Seit
Jahrzehnten schon pilgern Katholiken aus dem Dekanat Dinslaken (mit
Voerde, Walsum und Hünxe) in die belgischen Ardennen, nach
Banneux. Banneux, das ist ein kleines, verschlafenes Dorf der
Gemeinde Pepinster.
Dort
erschien in dem Jahr, da in Deutschland die Faschisten unter Hitler
die Macht übernahmen, eine „schöne Frau“ einem
12jährigen Mädchen. Mariette Beco, nicht frömmer als
ihre Altersgenossen damals, erkannte in der leuchtenden Gestalt die
Gottesmutter Maria. Es war eine Zeit, die für solche Erfahrungen
sehr offen und bereit war. Die großen, neueren
Marienwallfahrtsorte Europas wie Lourdes und Fatima und auch die
weniger bekannten Orte wie Knock in Irland, Wigratzbad in Deutschland
oder La Salette in Frankreich entstanden in der Folge solcher
Erscheinungen in den Jahren zwischen 1850 und 1950. Das Phänomen
selbst gab es allerdings in der gesamten Geschichte des Christentums.
Nicht alle dieser Erscheinungen erregten so großes Aufsehen wie
Lourdes (1858) und Fatima (1917).
Im Jahr 1932/33 versetzten die
Erlebnisse von fünf Jungen in Beauraing, ebenfalls in der
Wallonie, die belgischen Katholiken in Aufregung und wurden heftig
diskutiert. Die Gottesmutter war ihnen dort über 30 Mal
erschienen. Zahllose Bücher und Artikel wurden über die
„Echtheit“ solcher Marienerscheinungen geschrieben. Theologen,
Priester und Gläubige schlugen sich die Argumente und die
Glaubenserfahrungen um die Ohren. Bis heute tobt z.B. ein erbitterter
Streit um die Ereignisse in Medjugorje, wo die Marienerscheinungen
bis auf den heutigen Tag anhalten sollen.
Werfen
wir einmal einen Blick auf die Seherinnen und Seher, die am Anfang
all dieser Wallfahrtsorte stehen. Während die Seherkinder in
Lourdes und Fatima seit langem selig und heilig gesprochen sind,
enttäuschte die Seherin von Banneux die allzu frommen Verehrer
eher. Obwohl Banneux heute der bedeutendste Wallfahrtsort Belgiens
ist (erwarten Sie von einem Besuch nicht zu viel „Sehenswertes“ –
ich komme noch dazu), spielt die Figur der Seherin darin kaum eine
Rolle. Symptomatisch ist, dass man auf der Suche nach Bildern von ihr
im ganzen Internet nur einige sympathische Kinderfotos und ein
einzelnes Bild einer älteren Dame findet. Mariette Beco blieb
offensichtlich Zeit ihres Lebens „völlig normal“. Jedem
„Hype“ um ihre Person entzog sie sich und profitierte in keiner
Weise von ihrer besonderen Rolle. Im vergangenen Jahr ist sie –
nunmehr - 90jährig verstorben.
Das
aktuelle Wallfahrtsmagazin „Jungfrau der Armen“ widmet ihr einen
Nachruf. Und darin ist offensichtlich weder von einer Heiligen die
Rede noch werden irgendwelche aufregenden mysteriösen Details
berichtet. Wir erfahren, dass Mariette Beco während der
Kriegsjahre im Widerstand aktiv war und aus der deutschen
Gefangenschaft geflohene belgische Soldaten durch die Region
schleuste. 1942 heiratete sie gegen den Willen ihrer Eltern
(21jährig) und eröffnete mit ihrem Mann ein Restaurant. Die
beiden hatten zwei Kinder, ein drittes Kind starb kurz nach der
Geburt.
Die Ehe
ging in die Brüche und Mariette bestritt ihren Lebensunterhalt
mit einer „Fritüre“ (ein Schnellrestaurant) im benachbarten
Pepinster. 1981 zog sie mit ihrem Lebensgefährten (!) zusammen,
der 1989 verstarb. Der Lebensbericht von Abbé A. Reul im
Wallfahrtsmagazin endet so unspektakulär, wie er begonnen hat:
„Während ihrer letzten Lebensjahre wurde sie schwerhörig,
die Sehkraft ließ nach. Auch die Beine wollten nicht mehr.
