kreisen diskutiert wird.

Den 2. Teil seiner Gedanken beginnt Benedikt XVI. mit der Information, dass sich im Zuge der 68er – Bewegung in den Seminaren regelrechte Clubs schwuler Seminaristen bildeten. Für ihn ein Symptom des Zusammenbruchs der überlieferten Priesterausbildung. Es ist übrigens die einzige Stelle, wo er das Thema Homosexualität erwähnt, wenn auch nur im Sinne einer Illustration seiner Gedanken.

Besonders verstörend ist es für mich als Pastoralreferenten, dass in diesem Zusammenhang in demselben Absatz neben dem Skandal der homosexuellen Clubs folgendes erwähnt wird: „In einem Seminar in Süddeutschland lebten Priesteramtskandidaten und Kandidaten für das Laienamt des Pastoralreferenten zusammen. Bei den gemeinsamen Mahlzeiten waren Seminaristen, verheiratete Pastoralreferenten zum Teil mit Frau und Kind und vereinzelt Pastoralreferenten mit ihren Freundinnen zusammen. Das Klima im Seminar konnte die Vorbereitung auf den Priesterberuf nicht unterstützen.“

Dieser Abschnitt liest sich mehr als sonderbar. Wie soll Priesterausbildung durch den Kontakt mit verheirateten Männern bzw. bald verheirateten Männern in Gefahr sein? Welches Seminar meint er eigentlich? In Süddeutschland? Und geht es nur um das gemeinsame Studium von Priesteramtskandidaten mit anderen Theolog*innen, die dann auch im Seminar Wohnung nahmen? Junge Priester und Diakone haben doch schon unmittelbar nach der Weihe ganz vielfältige Kontakte mit jungen Männern, Frauen, Eheleuten. Warum sollte es schädlich sein, wenn sie Kommilitonen erleben, die nicht im Zölibat leben.

Sicher prägt es die Atmosphäre in einer Priesterausbildung, wenn auch andere Personen im Haus anwesend sind. Das bringt aber höchstens eine gewisse sehr besondere Atmosphäre in Gefahr, bei der es fraglich ist, ob sie in der heutigen Zeit überhaupt noch förderlich ist – mit Blick auf den Einsatz der Priester in den Gemeinden, mitten unter den Menschen.

Über die unterschiedlichen Facetten der stürmischen Reformen, die einige Bischöfe in ihren Seminaren für sinnvoll hielten, kann ich mir kein Urteil erlauben. Insgesamt konstatiert ja auch Benedikt XVI., dass sich die Situation nach einigen unruhigen Jahren wieder verbessert habe.

Die Frage der Pädophilie ist, soweit ich mich erinnere, erst in der zweiten Hälfte der 80er Jahre brennend geworden.“ stellt er fest. Als sich die Aufmerksamkeit des Hl. Stuhls auf die Problematik richtete, fand man zunächst offenbar nicht sofort die richtigen Instrumente, mit den Tätern umzugehen. Insbesondere ein sog. „Garantismus“, der vor allem die Rechte des Angeklagten in den Mittelpunkt stellte, erschwerte offenbar adäquates und konsequentes Handeln.

Benedikt verweist auf einen spannendes Wort Jesu, welches sagt: „Wer einen von diesen Kleinen, die an mich glauben, zum Bösen verführt, für den wäre es besser, wenn er mit einem Mühlstein um den Hals ins Meer geworfen würde“ (Mk 9, 42). Dieses Wort spricht in seinem ursprünglichen Sinn nicht von sexueller Verführung von Kindern. Das Wort „die Kleinen“ bezeichnet in der Sprache Jesu die einfachen Glaubenden, die durch den intellektuellen Hochmut der sich gescheit Dünkenden in ihrem Glauben zu Fall gebracht werden können. Jesus schützt also hier das Gut des Glaubens mit einer nachdrücklichen Strafdrohung an diejenigen, die daran Schaden tun. Die moderne Verwendung des Satzes ist in sich nicht falsch, aber sie darf nicht den Ursinn verdecken lassen.“

Es fällt hier ins Auge, dass Benedikt den Satz nicht mit Blick auf die Opfer der Angeklagten liest, sondern mit Blick auf deren Gläubigkeit, die durch die Handlungen des Täters gefährdet sei. Das liegt sicher auf der Linie der Verkündigung Jesu und der Perspektive dass es auch um das ewige Heil des Menschen geht. Für Benedikt verschärft dieser Aspekt die Greultaten der priesterlichen Täter noch weit über die unmittelbaren Folgen sexueller Gewalt hinaus. Aber weitere Worte zu den innerweltlichen Folgen wären hier doch sehr notwendig gewesen.

