Montag, 22. September 2025

Charlie Kirk - Möge er in Frieden ruhen!

Adnan Günter Köse habe ich kennengelernt im Rahmen der Dreharbeiten für seinen großartigen Film „Lauf um Dein Leben – Vom Junkie zum Ironman“. Der Film wurde in großen Teilen in Lohberg gedreht und ich konnte bei den Dreharbeiten hier und da zusehen und Uwe Ochsenknecht treffen. Später war ich Mitwirkender seines berührenden Films über Lohberg und unterstützte ihn bei der Arbeit an einem Musical über den Lohberger Gründerpfarrer Prälat Albert Nienhaus.

Adnan G. Köse hat einen türkischstämmigen Vater und eine deutsche Mutter. Soweit ich weiß,  wandte er sich im Kontext seiner Beschäftigung mit dem Leben des Albert Nienhaus der katholischen Kirche zu. Kürzlich veröffentlichte er einen Beitrag zu Charlie Kirk, der mich noch weiter beschäftigt hat.

„Heute gedenken wir Charlie Kirk – ein aufrichtiger Christ, dessen Stimme nun schweigt, dessen christlichen Werte aber weiterleben. Es ist traurig zu sehen, wie gefährdet Menschen sind, die in der Öffentlichkeit klar zu ihrem Glauben stehen.

Der Glaube ist ein Fundament, das uns alle trägt – Christen wie Muslime, und Menschen vieler Religionen. Der Glaube an Gott gibt ihnen, uns allen, Hoffnung, Mut und Orientierung in einer Welt, die oft Halt vermissen lässt. Wer die Nähe zu Gott zulässt, findet zu sich selbst.

Hier die bewegende Rede von Charlies Frau Erika Kirk - jeder sollte sie hören um zu verstehen, was Charlie wirklich wollte - ein Leben in Anstand und Respekt, Frieden und Menschlichkeit, seine Worte wurden verdreht - ich weiß, wie oft Menschen über die Bibel oder den Koran spotten, es sind die gleichen Spötter, die Charlie Kirk bewusst als einen schlechten Menschen darstellen wollten. Ich denke, dass er das nicht war. Die Worte seiner Frau sprechen Bände. Wir, die wir an Gott glauben, ob Christen oder Muslime, wir sind in dieser Welt gefährdet. Nehmen wir es ohne Angst und in Demut an - denn uns erwartet die Seeligkeit.

„Sie mögen unsere Werte bekämpfen — doch wir weichen nicht. Wir stehen für Glauben, Wahrheit und Menschlichkeit. Bis zum letzten Atemzug.“

Möge Charlies Seele Frieden finden.“

Obwohl ja Aussagen zu Charlie Kirk in diesen Tagen gemeinhin eine lebhafte Resonanz auslösen blieb es auf seiner facebook-Seite ganz still. Bisher kein Kommentar... (Inzwischen hat er den Text verändert.)

Ich habe mich auch mit einem direkten Kommentar schwer getan, tue dies aber nun in einem Blog-Beitrag, weil ich denke, dass es sich lohnt, einige Fragen, die sich in diesem Kontext ergeben, geduldig zu durchdenken.

Natürlich möchte ich Adnan in seiner Trauer um Charlie Kirk nicht widersprechen. Auch seinen Gedanken zur Bedeutung des Glaubens für Christen und Muslime kann ich gut zustimmen. Und vermutlich kann jeder Glaubende darüber berichten, dass es durchaus Gegenwind geben kann. Manchmal auch gänzlich ungerecht. Es ist wirklich schlimm, dass ein junger Mensch im Angesicht vieler anderer Menschen (sogar seiner Familie) niedergeschossen und ermordet wird. Ein Mord ist aus keinem erdenklichen Motiv gerechtfertigt. Und Anteilnahme und Trauer sind die einzig angemessene Reaktion. Eine der für mich bisher berührendsten Reaktionen kam ausgerechnet vom „Ultralinken“ Bernie Sanders, der auch einige Male für das Präsidentenamt kandidiert hatte. 

Der altehrwürdige Spruch: „De mortuis nil nisi bene!“, dass man über den Verstorbenen nichts als Gutes sprechen soll, stellt mich als Leiter von Trauerfeiern nicht selten auch vor eine Herausforderung, wenn damit gemeint sein sollte, man solle das Leben des Menschen schön reden und weniger schöne Aspekte verschweigen. Ich meine, man muss dem Verstorbenen gerecht werden und darf daher auch bittere und dunkle Seiten nicht ganz aussparen. 

„Charlie Kirk – ein aufrichtiger Christ“. Tatsächlich habe ich diese Argumentation in diesen Tagen ganz häufig gehört. Charlie, ein Märtyrer seines Glaubens. Charlie, ein Heiliger... Mal im Wort, mal im Bild, mit Heiligenschein, Engelsflügeln... In einer spontanen Trauerfeier in Berlin vor der amerikanischen Botschaft amtierte Beatrix von Storch als Vorbeterin, zitierte aus dem Evangelium und betete das Vater unser, wobei die weiteren Redner nicht mit scharfer Kritik an der Regierung und am „linken Deutschland“ sparten. Ein amerikanischer Kardinal nennt Charlie Kirk einen modernen Paulus. Ein emeritierter Kardinal in Tschechien feierte in Prag eine Messe für das Seelenheil des Evangelikalen. In Rom mochte auch Kardinal Müller nicht schweigen und sieht in ihm einen "Märtyrer für Jesus Christus". „Dieser habe sich immer mehr dem Katholizismus angenähert, seine Frau sei sogar katholisch gewesen...“ höre ich von anderer Seite. Ich kann das nicht überprüfen. Was ich aber feststelle ist, dass diese Sicht recht eindimensional ist. War Charlie Kirk ein Christ? Ist er wegen seines christlichen Glaubens, wegen seiner christlichen Überzeugungen getötet worden? Wir haben in den Gottesdiensten in der Pauluskirche nach der Tat für ihn gebetet, wenn auch seinen Namen nicht ausdrücklich erwähnt, sondern ihn eingereiht in die Opfer der politischen Auseinandersetzungen in den USA. Und damit jedem den Raum gegeben, betend auch an Charlie Kirk zu denken. 

Just heute meldet sich zum Glück noch Bischof Oster aus Passau mit nachdenklichen Worten. Die Trauerfeier in Arizona hatte ihn offenbar erschüttert. Beachtlich und mutig! 

Ich kannte Charlie Kirk bisher kaum, ich habe mich vermutlich auch nicht tief genug mit den politischen Verwerfungen in den USA beschäftigt. Aber natürlich habe ich inzwischen versucht, ein möglichst vielschichtiges Bild zu bekommen. Ich bin kein Kirk-Fan geworden. Mir erscheint er mehr als politischer Aktivist, als Kämpfer für eine pointiert konservative Weltanschauung, als Lebensschützer und vor allem als großer Unterstützer der Bewegung um Präsident Trump und Vizepräsident Vance, ja geradezu als Missionar dieser politischen Richtung. Auch wenn er oft auf sein Christsein verweist, so scheint man bei ihm Christentum und politische Mission nicht mehr trennen zu können. 

So etwas ist – jedenfalls mit Blick auf Deutschland – sehr ungewohnt. Für Menschen wir Kirk haben wir im politischen Koordinatensystem Deutschlands, ja Europas keinen Platz. Wir kennen so etwas nicht, religiös motivierte, christliche Politaktivisten. Auch haben wir lange keinen politischen Messianismus mehr erlebt. Daher erklärt sich vermutlich auch die erste allgemeine Verwirrung vieler Leute, die sich beruflich oder politisch bedingt zu Wort meldeten und nach Worten suchen. 

Wir sind daran gewöhnt, Glaube und Politik zu trennen. Politik ist privat, nicht politisch. Die Politiker von heute sind ggf. noch Christen, aber nur Wenige reden noch offen über ihre christliche Sozialisation und ihren gelebten Glauben als solide Basis ihres politischen Engagements. Dass aber Christentum unmittelbar in Politik umgesetzt wird und ggf. sogar mit der Bibel begründet – das kennen wir in unserem Land nicht mehr. (Man kann sicher einmal darüber nachdenken, ob quasi religiöse Erlösungsvorstellungen auch hier mit Blick auf Wähler eine Rolle spielen, die ohne sich von irgendwas irritieren zu lassen, die Lösung aller Gegenwartsprobleme von einer Stimme für die AfD erhoffen, selbst da noch, wo sie personell und inhaltlich damit "die Katze im Sack" einkaufen. 

Für christliche Wähler gibt es schon seit vielen Jahren keine Totalidentifikation mit einer bestimmten Partei mehr. War früher die CDU noch die „katholische Partei“ (aus der Tradition des katholischen Zentrums heraus), so ist die Distanz inzwischen größer geworden. Das geht soweit, dass auch aus der Mitte der Kirche heraus, das „C“ im Parteinamen kritisch angefragt wird. 

Einige politische Kreise meinen inzwischen, dass die Kirchen längst das politische Lager gewechselt hätten, dass sie (zumindest in ihren Gremien und Verbänden oder Kirchen- und Katholikentagen) beinahe schon zu Vorfeldorganisationen der Grünen oder der SPD geworden seien. Und es ist nicht zu leugnen, dass es aufgrund ihres Einsatzes für Flüchtlinge, Klima- und Umweltschutz, Frauenrecht und manches mehr neue Affinitäten zu verschiedenen Parteien aus verschiedenen Strömungen gewachsen sind. Recht leichthändig wird dann von linksgrünen oder linksliberalen Kirchenkreisen gesprochen.

Es kommt mir so vor, als ob Kirk in der Tat fest von seinem Glauben überzeugt war, dass also seine Art zu glauben nicht Folklore im Hintergrund seiner politischen Überzeugungen war, sondern dass Politik und Glaube für ihn eine Einheit darstellten. In der evangelikalen Bewegung scheint das nicht selten zu sein. Und manche Formen evangelikaler Mission (wie ich sie z.B. in Guatemala erlebt habe) erinnerten mich schon länger an Werbung für eine politische Partei. Mir ist nicht wohl dabei, wenn sich Politik religiös legitimiert. 

In Deutschland erlebe ich, dass manchmal Glaubensüberzeugungen politisch instrumentalisiert werden. Wo Kirche sich für den Schutz des ungeborenen Lebens engagiert – ist ihr Glaube gut, wo sie zum Engagement für den Klimaschutz und für die Unterstützung Geflüchteter aufruft ist das schlecht (und umgekehrt, je nach politischer Präferenz). Der Lebensschutzbewegung wird schon lange vorgeworfen, dass sie von Rechtspopulisten unterwandert wäre. An anderer Stelle wird sogar von politischer Warte aus bewertet, welche kirchliche Haltung theologisch und kirchlich richtig sei und welche nicht und welche Meinungen zu äußern seien und wo die Kirche eher zu schweigen habe. Augustinus muss dafür herhalten, auch noch den Papst politisch zu belehren, Nächstenliebe sei am Ende doch nicht grenzenlos, sondern gelte erst mal jenen, die mir nahe genug stehen. 

Bei aller persönlichen Ungeduld mit dem katholischen kirchlichen Lehramt in der ein oder anderen Frage, insgesamt können wir Katholiken doch nur froh und dankbar sein, dass der Hl. Vater und der Vatikan in vielen Fragen wirklich „stabil“ sind und bleiben und sich selbst den mächtigsten Männern der Welt nicht bequem anbiedern. Wir brauchen diese kritische Stimme und wir dürfen uns auch öffentlich darüber freuen.

Bis dato war es in Deutschland ein stiller Konsens aller demokratischen Kräfte mit Skepsis über den Atlantik zu schauen und das Wirken Trumps und den Umbau der amerikanischen Demokratie kritisch zu betrachten. Allein die AfD feierte Trump und ließ sich von seinen Vasallen anpreisen. 

Angesichts des gewaltsamen Todes von Charlie Kirk fanden sich auf einmal (neben den üblichen Verdächtigen) auch zahlreiche Demokraten bereit, dessen Haltungen gegen Kritik zu verteidigen und den Mann als Christen, als eine Art Missionar, als großen Kommunikator und Meister des Dialogs zu stilisieren. Das was in den USA inzwischen sogar zum Geschäftsmodell taugt, politisches Rednertum, Influenzertum, ist bei uns noch einigermaßen brotlose Kunst. Und inzwischen hoffe ich auch, dass das lange so bleibt. Um mit seiner Meinung und ihrer Verbreitung Geld zu verdienen, muss man hierzulande in einer Partei Karriere machen und mühsam auf dotierte politische Posten aufsteigen. Das setzt in aller Regel einige Jahre Arbeit in den Niederungen der Kommunalpolitik voraus. Und das ist gut so.

