Freitag, 21. September 2012

Ich steh vor Dir... (Gotteslob ohne Oosterhuis?)


Es ist ein kleines, unscheinbares Buch, mal in rot, mal in grün eingebunden, meist Kunststoff, manchmal sogar in Leder mit Goldschnitt. Und es ist das wohl meistgenutzte Buch in der katholischen Kirche überhaupt; häufiger zur Hand genommen als Bibel und Katechismus. Ich denke an unser „Gotteslob“. 1975 ist es erschienen, genau pünktlich zu meiner Erstkommunion. Damals löste es die noch unterschiedlichen Gesangbücher der einzelnen Bistümer ab. 

Das „Gotteslob“ ist natürlich ein „Kind“ der Liturgiereform des 2. Vaticanums. 
Wohl kaum jemand von den Katholiken, die es Sonntag für Sonntag (oh, das ist ja inzwischen auch selten geworden), na jedenfalls von Zeit zu Zeit in die Hand nehmen, ahnt, was für eine sensationelle Sache dieses Buch war und ist. 

Waren Sie schon einmal in Polen in der Kirche, oder in den Niederlanden, in Frankreich oder Spanien, in Italien oder in Belgien?
So ein „Gotteslob“, ein landesweit einheitliches Gebet- und Gesangbuch werden Sie dort nur in seltenen Fällen finden. Auch kennen viele Länder gar nicht so viele landessprachliche Lieder, wie sie in Deutschland üblich sind. 
Das ist für die deutschsprachigen Länder sicher auch eine Folge der Reformation. In den lutherischen und reformierten Gemeinden entstanden schon vor Jahrhunderten erste Kirchenlieder. Martin Luther selbst war als fleißiger Lieddichter bekannt. Auch im Gotteslob finden sich seine Lieder und die von weiteren protestantischen Autoren. Natürlich gab es auch echt „katholische“ Lieder, denken Sie nur an Friedrich von Spee und seine wunderbar poetischen Gesänge. Doch auch seine 1649 erschienene Liedsammlung „Trutznachtigall” war die katholische Antwort auf die Lieder von Martin Luther. Er ist im Gotteslob der häufigste Liedautor, seine Gesänge, etwa das „O Heiland, reiß den Himmel auf” (GL 107) oder „Zu Bethlehem geboren” (GL 140) sind unverzichtbar. Aber vorherrschend war und blieb in den katholischen Kirchen – jenseits der Volksfrömmigkeit – der lateinische Choral. 

Der liturgische (manchmal etwas ungestüme) Aufbruch ab 1965 sorgte zudem für viele deutsche Übertragungen ursprünglich lateinischer Lieder. Ganze gesungene Messen wurden plötzlich vom Lateinischen ins Deutsche übertragen. Von all dem könnte unser Gotteslob „ein Liedchen singen“ und manche Geschichte erzählen. Diese vielfältige und vielschichte Liedtradition ist irgendwie „typisch deutsch“.

1964 weihte (vermutlich) der Bischof von Haarlem (Bisschop von Doodevaart) den jungen Jesuiten Hubertus Gerardus Josephus Henricus Oosterhuis zum Priester und setzte ihn als Studentenseelsorger in der Amsterdamer Studentengemeinde ein. Wer ein wenig über die Geschichte der Niederlande, die der katholischen Kirche und die der Studentenbewegung weiß, der ahnt, dass diese Gemeinde zu dieser Zeit ein lebendiger, kontroverser Brennpunkt des ungestümen Wandels in Kirche und Gesellschaft gewesen sein muss. Seit 1960 war der künstlerisch veranlagte Jesuit (seit 1952) Oosterhuis der Studentengemeinde verbunden, als Priester prägte er den Neuaufbruch nach dem 2. Vatikanischen Konzil entscheidend mit, seine Texte, Gebete und Lieder wurden für weite Teile der niederländischen Kirche – die als besonders „liberal“ galt – stilprägend. Die Studentengemeinde entwickelte sich mit dem Dichter Oosterhuis und dem Komponisten Bernard Huijbers (1922-2003), ebenfalls Jesuit, zu einer (eigene Aussage) „Werkstatt und einem Versuchsfeld, nicht nur für das neue geistliche Lied, sondern auch für die gesamte nachvatikanische Erneuerung der liturgischen Sprache und liturgischen Formen in den Niederlanden.“ Noch vor wenigen Jahren konnte man in den niederländischen Liturgieheftchen, die in fast allen Kirchen als Grundlage für die Feier des sonntäglichen Gottesdienstes verwendet werden, zahlreiche – hierzulande weitgehend unbekannte – Oosterhuis – Lieder finden. Manchmal stammten darin gar die Mehrzahl aller Texte und Lieder von diesem produktiven Dichter und Denker. Ein Spötter aus den Niederlanden hat ein Bibelwort so abgewandelt: „Warom hebt uw uit mijn huis een Oosterhuis gemaakt? Das heißt: Warum hast du von meinem Haus ein Oosterhaus gemacht? So viel Oosterhuis war einigen Katholiken auch zu viel. 

