Samstag, 9. Januar 2016

Zerreißt der „dünne Firnis der Zivilisation“ oder bröselt „der Kitt, der unsere Gesellschaft zusammenhält“?

Man braucht schon ein „hartes Herz“ und eine „dicke Haut“, um auszuhalten und anzuschauen, was in Syrien, im Irak und kürzlich auch mitten in Europa, mitten in Paris geschah und weiterhin geschieht. Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber eigentlich ist es kaum auszuhalten: das Leiden der Opfer und die Brutalität und Bestialität der Täter.

Wer ist stark genug, wirklich mit den Opfern zu leiden? Ihr Leid an uns herankommen zu lassen und oft genug hilflos zu bleiben, weil man, weil ich so wenig tun kann. „Euer Herz verhärte sich nicht...“ sagt die Bibel, aber jede(r) von uns entwickelt doch solche Strategien, um sich inmitten einer unheilen Welt gegen die vielen Bilder des Leidens abzuschotten. Ob ein Stück der „vergangenen heilen Welt“ vielleicht auch im Mangel an Bildern, Filmen, Informationen begründet liegt?

Was macht das eigentlich mit uns?

(Vielleicht ist hier eine Entschuldigung angebracht, dass ich dem Gequatsche und Gefasel dieser Tage zum Thema Silvesternacht und die Folgen noch welche hinzufüge. Zur allgemeinen Einordnung: Ich bin Blogger und damit vermutlich "Rechtskatholik" und Gutmensch und damit hoffnungslos naiv. Irgendwo dazwischen wird die Wahrheit liegen, vielleicht bin auch auch einfach Beides. Wie auch immer, es hat mir geholfen eine Sammlung von Gedanken aufzuschreiben. Vielleicht lohnt sich die Lektüre ja für den ein oder anderen, dann wäre ich schon zufrieden.)

Und was macht das eigentlich mit denen, die unmittelbar betroffen waren, die selbst Opfer der Gewalt wurden – und heute zu uns fliehen. Eine Million von ihnen lebt heute mitten unter uns. Wie gehen sie um mit den Erfahrungen einer Welt, in der über lange Zeit das Gesetz des Terrors und des Krieges herrschte? Kann man – dem entkommen, einigermaßen unbeschadet in Europa neu anfangen? Oder wie sehr hat die zerrüttete Gesellschaftsordnung zu Hause auch die innere Orientierung selbst zerrüttet? Und wer trägt dann eigentlich die Schuld und die Verantwortung?

In Köln – aber auch in anderen Städten - hat es in diesen Tagen unerträgliche Übergriffe gegenüber jüngeren und älteren Frauen gegeben. Verbunden wurden diese sexuellen Übergriffe mit Diebstählen. Dass jemand klaut, das kann man ja noch verstehen, aber die Menschen- und Frauenverachtung von Taten dieser Art schockiert. Beteiligt – und wenn nur durch Herum- und Dabeistehen, wegsehen und unterlassene Hilfe waren zahlreiche (mancher spricht von 1.000, mancher spricht von 2.000 Personen) Männer, viele von Ihnen (aber nicht alle) Zuwanderer aus Nordafrika und dem nahen und mittleren Osten. Besonders verstörend: offensichtlich waren es nicht nur Mitglieder krimineller Jugendbanden, sondern u.a. auch frisch eingereiste Asylbewerber aus verschiedenen Flüchtlingsunterkünften.

Mancher von Ihnen wird vor einigen Wochen noch mit einem „Willkommen“ - Schild am Bahnhof begrüßt worden sein. Viele der Anwesenden sollen – entgegen den Weisungen ihres Propheten – stark alkoholisiert gewesen sein. Angesichts dessen kann es niemanden beruhigen, wenn „nur“ 100 Leute wirklich strafbare und strafwürdige Handlungen begangen haben.