Sicher haben einige Moderatoren und Kommentatoren überzogen, wenn sie Kirk als Rechtsextremen, Rassisten, gar Menschenfeind oder Faschist darstellen. Da war manche Wortmeldung schwach und nicht differenziert. Dennoch stand er mit seiner Bewegung wie ein Mann bedingungslos hinter Trump und war ein deutlicher Motor des „America first!“ Wie man als Christ angesichts des konkreten Handelns, seiner Lebensgeschichte und auch seiner Wortbeiträge in Trump einen gläubigen Christen und Erlöser eines darniederliegenden Heimatlandes entdecken kann, erschließt sich mir wirklich nicht. Da hat sich das messianische Bild längst von der Wirklichkeit abgelöst. Aber ich glaube, dass für kluge Strategen wie Kirk auch Trump am Ende nur ein Vehikel ist und dass man längst auf andere Personen setzt.

Charlie Kirk führte mit TPUSA eine Meinungsmacher-Organisation mit 150 Mitarbeitern an, die auch wirtschaftlich gut bestehen konnte. 

Wie auch immer ich zu seinen Haltungen und Überzeugungen stehe, das Format seiner offenen Diskussionen erinnert mich mehr an einen verbalen Boxkampf als an eine Diskussion, die um Verständigung, Lösungen, Lernen und Konsens ringt. Und Lichtjahre entfernt von der Synodalität, für die Papst Franziskus warb und die Papst Leo XIV. fortführen möchte. Da war jemand, der „die Wahrheit“ schon mitbrachte und nicht jemand, der seine Ansichten prüfen und mit Anderen nach Wahrheit oder Kompromiss suchen wollte. „Prove me wrong“ war ein wichtiges Format auch konsequent überschrieben. Allen war klar, hier spricht jemand, der die MAGA-Bewegung vorbehaltlos unterstützt und dafür weitere Jünger machen will.  

Umso erstaunlicher, dass diese politische Verstrickung und die enge Beziehung zu Trump und anderen republikanischen Akteuren, zu Spendern und Förderern der Tea-Party-Bewegung kaum jemanden zu stören scheint, der sich jetzt für Charlie Kirk und seine Sache offen stark macht (selbst wenn er ihm bisher genauso wenig zugehört hatte wie ich).

Charlie Kirk war Teil einer Bewegung, die im Grunde auf ein „Die“ gegen „Wir“ hinausläuft. Sorgfältig spalten möchte, nach „linken, liberalen“ und „konservativen“ Haltungen oder sagen wir nach links und rechts. In den USA führt diese Haltung inzwischen zu einer immer weiter zunehmenden Kluft in der Gesellschaft, die Menschen sogar im Alltag gegeneinander aufbringt und voneinander fern hält. Eine Spaltung, die vermutlich schon seit längerer Zeit grundgelegt war und die zahlreiche Akteure nun weiter verbreitern und für ihre Interessen nutzen. Diese Art der politischen Auseinandersetzung produziert zunehmend Opfer... „Die Linken“ stehen auf der Seite der Flüchtlinge und Immigranten – also müssen Immigranten raus. Die Universitäten sind alle links, Bildung ist links – also wird Universitäten der Geldhahn zugedreht. Im Namen der „Freiheit“ werden Regeln und Behörden abgeschafft, die zu einem schonenden Umgang mit Umwelt, Klima und Ressourcen beitragen sollen. Teils werden „Linke“ zu „Ratten“ und anderen Schädlingen erklärt. Oder gar zu „den wahren Faschisten“, zu Verbrechern. Die eigene Freiheit (die dann notwendigerweise jene des Stärkeren ist) muss notfalls auch mit der eigenen Waffe verteidigt werden – gegen all jene, die von meinem wirtschaftlichen Erfolg in irgendeiner Weise legal oder illegal profitieren wollen.

Linker Terror, den es zweifellos gibt (ich erinnere mich noch genau an die RAF und ihre Taten) wird benannt, überzeichnet, dämonisiert. Rechter Terror, die Opfer der eigenen Politik sorgfältig beschwiegen. Das ist falsch. Als Christen sollten wir immer an der Seite der Opfer stehen…  

Die Spaltungsbewegung entwickelt sich nach und nach auch bei uns. Selbst im Raum der Kirche. Die rechtspopulistischen Influencer, Bewegungen und Parteien arbeiten nach genau diesem Muster der Spaltung in „rechts“ und „links“ und legen es darauf an, den Graubereich, die Mitte möglichst zu verkleinern. Das Mittel dafür ist eine aggressive Haudrauf – Rhetorik, die vor Überspitzungen, Verdrehungen und Lügen nicht zurück scheut. Wer sich die Strategien und Entwicklungen in Amerika anschaut, erkennt vieles davon auch hierzulande wieder. Wenn auch oft kulturell abgemildert.

Auch hierzulande möchte man diese Spaltung. Daher wäre eine Kooperation mit der CDU oder der FDP auch so wichtig für jene Kreise. Jeder kleine Schritt hilft ihnen, jedes Kratzen an der „Brandmauer“, die demokratische Mitte zu schwächen. Es muss uns klar werden, es kommt weniger die Verteidigung einer Brandmauer zur AfD an, es kommt darauf an, die Mitte so weit und so integrativ wie möglich zu gestalten und die Menschen zusammen zu halten. Die Brandmauer ist kein Ziel, sie ist das Mittel dafür. Wer die „Spaltung“ will, der redet von Kartellparteien und macht die Mitte schlecht.

Ich glaube inzwischen, dass die breite Kampagne gegen „grün“ ein Testlauf war für weitere Kampagnen, um immer mehr Menschen aus der Mitte über die Brandmauer zu ziehen, indem man ihnen suggeriert, für zweifellos reale Probleme (oft zum Popanz aufgeblasen) die alleinige Lösung zu haben bzw. beständig zu suggerieren, dass die „Altparteien“ keine Lösungen hätten. Fragt man diese Leute dann besseren Vorschlägen und konkreten Lösungen bleibt es sehr, sehr dünn. Am Ende ist eh der Flüchtling an allem schuld. In Voerde war auf wochenlange geduldige Nachfrage kein AfD-Kandidat bereit, auch nur ein Wort dazu zu sagen, was man mit den gewonnenen Ratssitzen denn vorhabe, was man verbessern wolle und mit welchen Maßnahmen. Remigration (von der man angeblich nie gesprochen hat) soll wie von Zauberhand Probleme lösen. Oder ein Frieden von Putins Gnaden soll sinkende Energiepreise bringen ohne negative Klimafolgen (gegen die man sowieso kein Mittel für notwenig hält). Und wenn das nicht reicht, muss die Kernkraft wieder ran. 

Als Links wird alles gelabelt und übersteigert, was nicht in die eigene Vorstellung passt, alles ist gleich „ultralinks“, „radikal links“, Extremist und Antifa, manches davon war vor einigen Jahren noch ganz treu bürgerlich. Jene, denen das nicht passt und die auf diese Polarisierung keine Lust haben, die werden meist schon nach kurzer Auseinandersetzung und kritischem Nachfragen mit diesem „links“ in einen Sack gesteckt und vor die Wahl gestellt, sich für eine Seite zu entscheiden. Nicht wenige, bisher konservative Politiker sind sehr erstaunt, wie schnell man im „feindlichen, linken Lager“ steht.

Vor diesen Hintergründen wirkt die Verehrung erstaunlich weiter Kreise für Charlie Kirk zumindest irritierend, wird doch mit diesem Christen, Evangelisten, Prediger, Konservativen leichthin die ganze Bewegung um Trump und die in Amerika offenbar höchst erfolgreiche und wirksame christlich – nationalistische Welle leichthin mit eingekauft. Ein Kommentator fragte: Was sagen eigentlich die Kirchen zu all dem? Reicht es für das Evangelium wirklich aus, einfach überall Jesus Christus draufzuschreiben? 

Bezeichnenderweise kam im State Farm Stadium in Glendale, Arizona neben zahlreichen republikanischen Politikern nur ein geistlicher Redner zur Sprache, Rob McCoy, der Pastor der Godspeak Calvary Chapel aus Kalifornien. Er sei der Pastor der Familie Kirk gewesen und bezeichnete sich selbst als Freund. Er brachte Charlie Kirks Leben und seine Verbindung zur Politik auf den Satz: „Charlie looked at politics as an on-ramp to Jesus.“ Für Charlie war Politik ein Weg zu Jesus. 

Mir wurde bei den Szenen der Trauerfeier für Kirk ausgesprochen unwohl, nicht nur wegen der Überbetonung der amerikanischen Farben / Flaggen – bin in die Ränge und die Kleidung der Teilnehmer hinein exakt orchestrierte Erscheinungsbild dieses Traueraktes. Dazu das Beschwören des Vermächtnisses des Verstorbenen, das schon ein Eigenleben zu leben begann und unmittelbar gegen den politischen Gegner ausgerichtet wurde. Die Selbstinszenierung des amerikanischen Präsidenten, der seine „Hass auf seine Feinde“ zur Schau stellte und im Grunde eine weitere Wahlkampfrede im Trump-Style ablieferte. Seine Bühnenpräsenz, ganz allein, Arm in Arm mit Kirks Witwe. Mich überfordert dieser Stil. Und ich bin nicht links, weil ich das alles mit Skepsis und Ablehnung beobachte. 

Mein Herz erreicht hat da allein der Auftritt von Erika Kirk, die am Ende mit den Worten Jesu am Kreuz geradezu rang „Vater vergib ihnen, denn sie wissen nicht was sie tun.“ 

Ich fürchte, die Maga – Bewegung wird wenig dafür tun, dass aus Vergebung – Versöhnung wird. Man wünscht zumindest TPUSA unter Erika Kirks Führung, dass ihre Worte auch in Taten ihrer Anhänger münden und ein Stück Wirklichkeit werden – und nicht nur rührselige Erinnerung an den sicher bedeutsamsten Moment dieser Trauerfeier. 

Gott schütze Amerika!

Zum Beitrag von Bischof Stefan Oster.

Sonntag, 6. April 2025

"Warum die Kirchen immer leerer werden"

„Warum die Kirchen immer leerer werden“ – mit dieser Überschrift versah Dr. Hannah Bethke einen Artikel in der WELT, der am 4.4.2025 erschien. "Braucht das nicht ein Fragezeichen?", ging mir zunächst durch den Kopf, als ich den Text anklickte, den mir ein Freund empfohlen hatte. Nein, offenbar nicht…

Denn die Autorin hat sich augenscheinlich schon länger mit der Thematik beschäftigt und hierzu vor einigen Wochen bereits ein Buch veröffentlicht. „Vom Glauben abgefallen: Mut zur Christlichkeit statt Angst vor dem Zeitgeist: Eine Antwort auf die Krise der evangelischen Kirche“ – und das auch noch in einen dezidiert theologischen Verlag, nämlich Kösel – mit interessanter katholischer Vorgeschichte. 

Nun ja, der Vorwurf und die Frage, wie politisch eine Kirche sein darf, begleitet die Kirchen ja nun schon seit der konstantinischen Wende, als aus einer verfolgten Hinterhof- und Keller-Religion nach und nach eine Staatskirche wurde. Diese staatsnahe Tradition der Kirche begleitet seitdem jede Organisationsform von Kirche bis in die heutige Zeit. Sie war Ursache für Krieg und Streit und die Verstrickung der Kirchen in unvorstellbare Verbrechen. Nur mühsam kommt es zu einer guten Trennung von Kirche und Staat. Dabei scheinen aber schwarz-weiße Lösungen einer scharfen Trennung sich ebenso wenig zu bewähren, wie Formen, in denen die Kirche in irgendeiner Form dem Staat nahe steht, und sei es nur als Verstärker und schöner Schmuck gewisser Formen des Nationalismus (wie aktuell in Russland) oder als Baustein nationaler Identität wie es in Polen nach dem Kommunismus zu sein schien. Es gilt, Religion und Staat in einem komplexen Miteinander auszutarieren. Das ist eine herausfordernde und ständig bestehende Aufgabe. Also auch in dieser Hinsicht „semper reformanda“.

Doch zurück zum Text von Hannah Bethke. 

Sie sieht parallele Entwicklungen im stetigen Niedergang von Kirche und Demokratie. Ein Hauptproblem scheint für sie zu sein, dass mit einem Wegbrechen der Kirche dem Staat eine starke Stütze verloren gehe. „Die Demokratie ist auf starke Institutionen angewiesen, die das System stabilisieren und die Menschen entlasten.“ Kann man Kirche so funktional betrachten? Bethke sieht durch den Niedergang der klassischen religiösen Deutungsmuster der Welt ein Raum geschaffen, in dem „Ersatzreligionen“ wachsen könnten. Was sie mit diesem Wort meint, deutet sie mit dem Stichwort „Klima-Apokalypse“ an. Und hier setzt auch ihr Vorwurf an: die christliche Kirche in Deutschland würde sich gegen derlei Ersatzreligionen nicht missionarisch zur Wehr setzen, sondern sie geradezu selbst züchten und verstärken. Und dies sogar in „gehörigem Maße“. Hier diagnostiziert Bethke beiden Kirchen eine „starke Politisierung“ und „gleichzeitige inhaltliche Aushöhlung“. Erstaunlich, dass sie in ihrem Buch die Lösung offenbar in einer kleinen Gemeinschaft überzeugter und fest im Glauben verwurzelter Christen erkennt. Wie soll diese gleichzeitig noch "starke Institution" sein? Wie soll sie Stütze eines Staates sein, wenn sie sich allein Glaubensfragen und ggf. noch der Nächstenliebe widmet?