Mehrere Todesfälle – ihr Bruder René starb 2007, ihre
Tochter Myriam 2008 und ihre Schwester Simone 2009 – haben sie sehr
mitgenommen. Mariette sagte: „Ich verstehe es nicht, die Jungfrau
hat mir gesagt: „Ich komme, das Leid zu lindern“, und ich, ich
leide schon seit meinem sechsten Lebensjahr. Warum?“
Nachts
konnte sie nur zwei, drei Stunden schlafen. Die restliche Zeit saß
sie betend in ihrem Bett. In ihren Schmerzen klammerte sie sich an
die Worte der Jungfrau der Armen: „Ich werde für dich beten“.
Neben
mir liegt der „Totenzettel“ von Mariette Beco, auf der letzten
Seite des Pilgermagazins ist ihr Name ohne besondere Hervorhebung als
12. in einer Liste der Verstorbenen vermerkt. Nichts zeichnete sie
vor anderen Betern in Banneux aus und die Begegnungen mit der
„Schönen Dame“ haben ihr Leben nicht leichter und schöner
gemacht. Auch ihr Glaube war nicht einfacher, sie hatte wohl keine größere
Gewissheit in Händen als jede(r) von uns. Ich kann es mir nicht
erklären, aber, wenn ich am Ende eines menschlichen Lebens die
Gelegenheit bekomme, auf Höhen und Tiefen zu blicken und die
Spuren von Kampf und Freude, von Leiden und Hochzeiten des Lebens
betrachten darf, überkommt mich Rührung und eine tiefe
Gewissheit, dass ein solcher Mensch in Gottes Reich willkommen ist.
Ob es nun Mariette Beco ist, die als Jugendliche der Gottesmutter
begegnen durfte oder ein anderer Mensch, der im Verlauf seines Lebens
seine Frau und seinen Mann gestanden hat. Mit all den kleinen Siegen
und allen Niederlagen. Mit seiner Schuld und Sünde und seinem
guten Wollen und seinen guten Seiten.
Es
macht mich betroffen, dass Mariette Beco sehr gelitten hat unter
Christen, die nicht akzeptieren konnten, was das junge Mädchen
in einer inneren Schau gehört und gesehen hatte. Es muss zu sehr
unchristlichen Begegnungen und Ereignissen gekommen sein.
Ein
schönes Ereignis war für Mariette sicher die Begegnung mit
Papst Johannes Paul II., der den Ort 1985 besuchte. Zahlreiche Bilder
dieses Ereignisses sind in der großen Kirche in Banneux
ausgestellt. Keines zeigt den Papst mit Mariette. Sie traf ihn
verborgen in einer Sakristei. Auch von diesem Gespräch wissen
wir nichts, sie hat Zeit ihres Lebens keine Interviews gegeben.
„Jungfrau
der Armen“ hatte sich Maria in Banneux genannt. Da war sie bei der
Familie Beco und auch im Dorf selber an den richtigen Ort gekommen.
Mir kommt in den Sinn, dass diese Wallfahrt immer eine Wallfahrt der
Laien war. Die kirchliche Hierarchie, die Priester und Bischöfe
haben sich oft auf Distanz gehalten. „Lourdes für Arme“
nannte man Banneux spöttisch und akzeptierte achselzuckend, dass
kleine Gruppen von Gläubigen eher halboffiziell immer wieder
dorthin fuhren.
Vielleicht
ist der spöttische Name aber eine treffende Charakterisierung
des Wallfahrtsortes. Es ist ein Ort „für Arme“ und Maria hat
ihn ausdrücklich so gewollt. „Kommt alle her zu mir, die ihr
mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken“. Dieses
Wort Jesu kommt einem in den Sinn, wenn man die Pilger sieht, die an
der Quelle ihre Hände in das Wasser tauchen. Banneux ist kein
Ort einer abstrakten Frömmigkeit und hoher Theologie. Nie habe
ich so konkretere und frommere Predigten gehört, wie hier. Die
Priester sind fromm, vielleicht auch sehr traditionell. Da ist zum
Beispiel „Don Camillo“, Kaplan Jean Schoonbroodt, der stets in
Soutane und mit Birett oder in Priesterkleidung auftritt, die
mindestens so „von gestern“ erscheint, wie die Wallfahrt selber.