Im Aufbruch der Nachkonzilszeit schoss die Studentenecclesia schnell über das Ziel hinaus. Schon 1969/1970 gab es den großen Knall. Aufgrund von Konflikten über den Zölibat (Oosterhuis stellte sich mit seiner Gemeinde hinter einen Mitbruder, der heiraten wollte) und die Rolle des Priesters bei der Eucharistie steht sie seitdem nicht mehr in der Verantwortung des Bischofs. Oosterhuis gab sein Priesteramt auf und verließ den Jesuitenorden. 1970 heiratete er. Die Amsterdamer Studentenekklesia besteht bis heute: sie kommt jeden Sonntag um 11 Uhr zusammen in 'De Nieuwe Liefde', ihrem Haus in Amsterdam. Sie betrachtet sich – wie Oosterhuis wohl auch selbst – noch als katholisch im Sinne von: 'allgemein, mit der ganzen Welt verbunden.' Auch Oosterhuis ist dort bis heute aktiv. Für die kath. Kirche in den Niederlanden blieb er ein prägender Charakter, trotz aller Konflikte. Mit dem sozial engagierten Mann von Königin Beatrix, Prinz Claus von Amsberg, war Oosterhuis freundschaftlich verbunden. Er hielt nach seinem Tod 2002 für ihn die Traueransprache. Im Jahre 2010 wurde in den römisch-katholischen Bistümern Utrecht und ’s-Hertogenbosch die Verwendung einer größeren Zahl seiner Lieder als „ungeeignet für den liturgischen Gebrauch“ befunden, was zu einem sogenannten „Liederstreit“ und Auseinandersetzungen bis auf Ebene der Bischöfe führte. 

Als 1975 sechs Lieder aus dem Schaffen von Huub Oosterhuis ins Gotteslob aufgenommen wurden, beeinträchtigte der persönliche Hintergrund des Dichters die Freude an seinen Texten offensichtlich nicht. Bis heute finden sich zahlreiche Menschen in seiner Sprache, seinen Liedern, Gedichten, seiner Poesie gut aufgehoben, entdecken darin die lebendige Sprache des Evangeliums, die Stimme Gottes. „Ich steh vor Dir mit leeren Händen, Herr...“ kann man zu Recht als Klassiker betrachten. 

Wohl als „Ableger“ der Auseinandersetzungen in den Niederlanden 2010 keimte kürzlich auch in Deutschland Unsicherheit auf, als das Gerücht die Runde machte, Oosterhuis-Lieder sollten im neuen Gotteslob keine Aufnahme mehr finden. Manch einer witterte reaktionäre Kräfte am Werk, auch wenn die verantwortlichen Bischöfe schnell betonten, dass sie kein Interesse daran hätten, die Lieder von Oosterhuis zu streichen. Mancher sieht aber hinter dieser Haltung sogar eine Taktik. Die Oosterhuis – Gegner würden darauf hofften, dass die vatikanischen Stellen diese Lieder beanstandeten und aus dem Gesangbuch streichen würden. 