Ganz beiläufig bringt sie die Missbrauchsskandale ins Spiel, „deren systematische Aufarbeitung“ noch immer aussteht. Wenn Bethke den Grund für den Mitgliederschwund der Kirchen zu kennen glaubt, hätte mich schon interessiert, was ihr persönlich nach Dutzenden von Studien (es sind noch zahlreiche angekündigt) wohl noch an „systematischer Aufarbeitung“ fehlt. Ich glaube nicht, dass es dabei an Erkenntnis und Aufarbeitung fehlt, wohl aber an konsequenter Umsetzung in den Bereichen Therapie und Entschädigung sowie Umgang mit den Tätern und deren konsequenter Strafverfolgung (bzw. auch Entfernung aus kirchlichen Diensten). Und wie notwendig „systematische Aufarbeitung“ wäre, zeigt ja der Fall von KidFlix mit vielen Tausenden von Tätern und Konsumenten. Es mögen auch einige Protestanten und Katholiken dabei gewesen sein, aber augenscheinlich haben wir in unserer Gesellschaft einen sehr darken Bereich, der dringend ausgeleuchtet werden müsste, oder besser noch ausgeräuchert... Ohne dabei auch nur eine Sekunde von innerkirchlichen Darkrooms abzulenken und im Eifer hier nachzulassen. 

Aber zurück zum eigentlichen Thema des Textes (und vermutlich auch des Buches): „Sobald es um Migrationspolitik, Klimawandel, Diversität und den in jüngster Zeit oft ausgerufenen „Kampf gegen rechts“ geht, ist die Stimme der Kirche laut zu vernehmen – und zwar fast immer mit deutlich linker Schlagseite.“ 

Frau Dr. Bethke beklagt eine „einseitige Ausrichtung“, die verhindere, was die Kirche eigentlich doch ermöglichen solle „mehr Vielfalt“. 

Sie fordert daher „parteipolitische Neutralität“, da die Kirche sonst die Anhänger anderer Parteien verliere und nicht mehr für „alle Christen offen ist“. Dem ist natürlich nicht zu widersprechen. Allzu lange war ja die katholische Kirche selbst mit ihrer Lehre die Basis einer Partei, des „Zentrums“ und sogar Priester waren darin engagiert. Heute ist den Geistlichen das parteipolitische Engagement strikt verboten, doch bis heute wirkt noch eine gewisse Nähe zwischen katholischer Kirche und CDU nach – in deren Folge sich die evangelischen Kirchen sicher etwas mehr der SPD oder den GRÜNEN angenähert hatten. Von daher sollte sich eine Kirche gut überlegen, wie und mit welcher Botschaft sie sich in gesellschaftliche Debatten einbringt. Nur, das ist ein scharfer Grat. Das es auch schief gehen kann zeigte ja die Intervention der politischen Sprecher der Kirchen in der heißen Phase der Migrationsdebatte im Vorfeld der Bundestagswahl. Aber, soll die Kirche immer dann schweigen, wenn es „hoch und heiß her geht“ und die Gefahr besteht, sich „die Finger zu verbrennen“? Mit diesem Argument müsste man jegliche inhaltliche Stellungnahme vermeiden, die den Applaus der Anhänger einer bestimmten Überzeugung fände. 

Ich wüsste gern, was Frau Bethke da konkret vorschlagen würde, wo sie ja doch nicht umhin kommt, Kirchenvertretern das „Recht auf freie Meinungsäußerung“ zuzugestehen. Gilt die nur solange, wie ein Thema nicht gesellschaftlich umstritten und politisch umkämpft ist?

Schauen wir einmal zurück in die heißen Kämpfe der 1920er und 1930er und 1940er Jahre so wird der Kirche gemeinhin vorgehalten, viel zu zögerlich reagiert zu haben, als die populistische, rassistische und nationalistische Politik immer stärker wurde und die NSDAP 1933 die Macht übernahm. Bei aller Hochachtung für den Widerstand der bekennenden Kirche und weiter Teile des Katholizismus lautet doch das allgemeine Urteil bis heute: „zu wenig, zu schwach, zu leise…“ Auch wenn die heutigen Zeiten sicher nicht vergleichbar sind mit der Situation der Weimarer Republik und der NS-Diktatur, ein Blick zurück hilft sicher auch Stellungnahmen und Verhalten der Kirche von heute gut auszuloten und wachsam zu bleiben. 

Die Erfahrung aus der NS-Zeit steckt der Kirche noch sehr in den Knochen. Die Wahrnehmungsorgane sind da noch empfindlich, darunter hat sicher besonders die blaue Partei im Bundestag zu leiden (die sich selbst ja ideologisch ganz rechts verortet) und das wird von ihr ja auch lautstark beklagt. Bis hin zu Austritts- und Boykottforderungen und verbale Angriffe auf Kirchenvertreter. Gerade ihre Strategen freuen sich vermutlich einen Ast, wenn das, was in internen Zirkeln gesprochen wird, nun auch von einer noch eher jungen, hippen Politredakteurin der WELT geschrieben wird. Zahlreiche AfD-nahe Katholiken jammern die sozialen Netzwerke ja voll, wenn einmal wieder ein Priester das Wort der Bischöfe gegen den „völkischen Nationalismus“ zu deutlich zitiert oder ein Pfarrer seinen Messdiener fragt, warum der in seinem WhatsApp-Profil ausgerechnet mit Maximilian Krah posiert, der die Kirche für einen Garant eines speziellen Konvervatismus, auch für eine Art konservativer Livestyle – Agentur hält und der sowieso der Piusbruderschaft, einer stramm katholischen Priestergemeinschaft mit leicht schismatischer Schlagseite anhängt. Da riecht, klingelt und spricht Kirche noch so, wie es Krah in seinen Livestyle passt – und das sei ihm herzlich gegönnt. Ja, ich weiß, dass war alles ganz harmlos und der Messdiener war der Junge ja nur politisch vielseitig interessiert und wollte überall mal gucken gehen… 

Aber es wäre unfair, die Anfrage von Hannah Bethke nicht ernst zu nehmen. Ist die Kirche zu einseitig in ihren politischen Stellungnahmen? Was ist das genau, wo die kirchliche Haltung „zu links“ zu sein scheint, wo sie auf Widerspruch trifft? Im Artikel sind genannt: Flüchtlingspolitik, Bewahrung der Schöpfung, Diversität, Kampf gegen Rechts. 

Vielleicht wäre es erst einmal wichtig, zu unterscheiden, wer da wo und was spricht. Nicht jede Wortmeldung und jedes Engagement, dass in der Presse wahrgenommen wird ist auch „die Kirche“. Bei einigen Themen muss man jedoch sagen: „Hier stehe ich, ich kann nicht anders…“ Wenn es um den Umgang mit ungeborenen Kindern oder mit alten, sterbenden Menschen geht, gibt es unaufgebbare Positionen der Kirche, egal, was GRÜNE, CDU, AfD oder SPD dazu sagen, denken und tun wollen. Zur Abtreibung kann die Kirche nur eine klare Antwort haben, aber sie ist gleichzeitig auch aufgefordert den Menschen zur Seite stehen, die ganz persönlich mit der Frage: „Kann ich mein Kind bekommen?“ konfrontiert sind. Und die Kirche kann nicht anders, als Flüchtlingen zur Seite zu stehen, insofern sie Menschen sind, die Hilfe brauchen. Und sie muss grundsätzlich offen sein, für Menschen, die hilfesuchend vor der Tür stehen. Nur im Konkreten erschöpfen sich ihre Möglichkeiten in Manpower, Geld und ggf. Wohnraum – die politischen Entscheidungen, wer ins Land kann muss die Politik treffen, notfalls auch gegen die Einrede der Kirchen. Aber sie kann nicht erwarten, dass man ihr notwendige Nachfragen erspart. Wir wissen doch alle, dass es hier keine Lösungen geben kann, in denen die politischen Akteure nicht Schuld auf sich laden, weil unschuldigen Menschen Hilfe und Unterstützung verwehrt wird. Manchmal wird es ja in der Rückschau klarer: Wie viele unschuldige Menschen hätten vor der Vernichtung bewahrt werden können, wenn die Länder der Welt ihre Grenzen für emigrationswillige Juden entschlossen geöffnet hätten zwischen 1933 und 1945. Daraus lässt sich kein Rezept ableiten, sondern nur ein Horizont eröffnen, in dem solche Fragen diskutiert und entschieden werden könnten. 

Ich denke schon, dass man Anfragen, wie die von Hannah Bethke ernst nehmen muss. Und sich fragen muss: Sind wir als Kirche zu eifrig auf einem bestimmten, politisch gefärbten Pfad unterwegs und wie sehr sieht das nach Unterstützung für eine politische Richtung aus. Gerade auch dann, wenn zeichenhaft bestimmte Hilfsprojekte unterstützt oder Aktionen gestartet werden, die viel Aufmerksamkeit generieren.

Eine Schwäche des Artikels von Hannah Bethke liegt für mich aber darin, dass sie augenscheinlich einen Teil der Kirche als Ganzes nimmt. Es fehlt mir komplett die Perspektive der Gemeinden und der aktiven Christen, die ja die eigentliche Basis des kirchlichen Wirkens darstellen. Die Klage, die Kirche wirke zu politisch, zu wenig geistlich und spirituell ist ja oft zu hören. Meistens da, wo öffentliche Stellungnahmen manchen Leuten nicht passen. Es gibt zahllose kirchliche Papiere, die still und heimlich in die Bücherschränke der Pfarrer, Pfarrbibliotheken oder theologischen Bibliotheken eingestellt werden – und keinerlei größere Resonanz auslösen. Aufmerksamkeit entsteht ja leider nur dort, wo sich irgendwer aufregt. Und Aufregung gehört ja zum Politikstil von Parteien wie dem BSW oder der AfD. Aber nicht nur sie sind es, die Bohei schreien, wenn ein Bistum (wie Freiburg) plötzlich im ganz begrenzten Umfang die Verwendung des „Gendersternchens“ mit offiziösem Amtsblatt „erlaubt“. Im Bistum Münster käme es mir irgendwie absurd vor, dass derlei Sprachregelungen erlassen würden. Möge es uns erspart bleiben. 

Viele der angeblich so hoch gehandelten Themen kommen im Alltag der Gemeinden gar nicht vor. Und kein Pfarrer predigt jede Woche über die Klimakrise, den Kampf gegen Rechts oder die Flüchtlingsproblematik, wie es manche Kritiker und Kritikaster zu glauben scheinen. Da hat dann ein Promi mal einmal eine „politische Predigt“ erwischt und ein Sturm braust durch die Gazetten. Nein, in den Gemeinden geht es um das Klein-Klein des Lebens und die Basis des Christlichen, geht es um Jesus, um die Bibel, um die Botschaft des Glaubens für heute. Und ja, das wird immer schwieriger, weil das Wissen um das Christentum nachlässt und die christlich geprägten Denkmuster früherer Zeiten nicht mehr greifen. Aber ich kann von meiner Warte aus hier nicht erkennen, dass die apostolischen, evangelischen oder katholischen Kollegen das schwierige Themenfeld der Religion und Theologie verließen, um auf „leichte“ politisch-gesellschaftliche Themen auszuweichen. Zur Verkündigung gehört aber auch, Brücken zu schlagen zwischen den biblischen Zeiten und unserer heutigen Lebenswelt. 

Nein, es ist beileibe nicht so, dass man die Kritik von Bethke und Anderen leichthin vom Tisch wischen sollte. Aber es ist auch nicht so, dass wir uns in ein frommes Ghetto zurückziehen und völlig unpolitisch werden müssten, wie es sich manche Politiker augenscheinlich wünschen. Markus Söder hat hierzu kürzlich einmal (wenn auch etwas beiläufig) einen Blick in seine „fromme Seele“ zugelassen, als er den Kirchen zurief, sie sollen sich um ihre Dinge kümmern und dran denken, wer sie eigentlich finanziere (er meinte vermutlich den Staat und die Bürger). Es klang ein wenig nach „Wes Brot ich ess, des Lied ich sing…“, nur diesmal halt als Aufforderung nicht als Kritik. Söder wörtlich: "Ich weiß, wie plural Kirchen organisiert sind. Deswegen keine Kritik, aber vielleicht als kleiner Merkposten: Nicht vergessen, wer am Ende noch an der Seite der Institution Kirche steht. Das sind nämlich wir. Nicht, dass irgendwann man ganz plötzlich alleine steht. Denkt mal darüber nach.“ Es lohnt sich, diese Wortmeldung einmal in Ruhe anzuhören und auf sich wirken zu lassen. Wenn das eine allgemeine Haltung wäre, dann wäre es der allerbeste Grund auf die Euro zu verzichten, die als Staatsleistungen in die Kirchenhaushalte fließen, selbst wenn es sich um Entschädigung für staatliche Enteignungen handelt. 