Er ist so etwas wie das personifizierte offene Ohr Gottes.
Unscheinbar, eher im Hintergrund ist er so zahllosen Pilgern zum
Beichtvater und Gesprächspartner geworden.
Er und
seine Mitbrüder sorgen dafür, dass Banneux ein Ort der
Laien bleibt. Wo immer es ihm möglich ist, stellt er die Beter
und Pilger in den Vordergrund. Wenn für den Gebetsweg am
Nachmittag einmal genug Pilger dabei sind, die die Lesungen und
Gebete vortragen zieht er durchaus einmal – in Soutane - den
Lautsprecherkarren. Um kurz danach wieder im Beichtstuhl zu sitzen
oder bei der Krankensegung einem der Gastpriester zu assistieren, der
die Pilger mit der Monstranz segnet. Wer immer als Lektor,
Kirchenmusiker, Pilgerbegleiter, Kommunionausteiler sich einbringen
möchte – ist in Banneux herzlich willkommen. Die
zurückhaltende Bescheidenheit und Freundlichkeit des Ortes und
der dort tätigen Priester, Schwestern und Laien rührt an
und öffnet das Herz.
In
Banneux gibt es nichts zu sehen und nichts zu bestaunen. Keine
kunsthistorischen Besonderheiten, kein uraltes Gnadenbild, dass durch
mysteriöse Ereignisse in den Ort kam, keine grandiosen Kirchen,
selbst die „große Kirche“ hat den Charme einer Turnhalle.
Figuren und Standbilder sind von lokalen Künstlern aus Ton oder
Gips geformt worden, alle Gebäude aus den örtlichen
Natursteinen errichtet. Die meisten Fenster in den Kirchen und
Kapellen sind mit Normalglas ausgestattet. „Richtige“, kleine
Kirchenfenster finden sich nur in der Michaelskapelle, finanziert aus
Deutschland und in der zentralen Erscheinungskapelle neben dem Haus
der Familie Beco. Alles erhält sich aus Spendengeldern und die
fließen deutlich überschaubarer als die Kirchensteuer im
benachbarten Deutschland. Vieles wirkt improvisiert und mit eigener
Hand errichtet. Und gerade das macht einen tiefen Eindruck, denn
nichts wirkt aufgesetzt, gekünstelt oder übertrieben.
Selbst die Restaurants und Andenkengeschäfte sind aus dem
eigentlichen Wallfahrtsbezirk „verbannt“. Außer dem
Pilgerheft mit Liedern und Gebeten gibt es in den Kirchen nichts zu
kaufen.
Man mag
über die „Erscheinungen“ spotten, über den geistlichen
Gehalt der Botschaften Mariens unterschiedlicher Meinung sein, die
Kirchenmusik, die „hohe Kirchenkunst“, vermissen, die Wahrheit
und Wirklichkeit der Ereignisse 1933 anzweifeln... Für all diese
Haltungen bietet Banneux Raum. Und nimmt auch diese Pilger gastlich
auf. Für „Wundergläubigkeit“ bietet der Ort keinen
Raum. Und die Botschaft die hier verkündet wird ist keine andere
als das Wort der Bibel, die auch in Banneux viel mehr gilt als die
schlichten Worte, die Mariette von der „Schönen Frau“ gehört
hat. Wer auf das Leben von Mariette Beco schaut, der wird spüren:
Hier in Banneux bin auch ich willkommen. Mit all meinen Fragen und
Zweifeln, mit all meinem Versagen, meinen Hoffnungen und Sehnsüchten
und mit meinen Bitten.
Möge
Mariette Beco ruhen in Frieden.
Das
belgische Fernsehen berichtete über den Tod von Mariette Beco:
http://brf.be/nachrichten/regional/301134/
hier ist auch ein kurzer Film zu sehen.
Der Wallfahrtsort: www.banneux-nd.be
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen