Freitag, 26. April 2013

Deinem kommenden Christus entgegen gehen - Christo tuo venienti occurrentes


Heute haben wir Reinhard Lettmann, den früheren Bischof meiner Heimatdiözese Münster zu Grabe getragen. Achtzig Jahre alt ist er geworden, als er auf einer Pilgerreise in Israel, in der Geburtskirche in Bethlehem verstarb. Einige Tage zuvor hatte Weihbischof Wilfried Theising uns erzählt, dass man dem Altbischof durchaus klar von dieser Reise abgeraten habe. Durch eine Erkrankung der Lungen war er geschwächt und auf Sauerstoff angewiesen. Doch letztlich habe man ihn im Vertrauen auf Gott reisen lassen. Es war sein fester Wille, so berichtete der Weihbischof. Und das passte zu ihm. Wenn er sich entschieden hatte, wenn er als Bischof sein Wort erhob, dann hatte das Hand und Fuß und Festigkeit. 
Manch einer hat ihn mit einem „westfälischen Bauern“ verglichen, dabei war er der Sohn eines Bergmanns aus Datteln. Mir kommt das Bild in der Lohnhalle des Schachtes Lohberg in den Sinn, es zeigt drei Charaktertypen, einen Bergmann, einen Stahlarbeiter und einen Bauern. Es gibt schon deutliche Verbindungslinien zwischen den Gestalten, die aus Familien hervorgegangen sind, deren Leben von solchen Berufen geprägt war. 
Auch wenn man damit rechnen musste, war es trotzdem eine berührende Überraschung für mich, als ich von seinem Tod erfuhr. Spontan habe ich ins Online-Kondolenzbuch des Bistums geschrieben: 
„In Dankbarkeit erinnere ich mich an manche Begegnung mit Bischof Reinhard. Er war "mein Bischof", 1991 hat er mich in den pastoralen Dienst genommen, ich denke an manche Gespräche, an Predigten, an Sitzungen im Diözesanforum und im Pastoralrat. Es war immer eine Freude ihm zu begegnen! Nun ist er in der Geburtskirche verstorben. Kann es einen schöneren Ort geben? Dort wo durch die Geburt Christi die neue Zeit angebrochen ist, beginnt auch für ihn nun das Neue und Vertraute, auf das er Zeit seines Lebens gehofft hat. Er geht vom Ort der Geburt Jesu aus dem kommenden Christus entgegen. Möge er in Frieden ruhen!"
29 Jahre lang war Dr. Reinhard Lettmann mein Bischof. Also im Grunde so lange, wie ich kirchlich denken kann. Daher wollte ich ihn heute auch auf seinem letzten Weg begleiten und von ihm Abschied nehmen. 

Die Ordner im Dom schickten mich durch den Kreuzgang und plötzlich fand ich mich im nördlichen Seitenschiff mitten unter zahlreichen Priestern und Diakonen in Chorkleidung wieder. Zunächst etwas unsicher (hatte ich mich verirrt?), wurde mir dann aber schnell klar, dass es auch genau so gedacht war. Die Seelsorger des Bistums, Pastoralreferenten, Ordenschristen, Priester und Diakone stehen gemeinsam am Sarg ihres Bischofs und feierten Eucharistie. Bischof Reinhard wünschte diese Gemeinschaft, er hat sich engagiert dafür eingesetzt, dass die unterschiedlichen Ämter und Dienste für die Verkündigung des Evangeliums Hand in Hand wirkten, jede und jeder an dem Platz, der ihm oder ihr von Berufung, Amt und Talent her zukommt. So entdeckte ich manches bekannte Gesicht aus meiner kirchlichen „Laufbahn“, Kapläne meiner Kindheit und Jugend, priesterliche Wegbegleiter in den Gemeinden, in denen ich tätig war und bin, Diakone und Pastoralreferenten mit denen mich Ausbildung und gemeinsames Engagement verbanden.
Wir Pastoralreferenten verdanken Bischof Reinhard Lettmann viel, er hat für die theologische Profilierung des Berufs mit gesorgt und war der erste Bischof Deutschlands, der einen Pastoralreferentenrat einberufen hat. 
Der Dom war voll, einige bekannte Gesichter gab es zu sehen, aber auch sehr viele Ordensleute unterschiedlichster Gemeinschaften. Einige sind alt geworden und stützen sich auf ihren Stock. Schön, manche wieder zu sehen. 