Ich mag nicht recht daran glauben, dass man ernsthaft die Lieder des Gotteslobes einem „Gesinnungstest“ unterziehen möchte. Und in diese Prüfung auch noch den Lebenswandel des einzelnen Dichters einbezieht. Da kann aus dem Gesangbuch schnell ein schmales Heftchen werden. Schon heute tummeln sich dort zahllose Dichter und Musiker, die nicht unbedingt eine tadellose katholische Biografie aufzuweisen haben. Auch das Leben eines Künstlers kennt Brüche und Krisen. Und will man ein gelungenes Lied plötzlich für ungeeignet erklären, weil sein Verfasser Jahre später das Priesteramt niederlegte, aus der katholischen Kirche austrat, sich von seiner Frau trennte und eine andere heiratete oder .... Das kann doch niemand wollen. Da gibt viel bessere Kriterien für Lieder und Texte, die ins Gotteslob gehören. Und, man mag gegen Oosterhuis und seine Positionen haben, was man will. Wer wird bestreiten, dass er ein Mann mit Sprachgefühl ist, ein Dichter, einer, der mit Sprache zu arbeiten, zu weben, zu bezaubern versteht. Auch scheint Osterhuis zwar ein streitbarer Charakter, aber weiterhin ein engagiert gläubiger Mensch zu sein. 

Doch, auch das muss durchaus gesagt werden dürfen: Nicht jedes Oosterhuis – Lied eignet sich für den Gottesdienst. Das nimmt dem einzelnen Text nichts weg. Für die bei uns bekannten Lieder aus dem jetzigen Gotteslob: „Wer leben will wie Gott auf dieser Erde“ (GL 183), „Herr, unser Herr, wie bist du zugegen“ (GL 298), „Solang es Menschen gibt auf Erden“ (GL 300), „Nahe wollt der Herr uns sein“ (GL 617), „Ich steh vor dir mit leeren Händen, Herr“ (GL 621), „Sei hier zugegen“ (GL 764) dürfte diese Einschätzung aber nicht gelten. Wenn eines davon im neuen Buch herausfällt, dann eher, weil die Aufgabe, ein Gebet- und Gesangbuch für den ganzen deutschen Sprachraum zu erstellen, gar nicht so leicht ist. Und weil es zahlreiche wunderbare Lieder unterschiedlicher Autoren gibt, die neben den Liedern und Texten von Oosterhuis gut bestehen können und eine Aufnahme in dieses Buch verdient hätten. Auch in den vergangenen – fast 40 Jahren – sind zahlreiche gute neue Lieder erschienen und populär geworden. Doch irgendwann ist der Platz, der zu vergeben ist, trotz Dünndruckpapier und tausend Seiten, zu Ende. Unser neues Gesangbuch kann weder ein mehrbändiges Werk noch ein kiloschwerer Wälzer werden. Auch das sollten die Freunde und Verteidiger von Huub Oosterhuis bedenken.

Freitag, 14. September 2012

Mein Bauch gehört...



Kann es eigentlich einen Zweifel daran geben, dass ein gläubiger Mensch „für das Leben“ eintritt? Kann es wirklich Katholiken (oder evangelische Christen) geben, die in der Beendigung einer Schwangerschaft etwas Positives erblicken oder die „legale“ Abtreibung gutheißen?

Es muss im Jahre 1991 gewesen sein. Die erste sogenannte „Woche für das Leben“ brachte in meiner Heimatstadt Vreden die Christen buchstäblich auf die Beine. Ich erinnere mich an zahlreiche Veranstaltungen und Diskussionen zum damaligen Thema „Schutz des ungeborenen Lebens“. Besonders im Gedächtnis geblieben ist mir der Besuch und die öffentliche Rede von Domkapitular Norbert Kleyboldt (heute Generalvikar des Bistums Münster). Der Domkapitular erschien (nach meiner Erinnerung) in festlicher Soutane mit „Knopflochentzündung“ und betrat so den kleinen Balkon des ehemaligen Vredener Rathauses. Von dieser erhöhten (profanen) Kanzel sprach er zu hunderten von Vredener Bürgern darüber, welche Verantwortung Staat und Kirche gegenüber den ungeborenen Kindern haben. Es war der beeindruckende Abschluss einer sehr berührenden Woche. Ich weiß, dass mich die Frage nach dem Schicksal des ungeborenen Kindes ebenso beschäftigt und aufgerüttelt hat, wie der Gedanke, was wohl in einer jungen Frau vor sich geht, die das in sich heranwachsende Leben dem Tod preisgibt. In welchen Nöten muss sie stecken?

„Schwangerschaftsunterbrechung“, so hieß die Abtreibung im damaligen, allgemeinen Sprachgebrauch. In der noch bestehenden DDR hieß das entsprechende „Recht“: „Gesetz über die Unterbrechung der Schwangerschaft“. Als ob die unterbrochene Schwangerschaft wieder aufgenommen werden könnte, als gäbe es eine „Pausen-Taste“ an der schwangeren Frau, um zu warten, bis es eines Tages günstigere Zeiten für Schwangerschaft und Mutter-Sein geben würde! Aber genau so lief auch die Argumentation der Befürworter. Wenn Vaterschaft oder Mutterschaft heute nicht in die Lebensplanung passt, gibt es ja vielleicht in einigen Jahren eine neue Chance für ein Kind. Manche Politiker und Philosophen unterfütterten die gefühlige Diskussion dann noch mit ideologischen und quasi-wissenschaftlichen Argumenten.

Das Phänomen einer „Abtreibung“ im weitesten Sinne ist schon seit dem Altertum bekannt. Sowohl griechische Philosophen wie auch frühchristliche Theologen beschäftigen sich damit. Sie lehnen einen Schwangerschaftsabbruch natürlich ab, auch wenn in der ganzen Bibel kein ausdrücklicher Text zu diesem Thema zu finden ist. Schon die Kirchenväter betonen aber, dass das heranwachsende Kind ein Mensch ist, der ein eigenständiges Recht auf Leben hat. Sie stützen sich auf biblische Worte, wie z.B. beim Propheten Jeremia: „Noch ehe ich dich im Mutterleib formte, habe ich dich ausersehen, noch ehe du aus dem Mutterschoß hervorkamst, habe ich dich geheiligt...“ (Jer 1,5.) Soweit der Blick in die Geschichte, schauen wir nun auf die letzten Jahrzehnte. 

Von den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts an nahm die Diskussion um den Schwangerschaftsabbruch an Schärfe zu. Der Konsens, dass das heranwachsende Kind ein eigenständiges, unverfügbares Lebensrecht hat, schwand mehr und mehr. „Mein Bauch gehört mir!“ lautete die Parole. 1975 urteilt das Bundesverfassungsgericht dagegen: „Der Lebensschutz der Leibesfrucht genießt grundsätzlich für die gesamte Dauer der Schwangerschaft Vorrang vor dem Selbstbestimmungsrecht der Schwangeren und darf nicht für eine bestimmte Frist in Frage gestellt werden.“ Dennoch stellen die Richter fest, dass es Gründe geben kann, die den Abbruch einer Schwangerschaft rechtfertigen. Darauf folgt 1976 ein Gesetz, dass diese Gründe definiert und 1992 und 1995 eine Neufassung dieses Gesetzes. Hier wird eine umfassende Beratung der Schwangeren (vor einem möglichen Abbruch) zur Voraussetzung für eine Straffreiheit des nach wie vor strafbaren Schwangerschaftsabbruchs gemacht. Im Grunde eine Quadratur des Kreises. 

Nach all dem Streit empfanden Viele das aber als erträgliche Lösung, auch wenn kein Christ wirklich zufrieden sein konnte. Daher strebten fast alle Bischöfe an, die Möglichkeit zu nutzen in der vorgesehenen Beratung mit den betroffenen Frauen (und Männern) ins Gespräch zu kommen. Man wollte die betroffenen Frauen (und Männer) nicht den Abtreibungsideologen überlassen, für die der winzige Embryo im Bauch der Mutter keinen höheren Wert als der Keim einer Pflanze darstellte. Damit begab man sich allerdings auf „unsicheres Terrain“, denn plötzlich war die Kirche nicht mehr unbeteiligt und moralisch sauber. Denn, auch die kirchliche Beratungsstelle stellte am Ende eines Beratungsprozesses einen Beratungsschein aus, der letztlich zur Voraussetzung für eine straffreie Beendigung der Schwangerschaft im gesetzlich geregelten System wurde. Das war der wunde Punkt, an dem die organisierten „Lebensschützer“ in der Kirche ansetzten. Auch für die Bischöfe Dyba und Meisner war dieser Spagat nicht haltbar. 