Unglaublich viel ist in diesen Tagen zu diesen Ereignissen und Verbrechen gesagt worden. Leider aber viel zu wenige Worte der Anteilnahme und des Bedauerns. Ich hätte eigentlich erwartet, dass die Polizeiverantwortlichen und die politisch Verantwortlichen, die Vertreter der Stadt, der Bahn, der Politik und der Sicherheitskräfte überzeugend die betroffenen Frauen um Vergebung bitten und jede Hilfe anbieten, mit den traumatisierenden Erlebnissen fertig zu werden. Noch ist nicht klar, wer außer den Tätern alles Verantwortung trägt und Schuld auf sich geladen hat. Aber Gesten der Anteilnahme und des Bedauerns, dass es nicht gelungen ist, die Übergriffe zu verhindern hätte ich viel klarer erhofft. Die (eher etwas unverdienten) Prügel für ein verunglücktes Wort der Kölner Oberbürgermeisterin ist für mich ein Ausdruck davon, dass vielen Menschen die Solidarität mit den Opfern zu kurz kam.

Bricht sich eigentlich ein Polizeipräsident einen Zacken aus der Krone, wenn er – ohne in Rechtfertigungen zu verfallen – zunächst bekennt: „Es tut mir persönlich in der Seele weh, dass es mir und meinen Kollegen nicht möglich war, sie in dieser Nacht vor diesen Männern zu schützen.? Bitte verzeihen Sie uns! Wir werden uns in den nächsten Tagen absolut auf die Hinterbeine setzen, um die Täter zur Verantwortung zu ziehen!“

Viel wird in diesen Tagen darüber spekuliert, was Menschen, die in unserem Land Schutz suchen oder zu Gast sind, zu einem derartigen Verhalten gebracht hat.

Da wird der Alkohol bemüht, der Islam muss herhalten, das „Frauenbild“ der jeweiligen Länder und manches mehr. Aber, welche Erklärung wir auch finden, keine wird die gesamte Motivationslage angemessen darstellen. Vermutlich bekommt man nur dann Antworten, wenn man die einzelnen Personen und ihre Schicksal in den Blick nimmt. Aber, im Grunde interessiert mich viel eher, wie man die Personen dazu bringt, sich angemessen und sozial verträglich zu verhalten. Wie sie zu Verbrechern geworden sind, möchte ich gar nicht wissen. Und wenn es eine Möglichkeit gibt, sie loszuwerden, würde ich dem nicht im Wege stehen wollen.

Ein Unwohlsein aber bleibt auch dann, denn das Verbrechen, das Böse geht davon nicht weg. Ein Taschendieb weniger in Köln könnte ein Taschendieb mehr in Algier oder Tunis sein. Die Welt wird hierdurch kein besserer Ort; allenfalls halten wir uns die böse Welt vom Leibe. So wie es viele tun, die von „geschlossenen Grenzen“ träumen und meinen, alle Freuden und Vorteile der Globalisierung genießen – aber ihre Schattenseiten exportieren oder „außen vor halten“ zu können.

Viele Zuwanderer, auch solche, die längst Deutsche sind, ahnen in diesen Tagen, wie sehr die Ereignisse der Silvesternacht das Miteinander in diesem Lande beeinträchtigen wird. Die Verbrechern weniger, die leider als Menschenmasse auftraten, werden nachhaltige Folgen für die Mehrheit derer haben, die froh und glücklich sind, dass sie hier leben und arbeiten dürfen, dass sie hier Schutz und Sicherheit genießen. Ich fürchte sogar, die Vorfälle werden Menschenleben kosten, denn sie werden bewirken, dass eine Flucht nach Deutschland gerade für die Armen und Schwachen unter den Opfern von Diktatur, Terror und Gewalt immer weniger möglich sein wird.

