Dienstag, 8. Februar 2022

Gerechte Empörung über Bischof Voderholzer?

Vor einigen Monaten war ich in Wien. Da fiel mir ein origineller Sprachgebrauch auf, denn dort wurde für eine pointierte Aussagen eines Politikers oder einer Person, die in der Öffentlichkeit steht, das Wort „Sager“ verwendet. 

Einen solchen „Sager“ hat am Wochenende im Rahmen des Synodalen Weges auch der Bischof von Regensburg formuliert und dafür empörte Proteste geerntet. Der Protest kam leider etwas vorschnell und ebenso zügig folgte aber auch eine deutliche Entschuldigung des Kritisierten. 

Mir war schon bei der ersten Meldung klar, dass es dem Bischof keineswegs um die Verharmlosung von Missbrauch gehen konnte. Dazu hat dieser in der Aufarbeitung der Geschichte der Regensburger Domspatzen zu tief in den Abgrund geschaut. Sicher war der unter Zeitdruck formulierte Satz missverständlich, aber er wollte keineswegs die Missbrauchsfälle als "im Grunde harmlos" bezeichnen, sondern beschreibt seine Wahrnehmung sexualwissenschaftlicher Ausführungen der damaligen Zeit, die er - unzweifelhaft und auch im ersten Statement ausgesprochen - ablehnt. Die Empörung über ihn war voreilig und ungerecht. 

Ich frage mich dennoch, worauf Bischof Voderholzer in seiner Wortmeldung beim synodalen Weg eigentlich hinaus wollte. Das beschäftigt mich, wohl auch, weil er in seiner späteren Entschuldigung ausdrücklich betont, dass sein Gedankengang als „Sager“ nicht tauglich ist und er dazu eigentlich einen ausführlicheren wissenschaftlichen Text hätte schreiben müssen. Wir dürfen gespannt sein, ob dieser noch erscheinen wird. Dennoch lohnt es sich, schon jetzt einmal mit Voderholzer zu denken. 

Es sollte ja darum gehen, die Äußerung des Anderen nach Möglichkeit zu retten, so habe ich heute mehrfach bei Facebook mit Verweis auf den Hl. Ignatius lesen dürfen. Daher, nehmen wir uns etwas Zeit, sein Anliegen zu verstehen. Bischof Prof. Dr. Rudolf Voderholzer ist ja als Theologieprofessor, Dogmatiker und Bischof von Regensburg nicht irgendwer, sondern ein kluger Kopf. Kaum vorstellbar, dass er einfach etwas daher redet. 

Seine Aussage selbst kann man auf den Seiten des Bistums Regensburg im Detail nachlesen. 

Er weist in seinem Statement (neben zwei anderen Punkten) darauf hin, dass durch die Strafrechtreform des Jahres 1973 eine Veränderung der den sexuellen Missbrauch betreffenden Gesetzgebung eingetreten sei, so dass seitdem:  "Kindesmissbrauch nicht mehr als Verbrechen" sondern als Vergehen eingeschätzt worden sei. Dieser Fakt käme ihm im WSW-Gutachten zu kurz, welches behaupte, „dass man in den 1970er und 1980er Jahren sowohl die Opferperspektive einnehmen konnte“. Ich denke er wollte hier „sehr wohl die Opferperspektive“ sagen.

Was der Bischof in den Raum stellt ist, dass durch die Strafrechtsreform und hier wohl aufgrund der sog. "sexuellen Revolution" Kindesmissbrauch nicht mehr so streng geahndet wurde wie zuvor, als es noch als sog. "Unzucht mit Kindern" unter Strafe stand. Ich bin kein Jurist, aber soweit ich das nachvollziehen konnte, war ein Leitgedanke bei der Reform des Sexualstrafrechts (wo es nicht nur um Fragen von Missbrauch ging), dass man in Zukunft nicht mehr nur allgemeine Normen von Sittlichkeit schützen wollte, sondern konkrete Menschen. In diesem Zuge wurde ja auch der berüchtigte § 175 reformiert. Die Gesetzgebung wollte Kinder vor Missbrauch schützen, aber auch nicht automatisch jede einvernehmliche sexuelle Handlung unter Jugendlichen strafwürdig machen. Das fällt insbesondere beim § 174 StGB ins Auge. 

Für juristische Laien handelt es sich bei den Strafrechtsreformen um sehr komplexe juristische Fragestellungen. Eine genauere Betrachtung wäre sicherlich interessant, weil ja immer wieder behauptet wird, die sexuelle Revolution habe zu mehr Missbrauch an Kindern geführt, weil die moralischen Normen aufgeweicht wurden. 