Geht es vielleicht auch ein Stück darum, die Kirche auf die Funktionen zu reduzieren, die einem gerade passen? Und ist das wirklich das, was sich Hannah Bethke als politischer Mensch wünscht? Die besondere Stellung der Kirchen in Deutschland in ihrem Miteinander mit dem Staat und seinen Institutionen verdanken wir dem Wunsch und Willen der Väter und Mütter des Grundgesetzes, dass Kirchen und andere Institutionen dafür sorgen, dass es nie wieder zu einer Gleichschaltung sozialer Institutionen und gesellschaftlicher Akteure kommen möge. 

Wen meint Frau Bethke eigentlich, wenn Sie von „die Kirche“ spricht? Ich konnte nirgends einen Hinweis finden, dass sie ihren Glauben über die Mitgliedschaft in der ev. Kirche hinaus praktiziert, sich auf irgendeiner Ebene der evangelischen Kirche engagiert. Sie nimmt Kirche augenscheinlich auf der Basis öffentlicher Wortmeldungen wahr – nicht als engagierte, praktizierende Christin. 

Letztlich fehlt ihren Wortmeldungen, was sie als Mangel in der Kirche selbst wahrnimmt. Theologische Tiefe, gelebter Glaube, ja überhaupt ein Gedanke, was von Gott her, der Auftrag von Kirche sein könnte. Man darf sicher gespannt sein, ob ihr gerade erschienenes Buch eine Debatte in der ev. Kirche auslöst. Ich glaube nicht recht daran, denn der Vorwurf an sich ist ja nicht neu. Sie formuliert ihn an ihre eigene, evangelische Kirche gerichtet – erweitert ihn aber in ihrem WELT-Artikel mühelos auf die Kirchen in Deutschland insgesamt. Aber sie wird dabei dem Anspruch nicht gerecht, die Komplexität der Lage zu beschreiben. Man denkt unwillkürlich an die Fabel von den blinden Gelehrten, die einem Elefanten erforschen. Jeder beschreibt einen Teil des Tiers zutreffend, aber nur zusammen ergäbe sich eine stimmige Beschreibung des Ganzen. Die Christen und die Kirchen sollten die Anfrage von Hannah Bethke nicht leichthin vom Tisch wischen. Schon gar nicht mit der Floskel, dass der Glaube nun mal auch politisch sei. Aber sie sollten sich auch nicht ins fromme Ghetto scheuchen lassen, wenn sie sich mit biblisch und theologisch fundierten Gründen in gesellschaftlichen Debatten zu Wort melden. 

Dr. Hannah Bethke, geb. 1980, studierte Politikwissenschaft und Neuere und Neueste Geschichte in Freiburg und wurde an der Universität Leipzig promoviert. Sie arbeitet als Journalistin u.a. für die FAZ, die ZEIT, den Deutschlandfunk und seit Mai 2023 ist sie Redakteurin im Ressort Innenpolitik der WELT und WELT AM SONNTAG.

Ihr Text: https://www.welt.de/debatte/kommentare/article255857182/Mehr-Konfessionslose-Warum-die-Kirchen-immer-leerer-werden.html

Ihr Buch: https://www.penguin.de/buecher/hannah-bethke-vom-glauben-abgefallen/paperback/9783466373345

Dienstag, 20. Februar 2024

Synodale Rat-Losigkeit?

Dass die katholische Kirche in unserem Land in einer tiefen Krise steckt, das spürt vermutlich jedes Kind. Die Ursachen, die dafür auf dem Wochenmarkt, beim Kirchenkaffee und beim Stammtisch besprochen werden: Missbrauchsfälle, Kirchenaustritte, Mangel an Priestern, Strukturreformen, Reformunwilligkeit der Kirche, die Eigenarten eines Pastors oder der pastoralen Mitarbeiter, manchmal sogar noch die Kreuzzüge, die Hexenverfolgung oder bei alten 68ern: Rolf Hochhuths Drama über Papst Pius XII. und die Nazis.

Dass aber der Wunsch der katholischen Laienverbände, vieler Bischöfe und des Synodalen Weges, einen sogenannten „Synodalen Rat“ zu gründen, die wahre Krise der katholischen Kirche in unserem Lande sein soll, das wird vermutlich die fromme Lieschen Müller doch sehr wundern, wenn der Pastor vorbei kommt, um ihr zum 85. Geburtstag zu gratulieren. Auch als regelmäßiger Kirchgänger kann ich mich nicht erinnern, das Stichwort jemals in einer Predigt gehört zu haben. 

Während der normal engagierte Katholik gerade mit Spannung und Sorge auf die Pläne für Großgemeinden und pastorale Räume schaut, hat sich eine besondere katholische Blase das Projekt eines Synodalen Rates als Ziel ihrer Agitation gewählt. Es drohe die Spaltung, das Schisma, die Loslösung von Rom.

Was ist also los, dass sich einer der profiliertesten Köpfe des Katholizismus im deutschsprachigen Raum, der Wiener Kardinal Christoph Schönborn tief besorgt zeigt über die Situation der Kirche im Nachbarland. Dass er in einem ausführlichen Interview sogar selbst das Wort „Schisma“ übernimmt, vor einer Kirchenspaltung warnt?, 

Ernsthaft? Eine Kirchenspaltung wegen eines Gremiums von Katholiken, dass die Bischöfe beraten soll? Wird da nicht zu heiß gegessen, was da der Synodale Weg gekocht hat? 

In der Tat ist die Mitbestimmung und Mitberatung in der Kirche, die „Demokratie“ also, seit jeher ein heikles Thema. In der Vergangenheit habe ich mich auch hier schon oft damit auseinander gesetzt.

Bei all den Demonstrationen für Demokratie und gegen rechtsextreme Bestrebungen der letzten Wochen waren kirchliche Gruppen und Gemeinden, ja sogar Bischöfe engagiert und beteiligt. Dieser Einsatz der Kirche für Demokratie wird allerdings auch gern kritisiert, da ja die Kirche in ihren eigenen Strukturen weder Demokratie noch Mitbestimmung kenne. In ihrer Verfasstheit ähnelt sie nach wie vor einer Monarchie, Gewaltenteilung kennt sie kaum, auch in ihrem Arbeitsrecht geht sie einen alternativen Weg...

In der Tat hat der Bischof in der katholischen Kirche eine ungewöhnliche Machtfülle und abgeleitet hiervon auch ein Pfarrer. In jeder katholischen Gemeinde muss ein Pfarrer die letzte Vollmacht und zumindest auf dem Papier und im Zweifel die Leitung haben – was zu immer größeren Pfarren und pastoralen Räumen führt, weil die Zahl der Pfarrer, die diese Leitung auch ausfüllen könnten immer mehr sinkt und immer weniger Pfarrer diese Verantwortung auch tragen möchten. Wer mag schon pastoraler Raumpfleger werden, wenn er Priester und Seelsorger sein wollte.

Trotzdem gibt es in der Kirche immer Bestrebungen Macht zu teilen, Macht zu begrenzen und dem Bischof Räte zur Seite zu stellen. Sie sollten ihm helfen, gute Entscheidungen zu fällen. Im Raum der Kirche liegt bei kirchliche Räten die Betonung daher immer auf „Beratung“. Die konkreten Entscheidungen fällt in der Regel dann der Bischof oder die von ihm beauftragten Männer, in letzter Zeit aber auch zunehmend Frauen. Im Bistum Münster gibt es eine ganze Reihe von Räten, wie z.B. der Priesterrat, der Diakonenrat, der Diözesanrat, der Rat der Pastoralreferentinnen und Referenten. Oft gibt es auch Räte, die den Bischof und das Bistum in gesellschaftspolitischen Fragen beraten. Im Bistum Essen kann man das sehr schön sehen. 

Ich habe persönlich einige Erfahrungen in Räten dieser Art gesammelt, war vor der Familiengründung engagiertes Mitglied im Diözesanpastoralrat und im Pastoralreferent*innenrat und über diese Gremien auch im Diözesanforum, einer großen Versammlung, die die Weichen für Zukunft der Kirche im Bistum Münster stellen wollte. 

Nach meinen Erfahrungen dort ist ein synodaler Rat auf Bundesebene wirklich nicht mein feuchter Zukunftstraum für die Kirche. Zu groß bleibt das Risiko, dass die Entscheidungen dort fernab der Lebenswirklichkeit in den Gemeinden getroffen werden, zu „speziell“ sind die Themen und das Denken in den katholischen Echokammern. Wenn ich die Szene der hoch engagierten Kirchenleute sehe, erwarte ich nicht, dass die automatisch bessere Entscheidungen treffen und hilfreichere Papiere verfassen, als es die Bischöfe allein täten. Auch kenne ich Laien, die an Klerikalismus (in der Definition des Papstes) meinen Bischof um Längen übertreffen. 

Dennoch finde ich es wichtig, dass Bischöfe und Pfarrer gut beraten werden und – ganz wesentlich dabei – guten Rat auch annehmen und umsetzen. Sie dürfen ihre Ratgeber aber nicht enttäuschen, wenn zwar im großen Kreis Machtloser beraten wird, am Ende aber von machtbewussten Einzelpersonen und kleinen Entscheidungsgremien ganz Anderes beschlossen wird. Es verwundert nicht, dass solche Räte am Ende niemanden mehr anziehen und es ist inzwischen ein verbreitetes Phänomen, dass z.B. Priesterräte und Gremien immer schwieriger zu besetzen sind.

In meiner Zeit im Diözesanpastoralrat und auch in den Pfarr(gemeinde)räten und Kirchenvorständen meiner bisherigen Gemeinden habe ich hoch kompetente Menschen erlebt, die mit ihrem Sachverstand, ihrem Wissen, ihrer Lebens- und Berufserfahrung, ihrer persönlichen Glaubensüberzeugung, mit Leidenschaft und Liebe zur Kirche dem Bischof (und den Seelsorgern) zur Seite stehen und ihm/ihnen einen guten Rat geben wollten. Das ist auch eine ehrenvolle Aufgabe und Räte dieser Art blicken ja auch auf eine lange Geschichte zurück. Es waren oft besonders ausgezeichnete Personen, die die Mächtigen im Land berieten und mithalfen, dass gute Entscheidungen fallen. Gute Regierungskunst ist, die Mannschaft mitzunehmen auf den gemeinsamen Weg. 

Im Übrigen glaube ich, dass die gute Führung eines Beratungsgremiums weit schwieriger ist, als die Führung eines klar strukturierten Stadtrates, wo klare Entscheidungen mit politischer Mehrheit gefällt werden. Daher ist ein synodales Gremium, wie es Papst Franziskus vorschwebt, eine wirkliche geistliche Herausforderung. 

In Deutschland gibt es ja neben den Räten auch Gremien, in denen es um klare Entscheidungen geht, wie den Kirchenvorstand oder den Kirchensteuerrat. Hier wird manchmal auch ein Pfarrer überstimmt. Im Hintergrund solcher Strukturen stehen oft staatliche Institutionen, die die Machtposition der Kirchenführungen begrenzen und kontrollieren wollten. Besonders weit gediehen ist dies in der Schweiz, die eine weltweit beinahe einzigartige Kirchenverfassung hat mit Kirchenparlamenten und Präsidenten. Das ist zwar in der Weltkirche ein besonderes Phänomen, aber man sieht, dass es geht und dass nicht jede Entscheidung in der Kirche allein dem geweihten Amt zukommen muss. 

Um den aktuellen Streit besser zu verstehen, hilft ein kleiner Blick zurück in die Kirchen-Geschichte: Nach dem zweiten vatikanischen Konzil kamen verstärkt Laien (also Menschen ohne ein kirchliches Weihe-Amt) in gewählte Gremien und Räte und standen hier den Pfarrern und Bischöfen zur Seite. Gleichzeitig war auch aus katholischen Vereinen und Verbänden, wie z.B. Kolping, KAB, Frauengemeinschaft etc. ein Netzwerk von Organisationen gewachsen, aus dem eine ganz eigene, selbstbewusste Vertretung der organisierten Gläubigen in der Kirche entstand, das Zentralkomitee der deutschen Katholiken, das ZdK. Es hat den Anspruch, die katholischen Laien aus Gemeindegremien, Gruppen und Verbänden zu vertreten. Mitglied kann man dort auf recht verschlungenen Wegen mit Wahlen und Delegationen werden. Da dies recht kompliziert erscheint, wird die Legitimation der ZdK-Vertreter von interessierten Kreisen gern bestritten. Dabei geht es im Grunde weniger um diese Strukturen selbst, sondern um die Meinungen, die hier vertreten werden. 

Seitdem das ZdK mit den deutschen Bischöfen den sogenannten Synodalen Weg beschlossen und durchgeführt hat, steht diese Vertretungsstruktur in ständiger Kritik. 

Sehr gern spottet und polemisiert man dabei über den Begriff des Zentralkomitees, weil dieser Begriff auch im Kommunismus Verwendung fand. Dieses sei besetzt mit lauter „Funktionären“, die ihre Pfründe behalten wollten. Nach meiner Erinnerung bestanden die Pfründe in Wirklichkeit jedoch in der Teilnahme an langen (sicher ehrenvollen) Sitzungen und der Erstattung von Fahrtkosten. Andere schwurbeln über die angebliche Planung einer katholischen „Räterepublik“ nach dem Vorbild der Arbeiter- und Soldatenräte aus der Frühzeit des Kommunismus.  