Für die Ausländerfeinde und Flüchtlingsskeptiker in unserem Land hätte es nicht besser laufen können. Mit zunehmender Freude schreiben sie ihre widerliche Genugtuung „RECHT GEHABT zu haben“ ihren Kritikern und allen sogenannten Gutmenschen ins Stammbuch. Als wenn es nicht nach wie vor noch die Mehrheit der Flüchtlinge ist, die sich besser verhalten, als jeder Knigge es fordern würde. Selbst derjenige, der die Problematik der großen Flüchtlingszahlen immer mit dem Realismus gesehen hat, dass auch Flüchtlinge nicht alles gute Menschen sind, kann sich der Flut selbstgerechter Angriffe nur mit Mühe erwehren. Hier wird ein Gift in unsere Gesellschaftsordnung injiziert, dessen Wirkung erst in einigen Jahren zu Tage treten dürfte.

Besonders ärgerlich ist, dass es diesen Leuten nicht reicht, bei der Wahrheit zu bleiben und bei der durchaus traurigen Realität. Nein, es wird aufgebauscht und gepushed was das Zeug hält. Selbst gestandene Politiker zücken das Wörterbuch des AFD- und Pegida-Sprechs und reden von Schweigekartellen und Vertuschung, wo allenfalls Unsicherheit, Unbeholfenheit oder Fehler zu konstatieren wären.

Die Kölner Medien hatten umfassend und unmittelbar nach den Vorfällen berichtet, schon am 1. Januar war mir klar, dass da etwas geschehen war, was uns noch lange beschäftigen und verstören würde. Ich erinnere mich deshalb so gut, weil meine eigene Tochter an dem Tag noch am Hauptbahnhof in Köln gewesen war. Gut, ich hatte auch den Vorteil im Verbreitungsgebiet von KSTA und Express Urlaub zu machen! Als dann Schritt für Schritt klarer wurde, dass Verbrechen begangen wurden, die bis dato unvorstellbar waren sprangen auch die überregionalen Medien an. Das war sicher keine Sternstunde des Journalismus (aber ehrlich gesagt ist die Qualität mancher Berichterstattung und die vieler Schlagzeilen auch bis heute noch keine solche).

Interessant ist sicher die Frage: Was muss nun geschehen? Vorschläge gibt es ja genug und je länger ich darüber nachdenke, desto mehr Projekte fallen mir ein, die man anpacken könnte, ohne die detaillierte Aufklärung der Silvesternächte in Köln und Düsseldorf, Helsinki und Stuttgart, Frankfurt und Weil am Rhein abzuwarten:

  • Wir brauchen eine breite Debatte – gerade auch mit Menschen aus anderen Kulturen und Religionen – bezüglich des Frauenbildes. Wobei dieses Stichwort irgendwie falsch ist, das „Frauenbild“ bestimmt jede einzelne Frau für sich und es ist keine gesellschaftliche Vereinbarung. Es geht um unseren Umgang mit diesen Frauen. Welche Signale setzen wir in Deutschland durch Werbung, Medien, Pornografie, u.a. auch gegenüber Kindern und Flüchtlingen? Es soll doch niemand glauben, ohne Flüchtlinge wäre hier alles in bester Ordnung! Unsere Gesellschaft ist in Sachen Frauen/Gleichberechtigung und Feminismus sicher auf dem Weg, aber noch lange nicht am Ziel.
  • Speziell die Verfechter eines traditionell – islamischen „Frauenbildes“ sollten sich die Frage stellen, ob das (vielleicht gut gemeinte) Konzept, ihren Frauen und Mädchen einen Schutzraum (durch die Familie, durch Kopftuch, durch Verhaltensregeln für Frauen) zu schaffen wirklich zum Schutz der Frauen beiträgt. Ob es nicht vielmehr notwendiger wäre, den Jungen und Männern Respekt gegenüber jeder (auch noch so „verführerischen“ Frau) beizubringen und das natürliche, respektvolle Miteinander von Mann und Frau, von Jungen und Mädchen zu fördern. Dazu gehört durchaus auch, gerade bei Heranwachsenden, Achtsamkeit bei den verantwortlichen Eltern und Erziehungspersonen und der Respekt von Grenzen zwischeneinander (nicht nur in der Frage der Sexualität).