Der Glockenschlag der berühmten astronomischen Uhr ersetzte – wie so oft im Dom – die viel leisere Sakristeiglocke. Langsam, nahte das große Vortragekreuz und von meinem Platz aus unsichtbar wurde der Sarg des Bischofs, begleitet von den liturgischen Diensten, dem Domkapitel und den Zelebranten herangetragen und vor dem Altar abgestellt. Dompropst Alfers verlas ein Wort von Papst Franziskus: „Der Weg war ein tiefes Merkmal seines Lebens. Als Hirte war er stets unterwegs zu den Menschen und hat in den 28 Jahren seines Bischofsdienstes alle Teile des weitläufigen Bistums besucht.“ Ja, auch daran kann ich mich erinnern, als Jugendlicher mit dem Bischof einige Wegstrecken geteilt zu haben. Es war wohl meine erste Begegnung mit ihm.

Den Gottesdienst heute im Dom erlebe ich als sehr feierlich, ernst, gesammelt und schlicht. Bischof Felix und die Diakone tragen ein altertümliches, schwarzes Messgewand und Dalmatik. Die Weihbischöfe ein moderneres, ebenfalls schwarzes Gewand. Ehrlich gesagt, ich hätte weiß bevorzugt, Auferstehung, so wie es zum Ausdruck kommt, als die Gemeinde direkt nach der Beisetzung „Jesu, Dir jauchzt alles zu...“ anstimmt. 


Im Chorgestühl fallen einige Vertreter orthodoxer und evangelischer Kirchen auf. Ökumene hat Bischof Reinhard gelebt. Auch Gäste aus Jerusalem waren zu entdecken, der ehemalige Abt der Benediktinerabtei Dormitio, P. Benedikt Maria Lindemann ragte allein durch seine Größe aus der Schar der Priester heraus (er lebt und wirkt heute in Hildesheim), doch auch der amtierende Abt Gregory Collins war gekommen. Das Evangelium des heutigen Tages „sitzt“ (leider nicht so ganz beim gesungenen Vortrag des Diakons). Doch es passt wie kaum ein anderes zu dieser Trauerfeier. Welche Fügung!  „In jener Zeit sprach Jesus zu seinen Jüngern: Euer Herz lasse sich nicht verwirren. Glaubt an Gott, und glaubt an mich! Im Haus meines Vaters gibt es viele Wohnungen. Wenn es nicht so wäre, hätte ich euch dann gesagt: Ich gehe, um einen Platz für euch vorzubereiten?“ Bischof Genn greift das gleich auf: „Viele unserer Priester haben dieses Wort des Herrn oftmals in die Situation von Trauer, Sterben und Beisetzung hineingesprochen. Wie sehr passt es auch in diese Stunde, in der wir als Kirche von Münster Abschied nehmen von unserem verehrten Bischof Reinhard."

Ähnlich eindringlich waren für mich die Worte aus der Lesung aus dem ersten Johannesbrief: „Was von Anfang an war, was wir gehört haben, was wir mit unseren Augen gesehen, was wir geschaut und was unsere Hände angefasst haben, das verkünden wir: Das Wort des Lebens …. Was wir gesehen und gehört haben, das verkünden wir auch euch, damit auch ihr Gemeinschaft mit uns habt. Wir aber haben Gemeinschaft mit dem Vater und mit seinem Sohn Jesus Christus."  Auch dieser Text sitzt, spiegelt sich im Leben von Bischof Reinhard. So konkret war stets seine Verkündigung, handfest, klar, knapp, humorvoll und auf das Eigentliche bezogen. 