An dieser Stelle gähnt in Benedikts Schreiben leider eine gewaltige Lücke. Hier wäre der Raum gewesen, über die Folgen der Taten für die Opfer zu sprechen. Über die notwendige Solidarität mit den Opfern, über Wiedergutmachung und Hilfe durch die Institution, die den Tätern die Möglichkeit zu ihren Verbrechen geboten hatte. Auch über Strafen, für diejenigen, die die Täter haben davon kommen lassen, hätte er etwas sagen können.

Auf dieser Linie liegt auch das sehr persönliche Beispiel, dass er später im Text anführt: „Eine junge Frau, die als Ministrantin Altardienst leistete, hat mir erzählt, daß der Kaplan, ihr Vorgesetzter als Ministrantin, den sexuellen Mißbrauch, den er mit ihr trieb, immer mit den Worten einleitete: „Das ist mein Leib, der für dich hingegeben wird.“ Daß diese Frau die Wandlungsworte nicht mehr anhören kann, ohne die ganze Qual des Mißbrauchs erschreckend in sich selbst zu spüren, ist offenkundig. Ja, wir müssen den Herrn dringend um Vergebung anflehen und vor allen Dingen ihn beschwören und bitten, daß er uns alle neu die Größe seines Leidens, seines Opfers zu verstehen lehre. Und wir müssen alles tun, um das Geschenk der heiligen Eucharistie vor Mißbrauch zu schützen.“

Mit den Worten: „Was müssen wir tun? Müssen wir etwa eine andere Kirche schaffen, damit die Dinge richtig werden können? Nun, dieses Experiment ist bereits gemacht worden und bereits gescheitert. Nur der Gehorsam und die Liebe zu unserem Herrn Jesus Christus kann den rechten Weg weisen.“ beginnt der emeritierte Papst den dritten Abschnitt seiner Überlegungen und läßt eine sehr tiefgründige Katechese über Gott und Welt, Offenbarung und den Sinn des Lebens folgen. Hier würde ich mir von evangelischen Geschwistern wünschen, dass sie den Satz nicht als Spitze gegen die reformierten Kirchen lesen, sondern als schlichte Beschreibung des allgemeinen Zustands: In Sachen Glauben steht die eine Kirche nicht besser da als die andere.

Dann diagnostiziert Benedikt XVI. die Krise der westlichen Gesellschaften, die vor allem darin begründet liege, dass in ihr Gott tot sei und dieses sei dann „das Ende ihrer Freiheit, weil der Sinn stirbt, der Orientierung gibt. Und weil das Maß verschwindet, das uns die Richtung weist, indem es uns gut und böse zu unterscheiden lehrt.“

Seine Gedanken gehen dann über in die These, dass angesichts der schwindenden Maßstäbe die Pädophilie sich immer weiter ausgebreitet habe. „Wieso konnte Pädophilie ein solches Ausmaß erreichen? Im letzten liegt der Grund in der Abwesenheit Gottes. Auch wir Christen und Priester reden lieber nicht von Gott, weil diese Rede nicht praktisch zu sein scheint.“ Immerhin nimmt er sich selbt nicht einmal von diesem Vorwurf aus.

Diesen Gedanken des schrittweisen Verdrängens der Gottesfrage bezieht Benedikt XVI. auch auf das Altarsakrament. Wo der Glaube an die Existenz Gottes schwindet bzw. an Kontur verliert, da wird auch die Eucharistie bedeutungsloser bis hin zum reinen Gemeinschaftsmahl.

Es wird klar, worum es ihm in diesem Abschnitt geht. Er erwartet für die Kirche Zukunft nicht aus eher oberflächlichen Reformen der Kirchenstrukturen, nicht aus einem Ende des Klerikalismus, nicht aus einer erneuerten Sexualmoral, nicht in einer weitgehenden Gleichberechtigung männlicher wie weiblicher Glaubender. Die Zukunft der Kirche liegt allein in einem Wachsen im Glauben, in einer wieder stärkeren Verankerung in Gott und im Leben nach seinen Weisungen.