  • Wir brauchen auch eine Debatte über den Umgang mit Sexualität und mit unseren sexuellen Triebkräften. Auch wenn es scheint, dass wir eine aufgeklärte und abgeklärte Gesellschaft sind. Die Liste von Problemen in diesem Bereich ist in unserem Land auch ohne die Silvestervorfälle lang, wenn man auf die Problemfelder: Mißbrauch, Vergewaltigung, Grenzverletzungen, Pornografie, Prostitution etc. schaut. Ich frage mich, ob nicht gerade auch die Kirchen in diese Diskussionen Wesentliches beizutragen hätten. Und dies auch mit ihren Erfahrungen des Versagens angesichts allzu hoher Idealvorstellungen.
  • Wir brauchen in unserer Gesellschaft mehr Respekt. Nicht den „preussischen“ und sklavischen Respekt vor „Respektspersonen“, sondern den Respekt vor jedem Einzelnen, der ein Bild und Gleichnis Gottes ist. Selbst dann noch, wenn er dieses Bild und Gleichnis durch sein Handeln schlimm verunstaltet. Auch der weit verbreitete respektlose Umgang mit Politikern, Polizisten oder anderen kritikwürdigen Menschen sendet neben den eigentlichen Inhalten auch andere Botschaften. Wer sich derart abfällig z.B: über unsere Kanzlerin äußert, wie es z. T. „honorige“ Bürger bei fb tun, der sendet auch ein Signal z.B. an den pubertierenden Jugendlichen für den Umgang mit seinem Lehrer und an unbegleitete Zuwandererkind, das mit der Polizei konfrontiert ist. Wenn es ernst wird, wie in dieser Situation, dann erwarte ich von Politikern aller Couleur auf allfällige politische Spielchen zu verzichten und hart zu diskutieren, aber die „Gegner“ nicht zu entwürdigen oder der Lächerlichkeit preiszugeben.