Als Prediger hatte er – Bischof Felix möge es mir verzeihen – seinem Nachfolger etwas voraus. Ich erinnere mich noch ganz genau an dieses Bild, wie er immer vor dem Altar stehend, ohne Manuskript oder Zettel frei und druckreif sprach. Und keine Predigt, in der nicht auch ein Satz zum Schmunzeln steckte. Manches Mal gab es im Dom etwas zu lachen, aber der Bischof verzog bei der Predigt dabei keine Miene. Bischof Reinhard war ein humorvoller Mensch und einer, der zu Erzählen wußte und auch etwas zu berichten hatte. Wenn er sprach, hörten alle zu, gefesselt und gefangen. An eine Formulierung bei einer Priesterweihe kann ich mich erinnern. Da sagte er (ich glaube, im Predigtmauskript tauchte das so nie auf) zum Bericht vom erfolglosen Fischfang der Jünger: Geht es uns als Priester nicht oft auch so? Man organisiert dies und das, lädt die Menschen ein... „Da werfen wir unsere Netze aus und kein Schwein kommt.“ Der Bischof wartet die kurze Heiterkeit ab und "korrigiert sich" indem er sagt „und keiner kommt“ und setzt die Predigt fort, während er die ganze Gemeinde neu in den Bann gezogen hat. 

Mucksmäuschenstill war es, als Bischof Felix erzählte, was einige Minuten vor dem Tod des Bischofs geschehen war. „Mich hat es besonders berührt, liebe Schwestern und Brüder, dass Bischof Reinhard deutlich und vernehmbar wenige Augenblicke vor seinem Tod den Tischsegen gesprochen hat: „Zum Gastmahl des Ewigen Lebens führe uns Christus, der König der Herrlichkeit“. Es berührt auch mich sehr, dass ein solches, oft gehörtes und gesprochenes Gebetswort plötzlich seine tiefste Wirkung entfalten kann. Ja, wir wissen weder den Tag noch die Stunde, in der wir gerufen werden.  
Christus lud auch uns nun zum Gastmal. Gemeinsam mit Bischof Genn konzelebrierten Kardinal Joachim Meisner, Hildesheims Bischof Norbert Trelle, und Heinrich Mussinghoff aus Aachen. Mit ihnen waren 40 Bischöfe gekommen, um von ihrem Mitbruder Abschied zu nehmen. 
Nach der Eucharistiefeier wurde der Sarg des Verstorbenen in festlicher Prozession in den Westchor des Domes übertragen. Drei Priesteramtskandidaten trugen Primizkelch, Mitra und Bischofsstab. Dieser wurde allerdings mit der Krümme nach unten getragen, ein besonders starkes Zeichen in dieser Feier. 

Hinten im Westchor des Domes, direkt vor dem geschlossenen barocken Hochaltar brannten sechs Kerzen. Dort hatte man man einige Steinplatten aufgenommen und den Sarg des Bischofs in die Grablege der Bischöfe von Münster hinabgelassen, wo er an der Seite seiner Vorgängern Johannes Poggenburg, Michael Keller und dem aus meiner Heimatstadt stammenden Bischof meiner Kindheit, Heinrich Tenhumberg ruhen wird. 

Kurz vor seinem Tod in Bethlehem hatte Reinhard Lettmann noch die Eucharistie, das himmlische Gastmahl mitgefeiert. An diesem Tag wurde dieses Wort Jesu verkündigt: „Ich bin das Brot des Lebens; wer zu mir kommt, wird nie mehr hungern, und wer an mich glaubt, wird nie mehr Durst haben“. Meist hören wir es als Verheißung; wer sich auf den Weg der Nachfolge begibt, der erhält durch Christus, was seinen Hunger, seinen Durst und seine Sehnsucht stillt. Doch in dieser besonderen Situation bekommt das Wort „wer zu mir kommt“ besonderes Gewicht. Eigentlich wollte Bischof Lettmann am Tag seines Todes noch nach Emmaus reisen, an den Ort, wo die Jünger Jesus beim Brechen des Brotes erkannten. In gewisser Weise ist er doch noch dorthin gekommen. Beim Brechen des Brotes erkannten die Jünger, dass Jesus selbst sie auf ihrem Lebensweg begleitet hatte. Nachdem diese Erkenntnis sie erfüllt hatte, sahen sie ihn nicht mehr. Bischof Reinhard hat fest an dieses Lebensgeleit durch Christus geglaubt und er hat es verkündet. Jetzt aber erkennt er Christus von Angesicht zu Angesicht. 
Möge er ruhen in Frieden, denn "Deinen Gläubigen, Herr, wird das Leben gewandelt, nicht genommen. Und wenn die Herberge der irdischen Pilgerschaft zerfällt, ist uns im Himmel eine ewige Wohnung bereitet."