Ein besonderes Sperrfeuer konservativer Kreise geht nun gegen den sogenannten Synodalen Rat der Kirche in Deutschland. (Ich bin darauf hingewiesen worden, dass man weder den Papst noch Kardinal Schönborn, noch Kardinal Kasper, Prof. Tück oder Kardinal Fernández hier subsummieren könne. All diese Kritiker der Pläne für einen Synodalen Rat sind theologisch eher liberal. Das stimmt! Und sie haben mit ihrer Kritik in der Sache ja auch recht.) Dieser Synodale Rat sollte als Vertretung aller deutschen Katholiken mit den Bischöfen gemeinsam beraten und möglichst verbindliche Beschlüsse für die ganze Kirche treffen. Das wäre ein Novum! Um diesen Rat zu gründen und Bedenken auszuräumen, soll es zunächst einen Synodalen Ausschuss geben. 

Was aus Sicht des ZdK, das auf eine lange Tradition einer bundesdeutschen Organisationsform und einer engen Zusammenarbeit mit den Bischöfen zurück blickt und was sich aus den Erfahrungen des Synodalen Weges sicher nahe legt – begegnet nun aber einigen hohen kirchenrechtlichen Hürden.

  • Eine solche Hürde taucht nun in der Tatsache auf, dass die Bischofskonferenz nur ein Hilfsinstrument ist, das die Zusammenarbeit der Bischöfe in einem bestimmten Gebiet unterstützen soll. Die Kirche ist gegliedert in Bistümer, an deren Spitze nun mal ein Bischof steht. Der Vorsitzende der Bischofskonferenz ist nicht deren Chef sondern eher ein Sprecher . Ein Rat, der einen einzelnen Bischof sogar in Glaubens- und Gewissensfragen Vorgaben machen könnte – das widerspricht ausdrücklich der katholischen Kirchenverfassung. Und dies selbst bei der liberalsten Lesart der Texte des II. Vatikanischen Konzils. Darauf weist Kardinal Schönborn aber auch Kardinal Kasper in Rom zu Recht und mit klaren Worten hin. Selbst liberalste Kirchenrechtler haben laut und vernehmlich gewarnt, ohne dass die Unterstützer eines Synodalen Ausschusses (ob die Mehrheit der Bischöfe oder auch das ZdK) ihre Argumente berücksichtigt oder überhaupt nur beantwortet hätten. Eine Steilvorlage für alle, die das Vorhaben verhindern möchten. 

  • Der zweite Knackpunkt ist die Frage, ob ein solcher Rat den einzelnen Bischof auch in Glaubens- und Gewissensfragen zu einem ausführenden Organ seiner (Mehrheits-)Beschlüsse machen könnte. Das würde die überlieferte Kirchenverfassung auf den Kopf stellen. Man könnte fragen, warum es noch geweihte Kirchenmänner (vielleicht irgendwann auch Frauen) geben soll, wenn sie denn dann nur zu tun haben, was Vereinsvorstände und Gemeinde(rats-)versammlungen entscheiden. Und wie wäre es um die Einheit bestellt, wenn auf diese Weise einmal alle Bistümer in unterschiedliche Richtungen marschieren, je nachdem, welche „Partei“ dort gerade das Sagen hat. 

Insofern ist ein „Synodaler Rat“ in Deutschland, der verbindliche Beschlüsse für die Katholische Kirche in Deutschland fasst, ein unmöglich umzusetzendes Gremium. Dies ließe sich nur erreichen, wenn man die Kirchenverfassung einmal komplett umkrempelt und das Kirchenrecht umschreibt. 

Es erschließt sich mir im Übrigen gar nicht, warum das ZdK und auch die Mehrheit der Bischöfe für ein solches Gremium kämpfen, als sei dies in genau dieser Form der erlösende Faktor für alle Probleme unserer Kirche. Ich habe aber überhaupt keine Zweifel, dass auch kirchliche, geistliche Macht geteilt und kontrolliert werden muss.

In diesem Zusammenhang muss sich auch der Limburger Bischof Georg Bätzing Kritik gefallen lassen. Als Theologe und Bischof weiß er um die Schwierigkeiten, er gibt aber keine Antworten und zeigt keine gangbaren Wege. Allein auf „Rom“ zu schimpfen, die sich notwendigen Reformen verweigerten … mich überzeugt das nicht. Er wäre in der Verantwortung gangbare Wege zu eröffnen und uns nicht in Sackgassen zu führen. In der FAZ beschreibt der für seine spitze Feder bekannte Christian Geyer die deutschen Bischöfe diesbezüglich gar als "Juristische Deppen". 

Es ist sicher wirklich gut gewollt und gemeint – aber ich sehe keinen Weg, das jetzt und heute sinnvoll umzusetzen. Die Archillesferse der Pläne haben die Gegner des Synodalen Weges sehr genau erkannt und nutzten alle Kanäle und Verbindungen, um dies zu torpedieren. Der innerkirchliche Konflikt (der aber in erster Linie nur die Leitungsebene beschäftigt) wird auf beinahe unverantwortliche Weise angeheizt, ohne dass Lösungen für die gravierenden Probleme der Kirche sichtbar würden. Was aktuell geschieht, ist im höchsten Maße schädlich und kontraproduktiv. Leider zeigen sich auch die Verfechter des Synodalen Weges wenig diplomatisch und nutzen nicht ihre Chance, zu argumentieren und dem Sperrfeuer (nicht nur) aus dem konservativen Lager Paroli zu bieten. Sie kommen sicher auch nicht daran vorbei, eigene Fehler einzuräumen. Auch der Vatikan nutzt nicht seine Möglichkeiten, diese Krise (die ein Randschauplatz der eigentlichen Probleme, ja im Grunde ein Stellvertreterkrieg ist), zu managen. Ein angekündigte Besuch des Präfekten der Glaubenskongregation Kardinal Fernández in Deutschland ließ vor einigen Wochen aufmerken. 

Es macht Hoffnung, dass Kardinal Schönborn die „unendliche Geduld“ des Hl. Vaters beschwört und dass auch die letzte vatikanische Intervention einigermaßen verständnisvoll formuliert ist. 

Es bleibt wünschenswert, dass der Vatikan sich wirklich ernsthaft der Sorgen seiner deutschen Bischöfe und der Lage der Kirche und der Christenheit in den europäischen Ländern annimmt. Ich bin fest davon überzeugt, dass sich hier in Deutschland, ja in Europa beispielhaft zeigt, was auch in zahlreichen anderen Gegenden dieser Welt droht, wenn unsere Kirche nicht ihre Hausaufgaben macht und Wege findet, die Menschen besser mitzunehmen. Und es führt kein Weg an Partizipation und Beteiligung der Gläubigen vorbei. Hier braucht es Augenhöhe und geduldiges Mitgehen mit den Menschen. Hier braucht es eine Atmosphäre in der Kirche, an der beispielhaft ablesbar wäre, wie ein gutes Miteinander in unseren Städten und Dörfern, in unserer Gesellschaft funktionieren kann. Kirche muss die Basis sein und immer mehr werden, dass Christen das Ferment der Versöhnung in der Gesellschaft sein können.

Partizipation, das ist weit mehr als Mit-Bestimmen können. Wenn man sich als Bischof, als Kirche auf einen synodalen Weg der Beratung einlässt, dann muss das auch greifbare Folgen haben. Wenn ein Bischof sich als beratungsresistent zeigt, dann muss er sich nicht wundern, dass niemand mehr kommt, wenn er einen Priesterrat oder Diözesanrat einberuft – oder dass am Ende jene Gestalten diese Gremien füllen, deren Rat kein guter Rat ist. Beteiligungssimulation und Verantwortungsverdunstung möchte im Grunde kein Katholik fördern. Sich Beraten zu lassen, das ist eine wahre Kunst. 

Skurril erscheint mir das Wüten einiger Aktivisten gegen die Mehrheit der deutschen Bischöfe und das ZdK auch aus einem anderen Grund. Letztlich geht es denen ja darum, dass sie deren Ideen und Pläne für eine Veränderung der Kirche nicht billigen. In langen Briefen und Texten beschwört man einen besseren Weg, fordert andere Entscheidungen, fordert „Neuevangelisierung“, als müsse man nur das Kirchenrecht und den Katechismus besser kommunizieren, um die neue Blüte der Kirche zu initiieren. Die postulierte kirchentreue Demut gegenüber dem Bischof ist aber nirgendwo zu spüren. Der Bischof soll nicht auf synodale Räte hören, wohl aber auf sie, die wahren Katholiken. Treue zum Bischofsamt – aber nur dann, wenn der Bischof zum ausführenden Organ eines Kirchenbildes von gestern wird. Bitter ist auch die Sprache, in der man über missliebige Bischöfe in diesen Kreisen inzwischen spricht. Der Vorsitzende der deutschen Bischofskonferenz stehe „theologisch blank bis auf die Unterhose“ da. Was er sage sei „Zum Fremdschämen!“ - so nur ein einziges, spontan gewähltes Beispiel – aus der Feder eines der Wortführer jener Leute, die sich auf dem synodalen Weg kleben und damit die Kirche zu retten glauben. 

An dieser Stelle zeigt sich doch auch die Absurdität mancher Diskussion. Da werden spirituelle, geistliche Ideale beschworen, um dem Weiter-So das Wort zu reden. Leider auch durch Kardinal Schönborn. Der sagt, dass es für die Amtsführung eines Bischofs ja „die bestbewährte Compliance, die es überhaupt gibt: das Evangelium“ gäbe. Das möchte ich ihm für seinen Dienst gerne abnehmen. Aber, wenn ein Bischof diesem Ideal nicht gerecht wird, wer greift dann ein? Und warum ist es in der Vergangenheit so häufig schief gegangen und wo waren die bischöflichen Lichtgestalten nach dem Bilde Jesu, wenn man die tausende Seiten der Missbrauchsstudien der vergangenen Jahre studiert? Nicht mal das Bild eines Karl Lehmann, eines Klaus Hemmerle, eines Johannes Dyba leuchtet noch.

Dabei sind die Missbrauchsfälle und der Umgang damit wohl eher nur die Spitze eines Eisberges. Dieser offenbart in welcher Weise Macht durch durch Bischöfe, Kirchenbehörden und Kirchenleitungen missbraucht (im Sinne von falsch genutzt) werden kann. Wo Macht unkontrolliert bleibt - steht sie immer in der Gefahr missbraucht zu werden. Dafür hat schon Jesus deutliche und prophetische Worte gefunden, ich erinnere nur an den Mühlstein! Und manchmal braucht es Propheten und Kritiker, die von außen kommen und den Finger in die Wunden legen.

Lesen wir weiter beim Wiener Kardinal: „Wenn ich unbescheiden nach nun fast dreißigjähriger Erfahrung im Bischofsamt zurückblicken darf, so sieht gelebte Synodalität für mich vor allem so aus: Ein Grundvertrauen den Gläubigen gegenüber, eine dankbare Wertschätzung für alle Dienste und Charismen in der Kirche, ein hörendes Herz für die Zeichen, die der Herr für den gemeinsamen Weg seines Volkes gibt. Und auch, das sei nicht vergessen, die Bereitschaft zum Zeugnis – opportune oder inopportune, ob gelegen oder ungelegen. Christus, der auferweckte Gekreuzigte, ist und bleibt der Kompass für die Ausübung des Bischofsamtes und den gemeinsamen Weg der Kirche.“ 

Ja, aber wenn es nicht so ist, was dann? Er muss doch nur mal auf seinen Vorgänger im Amt blicken, dem es an der „Bereitschaft zum Zeugnis“ nicht mangelte – und den deshalb noch heute Leute verehren. Der aber im Umgang mit den ihm geistlich anvertrauten jungen Männern offenbar jede Grenze überschritt, sie missbrauchte – geistlich, emotional und auch sexuell.

Erstaunlich, dass sich dieses Interview in eine Kette von Wortmeldungen dieser Tage einreiht, für die der in Emmerich geborene Wiener Dogmatiker Prof. Dr. Jan Heiner Tück verantwortlich ist. Ein echter Coup, dass muss man dem Niederrheiner lassen, der sich auch schon ausführlich am neuen Gemeinsamen Rat des Bistums Essen abarbeitete, was ihm den energischen Widerspruch des Bistums einbrachte. 

Bei all der Energie, die aktuell investiert wird, um den Synodalen Weg zu bekämpfen bzw. ihn zu einer Verstetigung oder einem Finale zu führen... Ich frage mich, was denn nun die Alternative ist. Überall, wo ich unterwegs bin, ob auf Reisen oder im Netz suche ich, wo denn der kraftvolle Neuaufbruch stattfindet, wo denn die postulierten Rezepte Frucht bringen, ja was überhaupt alternativ vorgeschlagen und gelebt wird.