  • Wir müssen uns ehrlich machen! Es nützt nichts, die Situationen zu beschönigen. Noch weniger nützt es Situationen zu dramatisieren. Wenn Politik, Polizei, Medien Dinge und Informationen unter der Decke oder zurück halten möchten, dient das in den seltensten Fällen dem angestrebten Ziel. Wohlfeil können dann die Kritiker nachher sagen: Seht ihr, was man uns verschweigen wollte. Je klarer die Wahrheit kommuniziert wird, desto weniger bauscht sich eine Angelegenheit künstlich auf. Wenn die verantwortlichen und „wissenden“ Stellen ihre Informationen erst kommunizieren, wenn sie längst durchgesickert sind und als „Gerüchte“ die Runde machen, verlieren diese Leute ihre Glaubwürdigkeit. Krisenkommunikation will gelernt sein. Henriette Reker musste hier gerade schmerzhaft Lehrgeld zahlen. Auf der anderen Seite wird offensichtlich zur Untermauerung der eigenen Position gerne mal ein Schweigekartell oder Geheimnistuerei konstatiert, wo die wesentlichen Fakten längst bekannt, die Verantwortlichen aber nicht mit unausgegorenen Informationen in die Öffentlichkeit wollen. Manchmal gilt nach wie vor „Gründlichkeit vor Schnellligkeit“, wobei man auch mal schnell gründlich sein kann.
  • Zur Ehrlichkeit gehört auch die Erkenntnis: Integration ist ein Kraftakt, der von beiden Seiten Anstrengungen erfordert. Und Integration verändert auch die aufnehmenden Gesellschaften. Das kann doch gar nicht anders sein. Selbst ein Ostfriese in Westfalen und ein Westfale im Rheinland vermag hiervon ein Lied zu singen. Wie viel mehr erst, wenn Menschen aus Kulturen kommen, deren innerer Kompass in der neuen Umwelt erst einmal verrückt spielt. Ich werde nicht vergessen, wie Menschen aus einer Gruppe katholischer Ugander nach einem Partnerschaftsbesuch durch das Erleben unserer Kultur und unseres Reichtums völlig aus der Bahn geworfen waren – und lange für die Re-Integration in Uganda brauchten.
  • Es wird auch notwendig sein, die vielen Debattenbeiträge darauf abzuklopfen, welche Ziele der jeweilige Redner oder Schreiber eigentlich verfolgt. Sind seine Beiträge von der Sache, vom Mitgefühl mit den Opfern und von echter Sorge geprägt? Zeigt der Sprecher Lösungswege auf oder geht es ihm oder ihr eigentlich um andere Dinge und Anliegen. Wer allzu schnell Lösungen präsentiert … dem ist durchaus mit Misstrauen zu begegnen. Wer im konkreten Fall mehr weiß als die Polizei, der sollte dort eine Aussage machen und nicht die sozialen Netzwerke verstopfen. Es gibt viel zu viele Leute, die vor Lügen, Unterstellungen und Fälschungen nicht zurückschrecken, um eigene Ziele zu verfolgen. Auch manche Ablenkungsmanöver unter den Stichworten: Oktoberfest; #einearmlänge und Willkommenskultur zähle ich zu den Indizien für solche Stellungnahmen, ganz zu schweigen vom grassierenden Zynismus.
  • Als Deutsche sollten wir sehr aufmerksam sein, wenn Diskurse von Rassismus geprägt sind. Aufmerksam, nicht empfindlich. Der Rassismusvorwurf wird durchaus auch als „Keule“ verwendet, interessanterweise auch schon mal von „Ausländern“ selbst. Gerade als Christen kann die Frage: „Ist meine Meinung von rassistischem Denken geprägt?“ - im Sinne der schönen Geschichte von den drei Sieben des Sokrates (http://www.k-l-j.de/KGeschichte_7.htm) ein Stück innerer Beichtspiegel sein.
  • Wir brauchen einen Diskurs über angemessene und hilfreiche Strafen. Bei Bagatelldelikten oder z.B. bei Diebstählen oder Körperverletzungen sollte auch der Kontext der Tat und das Leid der Opfer stärker einbezogen werden. Wir brauchen gut ausgestattete Justiz, die schnell reagieren, aufklären und strafen kann. Es sollte einen Unterschied machen, ob eine Prügelei die Folge eines Streits war oder ob Menschen aus Lust an der Gewalt und Machtausübung andere Menschen verletzen. Sexuelle Übergriffe sollten mindestens so schmerzhaft bestraft werden, wie sie die Opfer belasten. Strafen müssen dazu beitragen, dass Menschen sich in den Griff bekommen und von ihrem gesetzlosen Tun ablassen. Das ist ein ganz schwieriges Feld und nicht billig zu haben!