Mittwoch, 10. April 2013

Paul und Pius: die Stellvertreter!


In meiner Heimatstadt tobt ein Kampf um die Benennung einer Straße, die seit der nationalsozialistischen Diktatur nach dem damaligen Reichspräsidenten Paul von Hindenburg benannt ist. Auf der einen Seite steht eine Koalition der Hindenburg-Gegner, die diesen Namen von den Stadtplänen tilgen und durch „Willi-Brandt-Str.“ ersetzen möchten. Auf der anderen Seite eine etwas kleinere politische Koalition, die allerdings auf breite Unterstützung in der Bürgerschaft setzen kann. Das Quorum für ein Bürgerbegehren wurde mit 6.800 Unterstützern schon dreifach übertroffen. Es sieht also alles danach aus, als ob das Projekt der „posthumen Schuldigsprechung“ des greisen Reichspräsidenten Paul von Hindenburg in Voerde ähnlich grandios scheitern wird, wie kürzlich der Versuch in Essen zwei Straßen umzubenennen, die nach ebenfalls längst verstorbenen Wehrmachtsoffizieren benannt waren. Die Hindenburg – Gegner setzen dabei auf die Bewertung der tragischen Rolle, die Hindenburg bei der Machtergreifung Hitlers gespielt hatte. Als „Steigbügelhalter“ Hitlers sei dieser als Namensgeber einer Straße diskreditiert. Seit Woche tobt die Auseinandersetzung in den politischen Gremien, in den Leserbriefspalten und sogar beim traditionellen Karnevalszug in Voerde. 
Die Bürgerinitiative, die den Namen Hindenburgstraße erhalten möchte, verweigert konsequent die Auseinandersetzung um die Person Hindenburgs und seine „Verdienste“, sondern möchte schlicht am Straßennamen festhalten und die Nachteile einer Umbenennung vermeiden. Das macht die Gruppe natürlich nur schwer angreifbar, und so fährt eine Leserbriefschreiberin schweres Geschütz auf: „Hindenburg hat 1933 wissentlich einen Möchtegern-Mörder (Mein Kampf) die Kanzlerschaft übertragen. Selber war er großgrundbesitzender Militär, den Hitler-Förderer Thyssen vor der Pleite bewahrte.“ Vielleicht sollte man die Energien dafür verwenden, den Thyssen-Krupp-Konzern umzubenennen! Der Leserbrief gipfelt in der Bemerkung, dass es in Wirklichkeit „um Anderes“ geht. „Die Umbenennung war eine politische Entscheidung, der Aufruhr dagegen ist es ebenso. (....) Und wo die NPD anschickt, möglichst flächendeckend zur kommenden Bundestagswahl ihre volksverhetzenden Parolen ungestraft zu verbreiten, ist kritische Beschäftigung mit der eigenen Geschichte um so wichtiger.“ Dieser letzten Aussage ist sicher zuzustimmen, jedenfalls insofern damit „kritische“, also ausgewogene Auseinandersetzung gemeint ist. 
Es könnte diese vielleicht befördern, wenn ich in der Diskussion fordern würde, die Hindenburgstraße stattdessen in Eugenio Pacelli-Straße oder gleich „Allee Papst Pius XII.“ umzubenennen. Den Aufschrei möchte ich hören! Pius XII., das ist doch „Hitlers Papst“, oder? An den Stammtischen und in den Kreisen, die allgemein die „kritische Beschäftigung“ mit der Geschichte der Kirche pflegen „weiß“ man, dass dieser der Papst war, der das Konkordat mit der Hitler-Regierung abgeschlossen und zu Hitlers Verbrechen stets geschwiegen habe. Mancher „Geschichts(un)kundige“ kann da schöne, griffige Schlagworte in die Diskussion am Stammtisch einwerfen. Da hilft meist nicht einmal der schüchterne Hinweis, dass Pius XII. erst 1939 das Ruder des „Schiffleins Petri“ übernommen hat und zumindest als Papst für den Konkordatsabschluß kaum Verantwortung tragen kann. Oder dass die Kirche damals, 1933, allenfalls ahnen konnte, welche Bedeutung das Konkordat für die Propagandisten des Regimes eine Zeitlang entfalten konnte. Ähnlich wie Hindenburg mögen die auch die deutschen Bischöfe und der spätere Papst Pius XII. zunächst gehofft haben, dass sich Hitler durch demokratische Spielregeln und Vertragswerke in