Allenthalben wird zunächst Evangelisierung gefordert, manchen reicht selbst das nicht, er will sogar eine „Neuevangelisierung“. Aber wo klappt das denn wirklich – jenseits der oft mühsamen Arbeit im Weinberg des Herrn? Ja es stimmt, gewisse religiöse Biotope gedeihen, das Gebetshaus in Augsburg, ein Mehr – Kongress, Pfingstreffen in Salzburg, Adoratiokongress in Altötting, Night fever. Wer noch richtiges echtes Priestertum wie früher will, der geht nach Zaitzkofen oder notfalls auch nach Heiligenkreuz. All das wächst, während die normalen Ortsgemeinden schwächeln. Ich frage mich: Ist das Neuaufbruch – oder ist es ein Symptom der Krise? Das ganz normale katholische Leben in der Welt, in den Gemeinden, es trocknet immer weiter aus. Die „religiös Musikalischen“ fahren lieber dorthin, wo die fetzigste Lobpreis-Band spielt und der charismatischste Pfarrer predigt, oder wo die Messe noch wie früher, richtig lateinisch und im barocken Ambiente stattfindet. Das schätzen im Übrigen auch die jungen Paare für ihre Hochzeits- oder Segungsfeier, wenn der erwählte Partner denn dann nicht ins katholische Raster passt.

Ich glaube, für eine wirklich nachhaltige Evangelisierung muss erst der Boden bereitet werden, für eine Kirche die aus tiefen Wurzeln (des Evangeliums und der Tradition) Kraft schöpft, aber im Ackerboden der heutigen Zeit wächst und gedeiht. Und zwar ganz konkret so, dass man miteinander christliches Leben dort gestaltet – wo man lebt, in der Gemeinde, der Gemeinschaft vor Ort. 

Ich frage mich schon seit dem Ende des Synodalen Wegs, was uns ein Synodaler Rat bringt, der am Ende schlimmstenfalls die vielen Ratlosigkeiten unserer Zeit und die bedrückenden Fragen, die die Welt uns stellt, nur mit Geschäftigkeit und schlauen Worten und Beschlüssen garniert. 

Vielleicht braucht es hier jetzt ein Moratorium. Lasst uns die Pläne für einen Synodalen Rat zur Seite legen (aber an eine gut sichtbare Stelle) und den synodalen Prozess der Weltkirche abwarten. Und bis dahin versuchen, dem bischöflichen Ideal nachzueifern, das Kardinal Schönborn formuliert (und durchaus vorgelebt hat). Er bekennt in aller Klarheit: „Die moralische Autorität bischöflicher Entscheidungen aber wächst, wenn sie zuvor durch einen Beratungs- und Konsultationsprozess hindurchgegangen ist.“ 

Wesentlich wird es sein und bleiben, dass wir als zaghafte oder überzeugte Katholiken Zeugnis geben von der Hoffnung die uns erfüllt. Und dies in Wort und Tat, mit der Rückendeckung unserer Priester und Bischöfe, Hand in Hand mit den konservativen und liberalen Schwestern und Brüdern und aus der Kraft des Hl. Geistes. 

Diese Hoffnung wird weder bestärkt durch „ich glaube an die Entscheidungen des Synodalen Rates“ oder „ich glaube, dass der Bischof in „persona Christi“ die Diözese führt“ sondern durch den gemeinsamen Glauben an den dreieinen Gott.

Ergänzend noch ein Link zu den Wortmeldungen der Kardinäle Kasper: 

https://www.herder.de/communio/theologie/synodales-miteinander-statt-unfruchtbares-gegeneinander-auswege-aus-der-krise/

und Schönborn: 

https://www.herder.de/communio/theologie/ein-gespraech-mit-kardinal-christoph-schoenborn-mich-beeindruckt-die-geduld-des-papstes/ 

Samstag, 24. Juni 2023

Immer fleißig druff? Prügel für die Bischöfe!

Im Aufbau unserer katholischen Kirche ist das Amt des Bischofs sicher das bedeutsamste Element. Man könnte sagen, das Bischofsamt ist konstitutiv und die Basis unserer Kirche. Die Bischöfe sind zentrale Persönlichkeiten und sie führen ihre Bischofsweihe zu Recht auf die jeweiligen Apostel zurück, als deren Nachfolger sie eingesetzt wurden. Die Päpste Benedikt XVI. und Franziskus haben in den letzten Jahrzehnten gerade ihre Aufgabe als Bischöfe von Rom neu akzentuiert. Als solche sind sie der Mittelpunkt, das Haupt und oberste Pontifex (Brückenbauer) im Bischofskollegiums, was sicher in der bevorstehenden Synode in Rom sichtbar vor Augen geführt wird. 

Daher berührt es umso mehr, auf welch atemberaubende Weise das Bischofsamt in diesen Tagen ausgerechnet von jenen angegriffen wird, die sich als besonders kirchen- und papsttreu betrachten. Während sie gleichzeitig lautstark beklagen, dass die deutsche Kirche den vier führenden Bischöfen Kardinal Woelki, Bischof Voderholzer, Bischof Oster und Bischof Hanke nicht folge, scheint jegliche Achtung vor missliebigen Bischöfen den Bach herunter zu gehen. Eine Entwicklung, die ich vor 10 Jahren noch komplett ausgeschlossen hätte. 

Natürlich steht das Bischofsamt bzw. der konkrete Bischof heute auch öffentlich unter Beschuss und muss manche Ungerechtigkeit ertragen. So trägt Kardinal Woelki die Hauptlast der öffentlichen Kritik am Missbrauchskomplex und badet das Versagen seiner Mitbischöfe und Vorgänger sicher zum Hauptteil aus, obwohl ihm selbst weniger Versagen nachgewiesen wurde - als manchem Mitbruder. Und Bischof Voderholzer stemmte sich mit aller Macht der liberaleren Theologie seiner ehemaligen Professorenkollegen entgegen, was ihm manch unangenehme Diskussion und manchen bösen Brief oder Zeitungskommentar einbrachte. 

Gerade ungeduldige Reformer gehen durchaus auch hart mit Bischöfen ins Gericht. Aber darüber möchte ich heute nicht schreiben. 

Ich muss gestehen, dass ich in meiner Familie immer zu Respekt vor Politikern, Bürgermeistern, Lehrer, Professoren, Pastören und Bischöfen erzogen wurde. Das steckt mir noch immer in den Knochen und nimmt mir manchmal auch die notwendige Unbefangenheit. 

Was ich aber in den letzten Tagen in der katholischen Tagespost über Bischof Kräutler lesen musste, das geht mir nicht nur deshalb gegen den Strich. 

Kräutler, werden Sie fragen, wer ist das? Wenn Sie nicht sehr in der katholischen Szene verwurzelt sind, werden sie den vormaligen Bischof der Territorialprälatur Xingu am Amazonas in Brasilien vermutlich gar nicht kennen. 

Dabei ist unser Land sehr verbunden mit dem riesigen Land in Lateinamerika. Nicht wenige Priester und Bischöfe, insbesondere Ordensleute, z.B. Franziskaner aus Brasilien, stamm(t)en aus Deutschland. Für mein Heimatstädtchen war das Kloster Bardel ein anziehender Ort für uns Jugendliche, es gehörte – obwohl in Niedersachsen gelegen – zur brasilianischen Ordensprovinz. 

Der Amazonas (Xingu ist eine riesige, aber dünn besiedelte Quasi-Diözese), war kirchlicherseits fest in deutschsprachiger Hand. Nachdem Papst Pius XI. die Territorialprälatur 1934 begründet hatte, setzte er den Franziskaner Bischof Armando Bahlmann aus Essen/Oldenburg als Prälaten ein. Nicht unwahrscheinlich, dass der heutige Bischof von Óbidos am Amazonas, Johannes Bahlmann, ebenfalls Franziskaner, geboren in Visbek, mit ihm verwandt ist. 

Auf Bischof Bahlmann folgte dann (später) 1971 – 1981 Erich Kräutler und dann – sicher ungewöhnlich - dessen Neffe, Erwin Kräutler, der bis 2015 in diesem Amt war. Beide gehör(t)en (wie auch ihr Vorgänger Clemens Geiger) dem Orden der Missionare vom Kostbaren Blut (CPPS) an. 

2019 teilte Papst Franziskus die Territorialprälatur aufgrund der schieren Größe in ein Bistum und eine neue Territorialprälatur auf, die inzwischen von brasilianischen bzw. spanischen Ordensleuten geleitet werden. 

Bischof Erwin Kräutler habe ich bei dem ein oder anderen Vortrag erleben dürfen. Der Österreicher hat es vermocht, viele Gemeinden und Christen für die Unterstützung seiner Amazonas-Mission zu gewinnen. Sicher auch, weil des dort zahlreiche Stämme und Gruppen gibt, die fernab der sogenannten Zivilisation und teils „unkontaktiert“ und isoliert leben. 

An einen Abend erinnere ich mich besonders gut, auch wenn ich nicht mehr sicher weiß, in welchem Pfarrheim viele Besucher den Worten des Bischofs lauschten. Der saß zunächst unauffällig im hinteren Teil des Raumes auf einem Stuhl. Dann trat er ans Rednerpult und berichtete mit spürbarer Verbundenheit vom Leben in den Pfarreien, von langen, beschwerlichen Reisen, von der Freude, gemeinsam Eucharistie zu feiern, von der Schwierigkeit im feuchten, tropischen Klima die Hostien vor dem Verschimmeln zu bewahren. Am Ende beteten wir gemeinsam das Vater unser und er sprach den bischöflichen Segen. Er hat mich sehr berührt und als Persönlichkeit beeindruckt.  Einfach, klar, demütig, sich aber seiner Rolle und Aufgabe bewußt. 

2010 wurde Kräutler mit dem alternativen Nobelpreis ausgezeichnet. Er gilt als Co-Autor der Enzyklika „Laudato si“ von Papst Franziskus. Man hat ihn in seiner Diözese mit dem Tod bedroht und verprügelt, weil er sich für die Armen, die indigenen Völker und die Natur engagiert hat.

Besondere Aufmerksamkeit fand Kräutlers Person im Umfeld der Amazonas-Synode in Rom. Damals war er als Bischof bereits in Pension, aber als Vizepräsident noch engagiert im Amazonas-Netzwerk REPAM, das Diözesen und Initiativen der Amazonasregion miteinander vernetzt. 

Hier hat er u.a. die Weihe bewährter verheirateter Männer zu Priestern gefordert und sich später enttäuscht gezeigt, dass der Hl. Vater dem mehrheitlichen Wunsch der Synodalen dazu nicht folgte. 

Später erkrankte Kräutler schwer und wäre wohl beinahe gestorben. 

In der Tagespost erschien nun ein Kommentar von Stephan Baier vom 22.6.2023. Unter der Überschrift „Frustrierte Linkskatholiken“ wird ein unvorteilhaftes Bild des Amazonas-Bischofs (der nach wie vor in seiner Wahlheimat lebt) gezeigt.

Spöttisch wird der „legendäre Amazonas-Bischof“ zitiert: „Es fällt mir schwer zu glauben, dass Papst Franziskus nun schon mit mehr als 86 Jahren den Mut aufbringt, beispielsweise den Pflichtzölibat aufzuheben“.

Eigentlich eine harmlose Bemerkung aus einem langen Text mit vielen interessanten Themen. Ich glaube das übrigens auch nicht... Aber wer weiß, Franziskus überrascht ja immer wieder. 

Baier kann sich den Hinweis nicht verkneifen, dass Bischof Kräutler selbst ja „nur drei Jahre jünger sei“. Dieser zeige sich „vor allem frustriert, dass Papst Franziskus die Amazonas-Synode nicht dazu genutzt hat, die von Kräutler ersehnte und herbeigeredete Agenda durchzuziehen.“ ...

Lange haben Bischof Kräutler und seine Gesinnungsgenossen versucht, Papst Franziskus für sich zu instrumentalisieren und in ihrem Sinn zu interpretieren. … Weil Franziskus dieser Agenda trotz einer Mehrheit in der Synodenaula nicht folgen wollte, genügte es nun offenbar nicht mehr, bösen Hardlinern im Vatikan den Schwarzen Peter zuzuschieben. Also wird der Papst selbst pathologisiert: Der alte Mann bringt den Mut nicht auf, so lautet das neue Kräutler-Narrativ.“

Interessant, was man in einen doch eigentlich harmlosen Satz hinein lesen kann. Hätte Kardinal Müller genau dasselbe gesagt, wer hätte da von "Gesinnungsgenossen", von "instrumentalisieren" und "pathologisieren" gesprochen. 