  • Wir brauchen weniger Gleichgültigkeit. Wir müssen uns wieder mehr betreffen lassen von der Not und Hilfsbedürftigkeit eines anderen Menschen. Wir brauchen in unserer Gesellschaft wieder mehr Miteinander. Nach dem Vorbild des barmherzigen Samariters oder der Hl. Martin und Hl. Nikolaus müssen wir lernen, dass die Not des Anderen uns unbedingt angeht. Wir müssen uns darauf verlassen können, Hilfe zu finden, wo wir in Gefahr geraten. Dass dies nicht mehr selbstverständlich ist, ist ein Alarmsignal. Und das hat auch mit dem eingangs geschilderten Phänomen zu tun. Diese Gedanken berühren durchaus auch unser Gesellschaftsmodell, das darauf setzt, dass jeder in größter Eigenständigkeit und Eigenverantwortlichkeit seinen Lebensweg geht. „Ich will auf niemanden angewiesen sein!“ - das klingt oberflächlich nach einer guten Lebensmaxime und viele leben auch so. Es sorgt aber für ein zunehmendes Auseinanderfallen der sozialen Strukturen unserer Gesellschaft. Die Förderung des Dienstleistungsgedankens und die wirtschaftskompatible Gestaltung unseres Zusammenlebens verstärken dies. (Mobilität, Kleinfamilien, Aufgliederung der Produktions- und Dienstleistungsprozesse). Das hat in den Jahrzehnten zu einer Entsolidarisierung geführt, die in großen Städten besonders spürbar ist. Hier sehe ich eine bedeutsame Aufgabe für organisierte Kirchen und Glaubensgemeinschaften. Aber auch für Vereine und Initiativen und für das Ehrenamt. All dies zu fördern sollte vornehmste Aufgabe der politisch Verantwortlichen sein.
  • In einer Gesellschaft, die zunehmend auf Individualität setzt, wird die Vermittlung gemeinsamer Werte schwieriger. Erst recht, wenn diese Gesellschaft keine gemeinsamen religiösen Wurzeln mehr teilt. Daher wird es notwendig sein, an dieser Stelle mehr zu investieren. Die Entwicklung von Werten muss begleitet sein. Lebensnaher Unterricht in Religion, Ethik, Politik und Philosopie leistet da einen wertvollen Beitrag. Öffentliche Debatten, Medien, soziale Netzwerke leisten auch einen – heute leider manchmal auch negativen – Beitrag. Und zu guter Letzt werden wir nicht umhin kommen, gewisse Werte und Gesetze auch entschieden umzusetzen und einzufordern. Wir haben in Deutschland gute Gesetze und für alle Lücken darin ein beispielhaftes Gesetzgebungsverfahren. Wir müssen Polizei und Justiz so ausstatten, dass sie in der Lage sind, der Gesellschaft einen Rahmen zu bieten, in dem sie sich entfalten kann und in dem die Sicherheit und Unversehrtheit des Einzelnen gewährleistet ist. Natürlich wird es immer wieder Vorfälle wie in der Silvesternacht geben. Verbrechen ist durch reine polizeiliche Maßnahmen nicht zu besiegen. Aber die Polizei sollte in der Lage sein, eine solche Situation in kürzester Zeit in den Griff zu bekommen. Das müssen wir uns auch etwas kosten lassen.
  • Was auf uns zukommt ist kein leichter Weg. Und gerade deshalb halte ich alle, die schnelle Lösungen versprechen, für große Scharlatane. Wer sagt eigentlich, dass all die lautstarken Kritiker aus dem Pegida / AFD / NPD – Lager auch nur irgendetwas besser hin bekämen als die Menschen, die heute an verschiedenen Stellen Verantwortung tragen? Mögen sie sich noch so aufspielen, ja selbst wenn sie mit der ein oder anderen Bemerkung Recht haben sollten... Sie sind doch allesamt genauso schwache und fehlerhafte Menschen wie diejenigen, die heute unser Land durch die Klippen und Stromschnellen, durch die Krisen unserer Zeit zu steuern versuchen. Die Extremisten von Rechts und Links hatten in den letzten Jahrzehnten überall in Europa und darüber hinaus ihre Chancen. Bisher hat noch keine derartige Regierung bessere Ergebnisse abgeliefert als die offene, demokratische Gesellschaft, deren Segnungen wir in Deutschland seit vielen Jahrzehnten genießen. Selbst dann, wenn wir inzwischen etwas übersättigt sind: bitte, keine solchen Experimente.
Wohin ich auch schaue, bei allen kritikwürdigen Umständen und bei allem, was noch besser laufen müsste. Ich bin froh und glücklich über das Privileg, hier in Deutschland leben zu dürfen.

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