Zaum halten ließe. Dass dies im Grunde nicht zu erwarten war hätte ein aufmerksamer Leser des Machwerks „Mein Kampf“ vielleicht wissen können, in jedem Fall lässt sich aus heutiger Sicht dieses Urteil leicht fällen. Vielleicht auch allzu leicht, denn heute sehen wir klar, was für grauenhafte Folgen die möglicherweise leichtfertigen Entscheidungen von Persönlichkeiten wie Eugenio Pacelli, Paul von Hindenburg, Kurt von Schleicher, Ludwig Kaas, Heinrich Brüning (und vieler mehr) hatten. Hätten sie durch entschiedenes Handeln Hitler nicht stoppen können? Die vielen Fragen, die sich dabei stellen können wir heute leider nicht zufriedenstellend beantworten. Jedenfalls nicht so, dass es einen allgemeinen Konsens darüber geben würde. 
Für Rolf Hochhuth war Anfang der 60er Jahre die Sache klar: Pius XII. (soeben verstorben) hatte im Umgang mit dem Diktator Hitler versagt und mit ihm die ganze katholische Kirche (und manche mehr). Für uns „Nachgeborene“ ist die durch die Uraufführung seines Dramas „Der Stellvertreter“ am 20. Februar 1963 ausgelöste gewaltige Theaterdebatte kaum noch nachvollziehbar. Die damals aufsehenerregende Diskussion hat wenig mehr hinterlassen als die Erkenntnis: Pius XII. hat versagt, er hat Hitler und den Holocaust an den Juden nicht energisch genug zu stoppen versucht. Er hat nicht genug getan. Auf diese Stammtischüberzeugungen sattelte später der englische Autor John Cornwell 1999 mit seinem Buch „Hitler's Pope (Hitlers Papst)“ noch drauf, wenn auch der deutsche Titel des Buches schon auf Hochhuth – Niveau entschärft wurde: „Pius XII. – Der Papst, der geschwiegen hat“. Aber Daniel Jonah Goldhagen schlug 2003 mit seinem Werk über „die kath. Kirche und der Holocaust“ noch einmal in diese Kerbe. 
Doch, wird diese Basisüberzeugung der großen Mehrheit der Deutschen dem Handeln und der Persönlichkeit Pacellis wirklich gerecht? Ich denke, es wird in einem Blog-Beitrag nicht möglich sein, die historische Rolle des letzten Pius – Papstes aufzuarbeiten. Zu tief sitzt die Überzeugung vom Versagen des Vatikans auch in den Seelen der jüdischen Opfer in Israel und in aller Welt.
Da mag es interessant sein, sich der Geschichte einmal von einer anderen Seite zu nähern und einen Blick auf eine Randfigur der Historie zu richten, der allerdings in den Jahren 1940 bis 1943 einen großen Titel trug: „Großrabbiner von Rom“. Die Vorsteher der jüdischen Gemeinde in Rom tragen diesen Titel seit Jahrzehnten, auch wenn die Größe der Gemeinde kaum über die einer normalen katholischen oder evangelischen Kirchengemeinde in Deutschland hinausging. Als direkte Gesprächspartner der römischen Päpste werden ihre Stellungnahmen zum christlich-jüdischen Miteinander weltweit zur Kenntnis genommen. 