Die innerkirchliche Diskussion um den besten Weg zum Schutz des ungeborenen Lebens (durch Beteiligung der Kirche an der Pflichtberatung oder alternativ allein durch die Kraft der kirchlichen Verkündigung) polarisierte sich immer mehr. Auf der einen Seite fast alle Bischöfe und viele Laienorganisationen, auf der anderen Seite die Mehrheit der vatikanischen Stellen, die Lebensschutzorganisationen und eine Minderheit der deutschen Bischöfe. Dann schickte m Januar 1998 der Hl. Vater, Papst Johannes Paul II., den deutschen Bischöfen einen Brief, in dem er darum  bat, die Ausstellung der Beratungsscheinen einzustellen. Damit fielen die kirchlichen Beratungsstellen aus dem gesetzlichen Rahmen heraus. 

Die Diskussion rund um diesen Anstoß wurde und wird bis heute in eigenartiger Weise kirchenpolitisch aufgeladen. Noch jetzt wird das zögernde Verhalten einiger Bischöfe und die klare Contra-Position von Bischof Franz Kamphaus aus konservativen Kreisen heraus überspitzt und als Verrat oder Ungehorsam bezeichnet. Die aus Laienkreisen heraus gegründete, von der Kirche formal unabhängige  Schwangerschaftskonfliktberatung „Donum Vitae“ wird auch weiterhin angegriffen und bekämpft, hierin engagierte Laien, selbst fromme und verdiente Persönlichkeiten, spüren (sogar von bischöflicher Seite) deutlichen Gegenwind. 

Hat aber die erhoffte Klarheit und Eindeutigkeit im kirchlichen Engagement positive Auswirkungen gezeigt? Ein Blick in die Statistik zeigt, dass es keinen sichtbaren Zusammenhang zwischen der Haltung der Kirche zu diesem Thema und den vorgenommenen Abbrüchen gibt. Die Zahl der Abbrüche sinkt zwar analog zur Zahl der geborenen Kinder, bleibt aber ansonsten einigermaßen konstant. Es sind seit Jahren in unserem Land ca. 15 % aller Schwangerschaften, die durch einen Abbruch beendet werden. Im europäischen Vergleich sind Schwangerschaftsabbrüche in Deutschland deutlich seltener als in fast allen anderen Ländern. So haben in Großbritannien sogar 2 ½ mal so viele Frauen wie in Deutschland eine Schwangerschaft abgebrochen, in Österreich soll es ähnlich sein, während in der Schweiz Schwangerschaftsabbrüche sogar seltener als bei uns sind. Ich empfinde das so, dass der Einfluss der kirchlichen Verkündigung wohl nicht maßgeblich ist, dass es vor allem Faktoren wie soziale Entwicklung, gesellschaftliche Diskussionen, die Verbreitung von Verhütungsmitteln und wirtschaftliche Situation der Familien sind, die eine Auswirkung auf die Zahl der Abtreibungen haben. 
Eigenartig empfand ich (angesichts meiner Erfahrungen 1991) die Woche für das Leben in 2006: „KinderSegen - Hoffnung für das Leben / Von Anfang an uns anvertraut“. Sie ging relativ unbeachtet im Grundrauschen der Nachrichtenlage unter. Auch in den Gemeinden um mich herum sorgte sie nicht für die notwendige Aufmerksamkeit und Nachdenklichkeit. Ich selbst hielt da gerade unser viertes Kind in den Armen. 

