Donnerstag, 9. Juli 2015

Zerbrochene Gefäße in der Hand des Schöpfers

Am vergangenen Sonntag mussten wir von Wolfgang Abschied nehmen. Ich hatte ihn in den frühen 90er Jahren in Senden i. Westfalen kennen gelernt. Dr. Wolfgang Reuter hatte 1966 mit seinen „Studien über blaue Vogeleier“ promoviert, aber sein Lebensweg war vielfältig und bunt. Ich habe ihn als Menschen und Künstler schätzen gelernt. Er war ein kluger, vielleicht gar weiser Mann, mit dem man – trotz seiner späteren Demenzerkrankung – tiefe Gespräche führen konnte. Wolfgang hatte die Fähigkeit, in einem Gespräch die richtigen Fragen zu stellen. Ein Zeugnis einer solchen Begegnung hat der ehemalige Pastor der Hallig Hooge in einem Buch aufgeschrieben, während der Trauerfeier wurde ich darauf aufmerksam gemacht. Der Text scheint es mir wert, hier geteilt zu werden. Das Bild zeigt zwei kleine Arbeiten von Wolfgang in der Raku- Technik. Besonders beeindruckten mich seine unglaublichen Landschaftsbilder aus Keramik, von denen ich leider keines besitze.
„Haltet mich nicht auf, denn der Herr hat Gnade zu meiner Reise gegeben. Lass mich, das ich zu meinem Herrn ziehe.“ Diesen Vers aus dem Buch Genesis hat er uns zum Abschied mitgegeben. 
Aber nun zur Geschichte: 

Im Sommer 1919 besuchte Emil Nolde Hallig Hooge. Er liebte, wie er später in seiner Autobiografie schrieb, „den atmenden Wechsel von Ebbe und Flut und das Wattenmeer mit dem Lauf seiner Priele und die Geschichte der verschlammten Ruinen von Rungholt und all der anderen von Sturmfluten zerstörten Dörfer und Gehöfte“. Seither haben Maler und Bildhauer immer wieder mit Vorliebe die Halligwelt aufgesucht, um sich von ihr inspirieren zu lassen. Juli 1986 kam aus Münster mit Wolfgang Reuter ein Künstler nach Hooge, der die Halliglandschaft mit Bildern aus Ton interpretierte. 
Die Begegnung mit ihm wurde mir bedeutungsvoll. Warum? Als ich seine Arbeiten sah, war ich erstaunt, wie komplex und eigenwillig die Ausdrucksmöglichkeiten von Keramik sind. Da war nicht nur die reliefartige Gestaltung der Bildoberfläche, die meine Phantasie beflügelte. Und nicht nur der Farb-Ton mit seinen vielen feinsinnigen Zwischentönen, die mich überraschten. Noch etwas anderes beschäftigte mich. 
Dem kam ich auf die Spur, als Wolfgang Reuter mir erklärte, er müsse sich in seinem Arbeitsprozess auf das Unberechenbare einlassen. Ich horchte auf und fragte ihn, was er damit denn meine?
Wer kreativ mit Ton arbeite, erklärte er, der stoße fortlaufend auf die Grenzen dessen, was berechenbar ist: „Du musst die Grenze des Kalkulierbaren überschreiten. Denn in dem Augenblick, wo der vorbereitete und glasierte Ton in den Ofen kommt und bei 900 bis 1180 Grad gebrannt wird, gestalten Feuer und Hitze in einer menschlich nicht mehr berechenbaren Eigendynamik mit“, meinte er. Darum sei jedes Stück einmalig, jedes eine eigene, nicht wiederholbare Arbeit.
Auch äußere sich das Unberechenbare darin, dass Gefäße und Platten in der hohen Brenntemperatur leicht Sprünge bekämen und reißen. Es sei eben nichts berechenbar, nichts vorhersehbar.
Wie im Leben – oder? Als er dies sagte, umspielte ein bitteres Lächeln seine Lippen. 
„Es ist so“, erwiderte ich. „Wir Menschen gleichen dem Ton, der großartig ist in seinen Möglichkeiten und vielseitig verwendbar, doch leicht Risse bekommt und ...“
„Es hat für mich Augenblicke gegeben“, fiel er mir ins Wort, „da habe ich bis ins Mark hinein meine Zerbrechlichkeit gespürt. Man muss nicht erst am Tode, man kann schon am Leben zerbrechen. Aber sag, muss nicht da, wo Menschen sind, auch ein Töpfer sein, der selbst mit zerbrochenen Gefäßen etwas anfangen kann und will?“
„Nicht auszudenken“, erklärte ich, „was Gott aus den Rissen und Trümmern unseres Lebens machen kann, wenn wir uns ihm ganz überlassen. Denn: „Nahe ist der Ewige denen, die zerbrochenen Herzens sind und den Niedergeschlagenen hilft er“.“

(Aus dem Buch: „Eine Handvoll Erde im Meer“ - Halliggeschichten des ehemaligen Halligpastors Dietrich Heyde. 

1 Kommentar:

  1. Kirchenreform in 11 Zeilen nicht möglich? Nein. Aber in einer Zeile:
    Geh in die Kammer und bete. Geh zu den Menschen und bitte ums Gebet.

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