Noch vor dem Ende des zweiten Weltkrieges geschah das Undenkbare. Israel Zolli, der Großrabbiner von Rom ließ sich mit seiner Familie katholisch taufen. Wir können heute kaum die Bedeutung dieser persönlichen Entscheidung einiger jüdischer Menschen nachempfinden. Das wäre so, als wenn der Publizist Matthias Matussek morgen in einem SPIEGEL-Artikel mitteilen würde, dass er soeben zum Buddismus konvertiert sei oder wie der Eintritt von Michael Hesemann in die ägyptische Muslimbruderschaft, die Hochzeit des Kölner Kardinals Meisner oder das Outing des traditionalistischen Katholiken David Berger als Homosexuellen und Anhänger des liberalen Kirchenflügels. Hups, das letzte ist ja wirklich passiert. Nun ja! In jedem Fall erregte diese Konversion in Rom die Gemüter und sorgte auch für massive Angriffe aus der jüdischen Gemeinschaft.
Israel Zolli wurde 1881 im galizischen Brody geboren, studierte in Wien und Florenz, wurde Professor in Padua und 1918 zunächst Oberrabbiner von Triest. Bei Kriegsbeginn wurde er Großrabbiner nach Rom berufen. Dort warnte er die älteste Diasporagemeinde der Judenheit  vergeblich vor einer dramatischen Verschärfung der Lage. Paul Badde berichtet in einem spannenden Artikel in der WELT was weiter geschah: Kaum hatten die Deutschen Rom besetzt verlangte Obersturmbannführer Kappler von den Juden Roms 50 Kilo Gold oder 300 Geiseln. Mit Mühe bekamen die Juden 35 Kilo zusammen. Der Oberrabbiner sprach mit Papst Pius XII., der dafür sorgte, dass in den römischen Pfarreien die fehlenden 15 Kilo Gold gesammelt wurden. Kappler nahm das Gold, brach aber alle Vereinbarungen und plünderte auch das Archiv und die Bibliothek der Gemeinde. Auf Weisung Himmlers ließ er dann die Deportation der römischen Juden am 16. Oktober 1943 vorbereiten. Im Morgengrauen dieses Sabbats begann die Razzia, gegen Mittag war sie abgeschlossen. 1.022 Juden, unter ihnen 200 Kinder hatte die SS verhaftet und mit Viehwagen deportiert. Von ihnen kehrten nur 15 wieder zurück. Rabbiner Zolli musste all das machtlos mit ansehen, aber er sah auch, dass 4.447 Juden auf Weisung des Papstes in 150 Klöstern und kirchlichen Häusern versteckt und ernährt wurden: In Rom, im Vatikan oder in Castel Gandolfo, dem Sommersitz der Päpste, wo zeitweise bis zu 8000 Flüchtlinge Unterschlupf fanden. Er las die Protestnoten des Papstes gegen die judenfeindlichen Maßnahmen der Besatzer. In seinem Tagebuch notierte er: „Kein Held der Geschichte hat ein tapfereres und stärker bekämpftes Heer angeführt als Pius XII. im Namen der christlichen Nächstenliebe. Bände könnten über seine vielfältige Hilfe geschrieben werden. Doch wer wird jemals erzählen, was er alles tat? Er steht wie ein Wächter vor dem heiligen Erbe des menschlichen Leids. Er hat in den Abgrund des Unheils geblickt, auf das sich die Menschheit zubewegt. Die Größe der Tragödie hat er ermessen und vorausgesagt: als klare Stimme der Gerechtigkeit und Verteidiger des wahren Friedens."
Für alle „Follower“ Hochhuts sicher sehr erstaunliche Worte. Am 17. Februar 1945 trat in der Kirche S. Maria degli Angeli e dei Martiri, der hochgelehrte Rabbi Zolli nach 40 Jahren rabbinischen Studiums in die katholische Kirche über - „in unveränderter Liebe zum Volk Israel in all dem Leid, das über es gekommen ist". Als neuen Namen nahm er in der Taufe aus Dankbarkeit den Taufnamen des Papstes an: Eugenio. Im Jahre 1956 verstarb Israel Eugenio Zolli, er wurde auf dem Campo Verano in Rom beigesetzt. 