Und dann holt Baier noch mal ganz weit aus und klagt: „Das ist eine altbekannte, aber unehrliche Methode: Bischöfen, die sich der linkskatholischen Agenda verweigern, wird Angst und fehlender Mut unterstellt. Nun also auch Papst Franziskus, garniert mit einer Anspielung auf sein Alter. Ist es für Kräutler & Co. völlig unvorstellbar, dass der Papst eine Wertschätzung für den Zölibat – immerhin die Lebensform Jesu – aufbringt? Und braucht ein Papst in Zeiten wie diesen nicht viel mehr Mut, einer Synodenmehrheit und zugleich dem Zeitgeist zu widerstehen als sich der pseudo-demokratischen Mehrheit einfach zu fügen?“

Schließlich dreht der Kommentator die ehrliche Sorge des Bischofs um die Menschen seiner Diözese auf eine sehr persönliche Ebene. Den Satz Bischof Kräutlers „Wenn die Menschen weder an Weihnachten noch an Ostern noch an Pfingsten eine Eucharistiefeier haben, dann fehlt etwas.“ wendet er in einen persönlichen Vorwurf. Daran sei dieser schließlich selbst schuld, er habe einfach nicht genug dafür getan, Priesterberufungen zu fördern: „Ja, ganz richtig! 35 Jahre lang war der aus Vorarlberg stammende Kräutler als Bischof von Xingu dafür verantwortlich, den Menschen im Amazonasgebiet das Evangelium zu verkünden. Wenn der Priestermangel dort jetzt so dramatisch ist, dann trägt er als Bischof dafür eine Mitverantwortung. Aber es ist natürlich bequemer, vom Papst eine Reform der weltkirchlichen Ordnung zu verlangen, als über die Förderung von Priesterberufungen – und die eigenen Versäumnisse hierbei – nachzudenken.“

Beinahe erwartbar sekundiert auch kath.net: „Weltsynode: Bei „Umstürzlern“ wie Bischof Kräutler breitet sich Resignation aus...“ Der Bischof hätte für seine „zeitgeistigen Positionen“ viel Presseaufmerksamkeit“ erhalten. Gerade von „kirchensteuerfinanzierten“ Medien. 

Schließlich wird dort resümiert: „Sollte dies ein Wink Kräutlers mit dem Zaunpfahl sein, dass Papst Franziskus zurücktreten möge? Das wäre nicht nur eine Unverschämtheit eines Bischofs, sondern es wäre obendrein eine eklatante Realitätsferne. Weiß Kräutler ernsthaft nicht, dass die Verantwortung, die katholische Kirche in ein neues Schisma zu führen, auch keiner der Nachfolger von Papst Franziskus leichtfertig auf sich nehmen können wird?“.

Der Bischofstitel fällt in diesen Zitaten locker unter den Tisch. In den Diskussionen zu solchen Texten in sozialen Medien wird es dann gänzlich unerträglich. Kräutler sei ein Rassist, weil er einheimische Kandidaten den Weg zum Priestertum verschlossen habe. Er habe ihnen die Fähigkeit zum Zölibat abgesprochen. Worauf diese Vorwürfe zurückgehen – steht auch in dem sehr lesenswerten Text von Bischof Kräutler, denn er hat hin und wieder davon gesprochen, dass in den indianischen Dörfern die Ehelosigkeit der Priester nicht verstanden wird. Beinahe mitleidig reagiert der Kazike (der Vorsteher) des Dorfes, als der Bischof ihm erzählte, dass er nicht verheiratet sei und daher auf seinen Reisen ohne Unterstützung seiner Frau unterwegs sein müsse.

Natürlich ist das sicher kein Argument gegen die Ehelosigkeit um des Himmelreiches willen. Aber man muss die Kultur der Menschen dennoch wahrnehmen und verstehen. Dabei ist Kräutler niemand, der die grundsätzlich sakramentale Struktur der Kirche und die Ämter der Priester, Bischöfe und Diakone in Frage stellt. Im Gegenteil! Und er betont die Bedeutsamkeit der Eucharistie für die Katholiken in einer Weise, die ich mir hierzulande manchmal wünschen würde. Und dennoch müssen 90 Prozent der Gemeinden am Amazonas fast ohne sonntägliche Eucharistie, ohne Beichte und Krankensalbung, ohne zeitnahe Taufe und Eheschließung leben und sich ohne priesterliche Leitung organisieren.

Gerade die Eucharistie ist doch von so existentieller Bedeutung "Quelle und Höhepunkt" für die Kirche, dass es geradezu verstört, warum diese nicht weltweit alles nur Mögliche tut, dass Christus im eucharistischen Brot auch unter den Menschen überall gegenwärtig sein - und verehrt werden kann. Wenn das nicht Christen jeglicher Spiritualität zusammen führt - was denn dann?

Die Frage des Bischofs ist doch mehr als berechtig, warum es in der existentiellen pastoralen Notsituation in Lateinamerika, die sich am Amazonas ja besonders zeigt, die Kirche keine Lösungen anbietet? Warum wir die Menschen dort den pfingstlerischen Sekten und sonderbaren Gemeinschaften überlassen, die Wohlstand versprechen und reichlich Missionare schicken, die oft genug engagiert für den eigenen Wohlstand arbeiten - aber präsent sind. 

Wer von uns hier kann sich vorstellen, wie das ist, wenn Priester nur ein bis zweimal im Jahr (wenn überhaupt) vorbei kommt? „Der Priester gehöre nicht zum Dorf, sei im Grunde kein Mitglied der Gemeinde, sagte ich ihm (dem Hl. Vater), sondern komme halt mal vorbei, wenn es ihm möglich ist. Wie oft haben mich Gemeindemitglieder selbst gefragt: „Wann kommst du wieder?“ und ich gab eine verlegene Antwort: „So bald als möglich!“. Oft vergingen Jahre, bis ich mein Versprechen einhalten konnte.“

Was soll verkehrt daran sein, wenn ein Bischof davon träumt, dass Männer und Frauen als Diakone das Leben ihrer Gemeinden teilen und einige von ihnen, die sich besonders bewährt haben – in Berufung und Familie – auch zu Priestern geweiht werden?

Das allein hat gereicht, um Bischof Kräutler zur Hassfigur gewisser Kirchenkreise zu machen. Als sei er nicht ein verdienter Mann, der sein Leben in den Dienst Jesu Christi gestellt hat - sondern ein politischer Aktivist für den eigenen Vorteil. Ich finde das schäbig.

Ein solcher Traum, auch wenn er nicht – oder noch nicht – wahr wird, berührt in keiner Weise die Fundamente und die Basis unseres Glaubens. Im Gegenteil, die Frage des Diakonats der Frau wird in der Kirche doch offen beraten, sogar durch päpstlich eingesetzte Kommissionen. In den unierten, östlichen Kirchen gibt es schon lange verheiratete Priester, im Westen – mit Ausnahmegenehmigungen – ebenfalls, dazu noch die oft verheirateten ständigen Diakone. 

Demgegenüber sägt der feindselige Umgang mit Bischöfen, die – aufgrund ihrer langjährigen seelsorglichen Erfahrung zu kritischen Fragen an die Kirche kommen – und vor allem der abwertende, despektierliche Ton, in dem sie inzwischen angegangen werden, deutlich an den Wurzeln der Kirche. 

Gegen Widerspruch und Kritik ist gar nichts einzuwenden. Aber wenn darin nicht mehr die grundsätzliche Liebe zur Kirche und die Achtung vor den Nachfolgern der Apostel zu spüren ist, wenn diese grundlegenden Umgangsformen nicht einmal mehr von den so kirchentreuen Journalisten und Aktivisten eingehalten werden – dann läuft etwas grundsätzlich falsch.

Erst recht, wenn man sich nicht zu schade ist, Bischöfe als "Mietlinge" zu titulieren, wie dies z.B. bei den Demonstrationen am Rande der letzten Bischofskonferenzen und bei Protesten zum Synodalen Weg immer wieder zu sehen war. 

Selbst wenn man den Überzeugungen von Bischof Kräutler nicht folgen mag und ihm widersprechen möchte: Niemand kann seine vielfachen Verdienste um die Kirche, sein segensreiches Wirken für die Indigenas und die kostbare Natur des Amazonasgebietes bestreiten. Allein dies sollte einem verdienstvollen alten Kirchenmann Respekt und Interesse einbringen. Selbst dann, wenn dieser im Laufe seines Lebens auch Fehler gemacht haben sollte oder zu strittigen Überzeugungen gekommen ist. 

Spott, Häme, haltlose Unterstellungen und die Überinterpretation einzelner Bemerkungen oder Anekdötchen werden unsere Kirche keinen Schritt voran bringen. Im Gegenteil sie stoßen ab. 

Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht. 

Ich fände eine Entschuldigung angemessen.

Und dann könnte ja eine Diskussion folgen. 


Hier der Text von Bischof Kräutler in der Herder Korrespondenz:

www.herder.de/hk/online-exklusiv/amazonas-und-weltbischofssynode-eiskalte-dusche/


Den Text von Petra Lorleberg bei kath.net findet man hier: www.kath.net/news/81894

Und hier den misslungenen Kommentar von Stephan Baier: 

www.die-tagespost.de/kirche/weltkirche/frustrierte-linkskatholiken-art-239639

Freitag, 12. Mai 2023

Das Wohnzimmer des emeritierten Bischof von Chur...

Seit einigen Wochen kursieren Beiträge des inzwischen emeritierten Bischofs der Schweizer Diözese Chur im Internet. Der dortige Bischof, Vitus Huonder war nach seiner Emeritierung in das von der Piusbruderschaft betriebene Jungeninternat „Sancta Maria“ in das Örtchen Wangs im Kanton St. Gallen gezogen. Dieser Schritt hatte einige Beobachter überrascht, hatte sich die Piusbruderschaft doch im Streit um die Liturgiereform von der katholischen Kirche getrennt. Die damals vom Erzbischof Lefebvre geweihten Bischöfe waren damals exkommuniziert worden. Seitdem gab es Gespräche zur Versöhnung und vor allem unter Papst Benedikt und Papst Franziskus einige Versuche, Signale der Versöhnung zu senden, wie die Aufhebung dieser Exkommunikation und die Erlaubnis zur gültigen Spendung einiger Sakramente durch Priester dieser ordensähnlichen Priestergemeinschaft. Von der Leitung dieser Gemeinschaft gab es aber trotz der ausgestreckten Hände letztendlich keine konkrete Bewegung auf Rom zu, im Gegenteil, es folgten weitere Distanzierungen und ein Rückzug auf die Haltung, dass der Hl. Vater ihnen noch weiter entgegen zu kommen habe.

Im Mittelpunkt der Auseinandersetzungen zwischen der offiziellen katholischen Kirche und der Piusbruderschaft steht die Frage der Liturgiereform. Die Bruderschaft hält an der ausschließlich lateinischen Liturgie fest, wie sie bis zum 2. Vatikanischen Konzil in der Katholischen Kirche gefeiert wurde. Und sie lehnt zahlreiche weitere Reformen dieses Konzils entschlossen ab. 

Nun sehen wir in diesem Video einen katholischen Bischof, der sich 1:1 die Haltung der Piusbruderschaft zu Eigen macht. Er tritt – ohne jedes kritische Wort – als Botschafter dieser Gemeinschaft auf und klagt Papst Franziskus an, die Kinder der Kirche „hungern“ zu lassen und Verantwortlich für eine große Wunde zu sein, die sich zu einer giftigen Furunkel entwickele. 

Hintergrund der bischöflichen Empörung sind die Einschränkungen für die Feier der alten Liturgie, die Papst Franziskus kürzlich verfügt hat, weil er im Kreis von deren Anhängern vor allem eine beinahe romantische Verklärung der Vergangenheit beobachtet und die irrationale Hoffnung, wenn man nur zu Haltungen und liturgischen Formen glorreicher Zeiten zurückkehre – so wäre die Krise der Kirche überwunden. 

Und als wolle Bischof Huonder diese Haltung des Papstes bestätigen, so liegt er argumentativ genau auf dieser Linie. Man kommt aus dem Kopfschütteln nicht mehr heraus. Hier spricht ein Bischof, der aufgrund seiner Haltung nachhaltig Unfrieden in seiner Diözese gestiftet hatte. Man blicke nur zurück auf die letzten Jahre seiner „Regentschaft“ und wie sehr auch konservative Katholiken in den Schweizer Bistum aufatmeten, als endlich ein Versöhner (ausgerechnet ein Opus-Dei-Mann) zum Bischof gewählt wurde. Was von Huonders Anhängern zuvor noch mit schmutzigen Verfahrenstricks sabotiert werden sollte. 

Besonders entlarvend erweist sich das von Huonder verwendete Bild, für das er zunächst noch ausgerechnet Erzbischof Gänswein und den verstorbenen Papst Benedikt XVI. vor seinen Karren spannt, indem er dessen angebliche Wortmeldungen bei der Frühstückslektüre des „Osservatore Romano“ zitiert. Nach dieser zurecht gebogenen „Steilvorlage“ versteigt sich Huonder zu der Formulierung, es ginge darum „eine Große Wunde zu heilen, denn sie blutet immer noch, sie blutet neuerdings, die Kirche leidet mehr denn je an dieser Wunde, sie wird größer, sie wird zu einem giftigen Furunkel, der den ganzen Körper in einen schlimmen Fieberzustand versetzt.“

Man fragt sich einen Moment, ob man recht gehört hat. Offenbar hatte sich der Bischof in sein Bild derart verliebt, dass er gar nicht merkt, wie schräg das alles ist. Denn einen giftigen Furunkel, das weiß schon der Karl May – Leser, muss man aufstechen, die Wunde muss gereinigt werden (mancher Traditionelle schwört hier noch auf die sogenannte Zugsalbe). „Die Ärztin oder der Arzt öffnet den Eiterabszess mit einem kleinen Schnitt, desinfiziert die Wunde und legt Stoffstreifen ein, die den Eiter aufsaugen und ableiten. Die Wunde heilt offen aus, muss also nicht vernäht werden.“ 

Dieses Bild wendet sich in einer Weise gegen die Piusbruderschaft, dass man beinahe hofft, der Bischof hätte sich diesen Gedankengang gespart. 