Ich habe den Eindruck, dass die Auseinandersetzungen um die Konfliktberatung im Grunde der Sache selbst, dem Schutz des ungeborenen Lebens mehr geschadet als genützt haben. Wenn das Thema auf den Tisch kommt, bleiben die meisten Katholiken (evangelische Christen nicht minder), inzwischen erstaunlich still. Selbst Bischöfe meiden den lautstarken Auftritt in dieser Frage. Um so lauter gebärden sich die Lebensschützer mit ihren „Märschen für das Leben“ und „1000 Kreuze – Aktionen“. In letzter Zeit liefern sie sich noch dazu – verbale wie teils gar körperliche – Auseinandersetzungen mit linken bis radikalen Gruppen. Wobei klar gestellt werden muss, dass die Gewalt von den linksradikalen Gegendemonstranten ausgeht. Die Extremen beider Lager reiben sich aneinander. Die meisten Menschen bleiben (leider) stumm und zucken die Achseln. Das Thema eignet sich aber im Grunde auch nicht für die öffentliche Auseinandersetzung, denn es geht um persönliche Schicksale und schmerzhafte Entscheidungen. 

Die Entschiedenheit, mit der Christen in Vreden vor 30 Jahren noch sich für Mutter (Vater) und Kind einsetzten, sie ist dahin. Selbst unsere Bischöfe sind in diesen Fragen öffentlich einigermaßen zurückhaltend, was von den engagierten Lebensschützern und den konservativen Kreisen in der Kirche immer wieder befremdet angemerkt wird. 
Für mich ist diese Gemengelage ein deutliches Zeichen dafür, dass viel Porzellan zerschlagen wurde. Und das geschah zwischen Menschen, die eigentlich in ihren Positionen sehr nahe beieinander lagen. Ich bin fest überzeugt, dass es allen, den Lebensschützern, den Protagonisten von „Donum Vitae“, den Bischöfen, den liberaleren und den frommeren Christen vor allem darum geht Kind und Mutter (Familie) bestmöglich zu schützen. Alle wollten ihr Möglichstes tun, für die Zukunft der Kinder, für die Zukunft der Mütter (und der Väter). 

Und wo stehen wir jetzt? Haben die innerkirchlichen Auseinandersetzungen und die Anfeindungen der pointierten „Lebensschützer“ wirklich einen Fortschritt im Schutz des ungeborenen Lebens erzielt? Oder verhallt das Wort der Kirche in dieser Frage ungehört und verpufft das (noch immer beachtliche) Engagement der Katholiken für das ungeborene Leben weitgehend wirkungslos?

Ich bin der festen Überzeugung, dass wir in der Kirche heute mehr denn je, eine besondere Dialogkultur (auf Augenhöhe) brauchen. Zunächst einmal sollten wir uns unserer grundlegenden Überzeugungen vergewissern. Bibel und Tradition, aber auch das Lehramt sind hier sehr hilfreich und eine Einigung in der grundlegenden Haltung dürfte doch möglich sein. Aber bei aller Gemeinsamkeit in der Grundüberzeugung müsste es durchaus unterschiedliche Wege geben, für diesen Glaubensgrund einzutreten. Damit dies aber versöhnt nebeneinander stehen kann, brauchen wir eine Dialogkultur, die zeigt, dass sich Christen bemühen, die Haltungen und Überzeugungen der Anderen in der Tiefe zu verstehen und zu respektieren. Wir brauchen die Bereitschaft, hieraus entstehende Spannungen auszuhalten. Es sollte dann auch möglich sein, gegenüber der Öffentlichkeit zu begründen, warum die Kirche unterschiedliche Wege geht, um das eine Ziel zu erreichen. Jeder Katholik braucht eine feste Verwurzelung in den „Bräuchen und Traditionen“, aber auch die Bereitschaft zum Gespräch, die Bereitschaft, sich selbst in Frage zu stellen, die Bereitschaft einen Weg mitzugehen, den er selbst möglicherweise zunächst für falsch hält. „Und wenn dich einer zwingen will, eine Meile mit ihm zu gehen, dann geh zwei mit ihm.“ (Mt 5,41) Der Streit um Details und konkrete Handlungen unterschiedlicher Personen schadet der kirchlichen Verkündigung und zerstört deren Glaubwürdigkeit und Wirksamkeit. Daher sollte die Welt an unserem Miteinander erkennen, dass es bei uns anders zugeht. Nur dann kann das Wort Jesu mit Kraft verkündigt werden.