In der Tat ist diese Mahnung sicher nicht unberechtigt. Das Thema wird aktuell in der Kirche ja breit diskutiert, wenn auch mit offenbar wenig Hoffnung auf einvernehmliche Lösungen. Vieles, was landauf, landab gefordert wird sind Reformen, die (noch) nicht zu Ende durchdacht und wirklich aus dem Glauben heraus getragen werden. „Die Krise, die durch die vielen Fälle von Mißbrauch durch Priester verursacht wurde, drängt dazu, die Kirche geradezu als etwas Mißratenes anzusehen, das wir nun gründlich selbst neu in die Hand nehmen und neu gestalten müssen. Aber eine von uns selbst gemachte Kirche kann keine Hoffnung sein.“

Mit Reformismus allein wird sich die Kirche in der Krise nicht wieder erheben. Wenn, dann braucht es zunächst den Schritt einer Neuentdeckung und Vertiefung des Glaubens. Und aus dieser Bewegung hinaus können dann auch Reformen durchgeführt werden. „Hier mußte ein starkes Zeichen gesetzt und ein neuer Aufbruch gesucht werden, um Kirche wieder wirklich als Licht unter den Völkern und als helfende Kraft gegenüber den zerstörerischen Mächten glaubhaft zu machen.“ Mit diesen Worten war der ganze Aufsatz überschrieben.

Benedikt XVI. läßt nun noch einige Gedanken zu Hiob und zu einem Abschnitt aus der Offenbarung folgen, die sich mit dem Gedanken auseinandersetzen, wie es sein kann, dass in der Kirche so viel Böses neben Gutem existiert. „Ja, es gibt Sünde in der Kirche und Böses. Aber es gibt auch heute die heilige Kirche, die unzerstörbar ist. Es gibt auch heute viele demütig glaubende, leidende und liebende Menschen, in denen der wirkliche Gott, der liebende Gott sich uns zeigt.“

Wenn wir uns wachen Herzens umsehen und umhören, können wir überall heute, gerade unter den einfachen Menschen, aber doch auch in den hohen Rängen der Kirche die Zeugen finden, die mit ihrem Leben und Leiden für Gott einstehen.“

Nein, das ist nicht blanker Unsinn, was der deutsche Papst hier schreibt. Es sind sehr schöne, spirituelle Gedanken, wenngleich auch mancher Teilaspekt seiner Darlegungen zu irritieren vermag.

Verstörend und irritierend ist seine sehr eindimensionale Sicht auf das Phänomen der Pädophilie, aber sicherlich auch auf die menschliche Sexualität insgesamt. Auf die in der kirchlichen Öffentlichkeit diskutierten Aspekte des Skandals geht er gar nicht weiter ein. Kein Wort über die Folgen einer restriktiven Sexualmoral, kein Wort zum angemessenen Umgang mit der menschlichen Sexualität, kein Wort über den Zölibat, kein Wort zur Situation homosexuell empfindender Priester in einer als homophob empfundenen Kirche, kaum ein Wort zum Leiden der Opfer...

Mir scheint, Benedikt XVI. ist in seinem Text sehr gefangen vom Wandel der Sexualmoral in den vergangenen Jahrzehnten. Das spiegelt allerdings auch die Erfahrungen, die er in seiner Zeit in Rom als Präfekt der Glaubenskongregation und später als Papst gemacht hat. Und es spiegelt sicher auch die unmittelbaren Erfahrungen als Dogmatiker und Erzbischof von München. Ich kann nicht glauben, dass Benedikt nicht zu einem weiteren Blick auf die Sünden der Kirche und ihrer Vertreter fähig sein sollte (auch wenn ihm dies vermutlich mit Blick auf die aktuelle Mißbrauchskrise nicht sofort in den Sinn kam).

Ich denke sofort an das Spottlied vom Karmeliter, das ich vor Jahren in einer Aufnahme von Volksliedern hörte. Leider ist nicht herauszufinden, wie alt es ist, aber das Phänomen heimlich ausgelebter, gewaltvoller Sexualität unter Ausnutzung von Machtgefälle, Mißbrauch anderer Menschen, sexuelle Gewalt dürfte (leider, leider) beinahe so alt sein wie die Kirche selbst. Pädophilie (und andere Formen verirrter sexueller Ausrichtung) hat es seit Jahrtausenden gegeben, kaum etwas spricht dafür, dass dies in geringerem Ausmaß in der Kirche als in der Welt der Fall war. Vielmehr zeigen sich durchaus kirchenspezifische Ausformungen dieser Taten, wie auch aktuell in der Tatsache, dass unverhältnismäßig viele jungen und junge Männer Opfer der kirchlichen Gewalttäter wurden.