Ich habe es an anderer Stelle schon gesagt, dass ich bezüglich der Einschränkungen für den traditionellen Ritus die Einschätzung des Hl. Vaters nicht teile. Allerdings kann ich seine Sorge um die Einheit der katholischen Liturgie verstehen. Und offensichtlich ist es ja so, dass die ausgestreckte Hand von Papst Benedikt XVI. nicht ergriffen wurde. Im Gegenteil, man hat den Hl. Vater damals stehen lassen, hat ihn zu vereinnahmen versucht, hat seine Hand zurückgeschlagen oder versucht ihn über den Tisch zu ziehen. Die Videos von Bischof Huonder machen das noch einmal überdeutlich. Es gibt für ihn nur einen Weg der Reform in der Kirche, das ist die Umgestaltung dieser Kirche nach dem Vorbild der Piusbruderschaft. Nach meiner Wahrnehmung ist das eine ungeeignete Medizin, deren Prinzipien eher jenen der Homöopathie ähneln als jenen der modernen Medizin oder selbst jenen des Mittelalters. 

Die Ursache für die Krise der Kirche sind vielschichtig und liegen mitnichten darin, dass die Kirche sich mit dem 2. Vatikanum (noch dazu allzu spät) geweigert habe, den Weg in ein selbstgewähltes katholisches Ghetto zu gehen, sondern sich entschied „Sakrament für die Welt“ und „Ferment der Versöhnung“ in der Gesellschaft sein zu wollen. Mir kommt die Piusbruderschaft vor wie eine Amish-Gemeinde, wie die Gemeinschaften chassidischer Juden in Israel und den USA oder die Wahhabiten im Islam. Man beschreibt ein Glaubensideal, das nur in Abschottung und Abgrenzung von der modernen Welt gelebt werden kann. Man hat ein relativ einfaches Glaubensideal, das zum Allheilmittel aller Probleme und zum Weg der Erlösung stilisiert wird mit einzelnen Bausteinen, die nicht ohne Wahrheit und Überzeugungskraft sind und für die man göttliche Geltung beansprucht. 

Kompromisse sind von dieser Position aus nicht möglich. Diese Konstrukte sind erstaunlich stabil, in einem gewissen Umfang sicher auch missionarisch. Ich lasse an dieser Stelle aber die Frage offen, ob sie einen Weg in die Zukunft darstellen oder nicht letztendlich eine Ursache des Fiebers und der gesellschaftlichen Spannungen sind, unter denen die Menschheit so leidet. Im Bereich des Islam muss man diese Frage leider mit ja beantworten. Auch Huonder zitiert Benedikt XVI. Mit den Worten „es sei immer gefährlich, eine Gruppe von Gläubigen in die Ecke zu drängen“ und ihren das Gefühl zu vermitteln „verfolgt zu sein.“

Nur, wäre es nicht seine Aufgabe als Bischof, als Pontifex, zur Befriedung beizutragen, statt derlei Ängste und Sorgen anzuheizen?

Es ist nicht allein die Haltung der römischen Kirche, die die Wunde der Liturgiereform nicht hat heilen lassen (auch wenn hier viele Fehler gemacht wurden und werden). Es ist aber in erster Linie die ideologische Abschottung der Piusbrüder, die die Transformation der schmerzenden Wunde in einen eiternden Furunkel erst ermöglich hat. Um das Bild des emeritierten Bischofs weiter zu strapazieren. 

Zum Ende seines Films fabuliert der Bischof dann von einer angeblichen „innerkirchlichen Verfolgung“ und sieht sich in der Tradition des Ambrosius im Kampf gegen den sog. „Arianismus“ der frühen Kirche und zitiert dazu den Kirchenvater Basilius mit dessen Reflektion der Verfolgung der Glaubenstreuen im 4. Jahrhundert des Christentums. Er spricht von „Hetzjagden“ gegen die Anhänger der überlieferten Liturgie und es klingt, als würden Menschen (wenn nicht jetzt – dann aber bald - massenhaft verbannt, verbrannt und ermordet. Das Gegenteil ist der Fall. Mit der Autorität des Bischofsamtes irrlichtern eine ganze Reihe einst katholischer Bischöfe durch die Welt und sägen munter an den Stuhlbeinen der päpstlichen Kathedra.

Kein Wunder, dass auch die diesbezüglichen Hemmungen der liberalen Gegenseite in den letzten Jahren gefallen sind. 

Fast kommen einem die Tränen, wenn man den Bischof abschließend seine Anklage an den Papst (der ihn angeblich nicht mehr empfangen würde) formuliert: „Was veranlasst ihn dazu? Warum nimmt er den Kindern das Brot weg? Was veranlasst ihn dazu sie hungern zu lassen? Was veranlasst ihn dazu sie zu Grunde gehen zu lassen. … Sie haben ein Recht auf diese Nahrung. Ich betonte, sie haben ein Recht auf DIESE Nahrung.“

Lieber Bischof Huonder, der Papst lässt die Kinder nicht hungern. Er lädt sie ein. So zum Beispiel in die Pauluskirche nach Voerde. Dort lässt er ihnen das Brot reichen. Am Samstag um 18.30 Uhr, am Sonntag um 9 Uhr und um 11 Uhr. Dazu noch in der Woche am Montag, Donnerstag und Freitag. Und wenn der Geschmack des Brotes dort nicht genehm ist: es gibt auch noch das Stift Heiligenkreuz, es gibt die Bethlehemschwestern in den hesssischen Wäldern und auf der Kinderalm, es gibt die Priorate der Petrusbruderschaft und Maria Vesperbild, des gibt Neviges, Banneux und das Kloster Beuron. In beinahe jeder kleinen Kapelle wird das Hl. Opfer dargebracht und das „Brot vom Himmel“ gereicht. Und kein Priester wird dem traditionellen Katholiken die Tür vor der Nase zuschlagen, wenn er vor der Hl. Messe die Beichte ablegen möchte. 

Der Papst lässt seine Kinder keineswegs hungern. Es sind (die glücklicherweise wenigen) Bischöfe wie Vitus Huonder, die mit Gewalt die Türen der Brotschränke geschlossen halten, indem sie suggerieren, dass nur die alte Liturgie zum Heil führt und indem sie die erneuerte, gültige Liturgie der Kirche für minderwertig, ja wertlos erklären. 

Und nicht nur das. Letztendlich stehen sie auf diese Weise auch dem sehr berechtigten Anliegen von Papst Benedikt XVI. im Wege, die Schwächen der Liturgiereform nach dem 2. Vatikanum tatsächlich und von der Wurzel her anzugehen. Benedikt XVI. hat sich eine Reform der Reform gewünscht und gehofft, dass die von ihm verfügten Öffnungen und Erleichterungen für die alte Liturgie zu einer offenen Atmosphäre des Dialogs, ja zu einer neuen liturgischen Bewegung führen. Das Gegenteil war (zumindest im Umfeld der Piusbruderschaft der Fall). Zunächst wurde offenbar, dass inzwischen auch höchst unappetitliche Kreise an der Bruderschaft angedockt hatten, wie der Skandal um den Holocaustleugner Bischof Williamson beispielhaft offenbarte. Aber auch weitere zweifelhafte Persönlichkeiten zeigten sich in diesem Kontext. Im Zuge der hierdurch entstandenen Krise scheiterten dann auch alle Bemühungen, die Bruderschaft wieder unter den Schirm der regulären katholischen Kirche zu integrieren. 

Diese versammelte sich nämlich wieder stärker um den traditionalistischen Kern, entmachtete die reformbereiten Kräfte und entschied sich, weiter „das eigene Ding“ zu machen. Im Zuge dessen entstanden sogar einige neue Ableger, die man in der Wortwahl von Bischof Huonder wohl als komplett eingekapselte Furunkel betrachten muss, die glücklicherweise (hoffentlich) keinen Schaden mehr anrichten können. Obwohl... 

Kommen wir noch einmal auf Bischof Huonder zurück. Es bedrückt, dass er in einem Internat lebt, wo junge Menschen in diese Gedankenwelten hinein geführt werden. Ja, wo Nachwuchs für diese Form einer Restauration der Kirche herangezogen wird. Nach seiner Emeritierung wollte Huonder den Dialog mit der Bruderschaft fördern. Mit seinen Videos zeigt er nun, dass er die Brücke überschritten hat und längst auf der Insel angekommen ist. In seinen Videos zeigt er sich als Bischof der Piusbruderschaft, an deren Haltung nicht der Hauch einer Kritik spürbar wird. Dialog bedeutet ein Ringen um die Wahrheit, ein Durchdenken auch der „gegnerischen“ Haltung und Position. Sowenig dies in der offiziellen Kirche der Schweiz und Deutschlands mit der Haltung der Piusbruderschaft zu geschehen scheint, so wenig geschieht dies bei Bischof Huonder und der Bruderschaft. De facto gibt es keinen Dialog, de facto dient der Dialog, dienten diese Videos allein der Mission für die eigene Position. Der Bischof ist kein Brückenbauer mehr, er ist ein Missionar einer anderen Kirche geworden. Konsequenterweise müsste man ihn auch offiziell in die Bruderschaft aufnehmen und aus dem Annuario Pontifico, dem päpstlichen Jahrbuch streichen, das u.a. die Namen der römisch-katholischen Bischöfe nennt. Da die Position des aus der Bruderschaft ausgeschlossenen Bischofs Williamson ja vakant geblieben ist, könnte er dessen Nachfolge antreten. Da die Bruderschaft ja durchaus erfolgreich missioniert, wäre sein Einsatz auch notwendig. 

Offen fordert Bischof Huonder gar eine Entschuldigung der römischen Kirche gegenüber der Piusbruderschaft. Und selbst hier bringt er einen verborgenen und zutiefst vergifteten Seitenhieb ein, der erst beim zweiten Hören in seiner Ungeheuerlichkeit offenbar wird. Er spricht von "Phantomgräbern", für die sich die Kirche entschuldigt habe. Mit diesem Begriff dürfte er sich auf den Skandal der in Irland und Kanada im Umfeld katholischer Internate und Heime aufgefundenen Gräberfeldern, die für einen gewaltigen Skandal gesorgt hatten. Dort waren in katholischer Obhut verstorbene Kinder von unverheirateten Mädchen bzw. indigenen Völkern beigesetzt worden. Strittig ist, inwieweit die Kirche hier allein verantwortlich zu machen ist und was man konkret den damaligen Priestern, Ordensschwestern und Erzieher*innen vorzuwerfen hat. Trotzdem aber decken diese Skandale schreckliche Zustände auf, die ihre Ursache auch in einer moralischen Selbstüberhebung der Kirche haben, die durchaus auch Menschen ins Unglück gestürzt hat. Diesen komplexen Zusammenhänge mit der Wendung "Phantomgräber" zu marginalisieren ist im Grunde eine Ungeheuerlichkeit, die eines Bischofs unwürdig ist. Dafür empfinde ich eine gewisse Scham, weil ich Huonders Wirken in Chur vor vielen Jahren noch positiv gedeutet und teilweise verteidigt habe. 

Einstweilen wird noch viel Wasser den Tiber herab fließen, bevor es zu einem Kirchenmodell kommt, wo möglicherweise eine Piusbruderschaft, eine Communauté von Taizé, ein Kartäuserorden und eine Lebensgemeinschaft katholischer Familien wie auch eine Gruppe feministisch gesinnter Katholiken versöhnt mit- und nebeneinander unter dem Dach der einen heiligen, weltweiten und apostolischen Kirche existieren könnten. Und die ohne aus der Hl. Schrift und den Worten der Heiligen und Päpste Knüppel, Sensen und Dreschflegel zu machen, die man „den Anderen“ um die Ohren haut. Und in der eine Vielfalt römisch katholischer Liturgieen gefeiert werden, vom einfachen Wortgottesdienst über einen Ritus von Zaire (oder vom Amazonas) bis hin zu einer reformierten katholischen (gerne auch lateinischen) Hochliturgie. Dazu sicher weiter der mozarabische und ambrosianische Ritus und in den Kapellen der Piusbruderschaft ein tridentinischer Ritus nach einer neu aufgelegten Variante der Messbücher von vor 1962. Verbindend wird in dieser Kirchenvision das Wort des Herrn, die frohe Botschaft des Evangeliums sein und nicht das Messbuch des Konzils von Trient und der Syllabus errorum. Ob die Bruderschaft auch einmal unter dieses Dach schlüpfen wird, das liegt ganz allein in deren Hand.

Die Filme des Bischofs verlinke ich diesmal nicht, da sie leicht bei Youtube zu finden sind.