Staunenswert, dass dieser Mann, der Papst Pius XII. näher war als viele, die ihn heute verurteilen (oder gar als künftigen Seligen verherrlichen), dem Papst des 2. Weltkrieges ein so positive Zeugnis ausstellt. Sollte das nicht nachdenklich machen?
„Der Stellvertreter“, so hat Rolf Hochhuth sein Drama überschrieben. Der Titel lässt mich innehalten. Müsste man ihn nicht ganz anders verstehen? Kann es sein, dass es bei dem erbitterten Streit um die historischen Rollen von Persönlichkeiten wie Paul von Hindenburg oder Eugenio Pacelli um etwas anderes geht? Kann es sein, dass man das Wort „Stellvertreter“ eigentlich mit „Sündenbock“ übersetzen müsste?
Eins ist sicher. Beide haben in gewisser Weise „versagt“, sie haben Fehler gemacht, sie haben zu wenig getan bzw. sie hätten mehr tun und anders handeln können. Fakt ist aber auch – sie haben es nicht getan und die Geschichte ist so gelaufen, wie sie gelaufen ist. Trotzdem haben sie ja auch etwas (Gutes) getan, etwas gewollt, etwas bewegt. Vielleicht sogar viel mehr, als ihre Kritiker ihnen zugestehen. 
Doch es gibt doch eine viel entscheidendere Fragestellung, nämlich die: „Was ist eigentlich mit mir?“ Daniel Jonah Goldhagen hat vor einigen Jahren in einem Buch die Deutschen insgesamt als „Hitlers willige Vollstrecker“ geoutet. Er stellt darin schwierige Fragen: „Warum fand Hitler für sein Ziel – die Vernichtung der Juden – so viel Unterstützer und warum traf er auf so wenig Widerstand? Wie konnten die Deutschen so beispiellose Verbrechen verüben bzw. zulassen?“ Ob seine Antwort wirklich überzeugt vermag ich nicht zu sagen. Aber mich persönlich lässt die Frage nicht in Ruhe, wie ich in dieser Zeit reagiert hätte und ob ich energisch genug Widerstand geleistet hätte. Ich schaue auch in meine Familiengeschichte und wüsste zu gerne, ob mein Opa als Wehrmachtssoldat im Süden Russlands „sauber“ geblieben oder zum Verbrecher geworden ist. Er ist nicht nach Hause zurück gekommen. 
Beruhigende Antworten – das habe ich in dieser nun fast 30jährigen Auseinandersetzung erfahren müssen – werde ich nicht bekommen. Aber ich halte dies inzwischen für eine „heilsame“ Unruhe. Und die wäre auch für uns alle hilfreich, damit wir aufmerksam und wachsam bleiben. Ganz im Sinne von Hans Dieter Hüsch, der bei seinen öffentlichen Vorträgen gerne dafür sorgte, dass einem das Lachen im Halse stecken blieb, auch mit seinem Text „Das Phänomen“, dessen Vortrag ich einige Male erleben durfte. Danke dafür, Hans Dieter Hüsch!
Sein Text endet wie folgt:
„Und wenn ihr heute Dreirad fahrt
Ihr Sterblichen noch klein und zart
Es ist doch eure schönste Zeit
voll Phantasie und Kindlichkeit

Lasst keinen kommen der da sagt
Dass ihm dein Spielfreund nicht behagt
Dann stellt euch vor das Türkenkind
dass ihm kein Leids und Tränen sind

Dann nehmt euch alle an die Hand
Und nehmt auch den der nicht erkannt
Dass früh schon in uns allen brennt
Das was man den Faschismus nennt“

Brennt es auch in mir? Brennt es im Miteinander in meiner Stadt? Brennt es auch in den Diskussionforen und Blogs?

„Nur wenn wir eins sind überall
Dann gibt es keinen neuen Fall
Von Auschwitz bis nach Buchenwald
Und wer’s nicht spürt der merkt es bald

Nur wenn wir in uns alle sehn -
Besiegen wir das Phänomen
Nur wenn wir alle in uns sind -
Fliegt keine Asche mehr im Wind“