Legion sind die Spottlieder, Geschichten und Gedichte über die Priester, die keineswegs keusch lebten und sich an Frauen und Jugendlichen in ihren Gemeinden oder im Umfeld der Klöster vergingen. Erinnert sei auch an die Schilderungen der Zustände im Kloster der römischen Nonnen von Sant Ambrogio, in die auch ein führender Theologe des 1. Vaticanums verwickelt war, Joseph Kleutgen. Schaut man auf die Zahlen der dokumentierten Mißbrauchsfälle, so zeigt sich, dass auch in den eher prüden 40er-60er Jahren zahlreiche Fälle dokumentiert sind. Die kurze Phase während derer Teile der 68er – Bewegung für eine Entkriminalisierung der Pädophilie eintrat, hatte da noch keinerlei Auswirkungen. Im Gegenteil, die Pädophilen sprangen hier später auf einen Zug auf, der ihnen Vorteile versprach. Ein ganz schwieriges Feld sind ja auch die Sittlichkeitsprozesse unter der Nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, die zwar genutzt wurden, um die Kirche zu unterdrücken, die aber nicht ohne reale Straf-Taten waren.

Es gäbe vielfältige Indizien und Hinweise für Benedikt XVI. seinen Text noch einmal zur Hand zu nehmen und zu erweitern.

Manche grundsätzliche Überlegung bleibt ja dennoch aktuell.

Benedikt hat recht, die Befreiung der Sexualität von der Moral führt nicht zu einer befreiten Sexualität, sondern führt auch in problematische Haltungen, durchaus auch in Missbrauch, Gewalt und Überforderung. Daher braucht eine befreite Sexualität auch eine moralische Grundlegung um menschlich gelebt zu werden.

Und eine Kirchenreform macht nur Sinn, wenn sie getragen ist von einem neuen Aufbruch im Glauben.

Insgesamt finde ich, dass der Text, an dem uns Benedikt XVI. zu kauen gibt, nicht so schlimm wie es aus den Federn derer klingt, die vor einem neuen Himmel und einer neuen Erde erst mal eine neue Kirche erhoffen - aber doch lang nicht so grandios wie manche Kommentatoren jubeln, weil sie davon Rückenwind für ihre Form der Restauration der Kirche erwarten.

Ich finde es traurig, dass er – am Rande – die folgende Bemerkung nieder schreibt. „Vielleicht ist es erwähnenswert, daß in nicht wenigen Seminaren Studenten, die beim Lesen meiner Bücher ertappt wurden, als nicht geeignet zum Priestertum angesehen wurden. Meine Bücher wurden wie schlechte Literatur verborgen und nur gleichsam unter der Bank gelesen.“

Ja, ich weiß, dass für manchen Theologieprofessor der Name Joseph Ratzinger ein rotes Tuch war. Ich kann mir auch manchen Grund dafür ausmalen. Die theologischen Auseinandersetzungen mit dem Glaubenspräfekten unter Johannes Paul II. haben nicht nur in dessen eigener Biografie manche wunde Stelle hinterlassen, die bis heute nicht recht heilen will. Aber auf der anderen Seite haben auch zahllose Priesteramtskandidaten, viele Geistliche und Laien seine Texte mit großem Gewinn gelesen. Sie waren und sind – sprachlich und inhaltlich – auch dann bereichernd, wenn man dem Autoren nicht in jeder Hinsicht folgen wollte. Seine theologischen Werke werden noch immer gelesen und aktuell in einer Gesamtausgabe herausgegeben, Hochschulen tragen seinen Namen, seine Bücher sind theologische Bestseller. Sein Beitrag für die Theologie wird nicht vergehen.

Bededikt XVI. ist nicht mehr unser amtierender Papst. Und er ist erst recht kein Gegenpapst, auch wenn er der Papst mancher Herzen ist.

Papst Franziskus sagte einmal über seinen Vorgänger, der nun im Kloster Mater Ecclesiae in den vatikanischen Gärten lebt: „Er ist für mich wie der weise Großvater im eigenen Haus, wie ein Papa. Ich habe ihn lieb.“

So möchte ich es auch halten!

Von ganzem Herzen gratuliere ich Papst Benedikt XVI. zu seinem Geburtstag. 
Gottes reichen Segen! Ad multos annos!