Die Unterscheidung zwischen Verbrechen und Vergehen (worauf der Bischof abhebt) finde ich im reformierten Recht jedoch nicht, wohl aber können in weniger schweren Fällen auch kurze Freiheits- oder Geldstrafen verhängt werden. Das wäre in der Definition dann ein Vergehen. Ab 6 Monaten Freiheitsstrafe ein Verbrechen. Das was der Bischof erkannt haben will, ist an den Gesetzestexten aber nicht abzulesen. Der Strafrahmen bleibt 1973 ganz ähnlich wie zuvor, allerdings geht es jetzt stärker um den Schutz des einzelnen Kindes als um den Schutz der gesellschaftlichen Sittlichkeit an sich. Es ändert sich also der Blickwinkel. Mit Blick auf die späteren Reformen des einschlägigen Paragrafen § 176 StGB darf man sicher feststellen, dass die Reform von 1973 Schwächen hatte. Ob diese aber mit einer liberaleren Sicht von Sexualität zu tun hatten, das darf durchaus bezweifelt werden.

Schon gar nicht kann aus dem Vergleich der einschlägigen Paragrafen geschlossen werden, dass der Gesetzgeber plötzlich Sympathien für Pädophile hegte. Möglicherweise bezieht sich der Bischof mit seinen Darlegungen auf die Formulierung des § 174 wo es heißt: "kann das Gericht von einer Bestrafung nach dieser Vorschrift absehen, wenn bei Berücksichtigung des Verhaltens des Schutzbefohlenen das Unrecht der Tat gering ist." Diese Formulierung (die bis heute im Gesetz steht) dürfte sich jedoch auf "einvernehmliche" Beziehungen zwischen jugendlichen Schutzbefohlenen und Lehrern, Erziehern u.ä. beziehen. 

Dass es in der konkreten Rechtsprechung Unsicherheiten gab, welche konkreten Folgen Missbrauchserfahrungen für Kinder und Jugendliche haben, mag der Hintergrund der von Voderholzer angedeuteten Fälle sein. Hier geht es aber um die konkrete Rechtsprechung und weniger um die Folgen gesellschaftlicher Diskussionen oder einem Agitieren der Pädophilen-Lobby auf die Reform des Strafrechts. Dass die strafrechtliche Verfolgung von Missbrauchstäterinnen und Tätern verbesserungswürdig war und ist, das wird niemand bestreiten. So hat es ja auch schon erste Reformen hierzu gegeben. 

Interessanterweise spricht der Bischof ja hier auch von „sexualwissenschaftlichen Urteilen“ „die davon ausgehen, dass, für die betroffenen Kinder und Jugendlichen die Vernehmungen wesentlich schlimmer sind als die im Grunde harmlosen Missbrauchsfälle.“ Später erklärt er sich ja noch in der Versammlung und sagt u.a.: „Und es empört mich, wenn da gesagt und geschrieben wurde, dass der Missbrauch oft ein „Verbrechen ohne Opfer“ sei.“ All diese gehört in einzelnen Fällen in der Tat zur bitteren Realität des juristischen Umgangs mit dem Missbrauch. Und blieb nicht ohne Folgen für den kirchlichen Umgang mit den - oft allzu milde - bestraften Tätern. Und wenn die Justiz schon milde strafte, hat dies  es der kirchlichen Obrigkeit leichter gemacht, sich dem anzuschließen.  

Ich denke mit den erwähnten „Urteilen“ geht er auf „die Wissenschaft“ ein, die damals (in Teilen) der Meinung war, Pädophilie sei heilbar. Oder das Stichwort „Verbrechen ohne Opfer“ verweist ja auf die Diskussion, ob es so etwas geben kann wie „einvernehmliche sexuelle Kontakte zwischen Kindern und Erwachsenen“. Das so etwas diskutiert wurde bzw. auch in Gutachten geschrieben wurde, ist ja denkbar. Dass das aber allgemein gültige Sichtweisen wurden und dass diese in Justiz und Kirche zum Maßstab wurde, das erlaube ich mir doch zu bestreiten. 

Ich erinnere mich übrigens nicht, trotz der immer wieder erwähnten pädophilen Zirkel und ihrer Theoretiker, dass ich irgendwo schon einmal wahrgenommen hätte, dass Missbrauch irgendwo als entschuldbar dargestellt oder verharmlost wurde. Ich habe es nie anders als als allgemeinen gesellschaftlichen Konsens erlebt, dass Missbrauch von Kindern und Jugendlichen rundheraus abgelehnt wurde. Das schließt nicht aus, dass Menschen dennoch energisch weggesehen haben. Diesen Kompass haben offenbar sogar Schwerverbrecher, denkt man an die verbreitete Auffassung, dass Missbrauchstäter in der Knasthierarchie ganz unten stehen. 

Letztlich versucht Bischof Voderholzer in den in seinem Statement geschilderten Aspekten einen Beleg für die Argumentation zu sehen, dass die liberalere Sicht auf die Sexualmoral in der Gesellschaft dazu geführt habe, dass sich auch für die kirchlichen Oberen das klare Urteil über pädophile Straftaten aufgeweicht habe. Wenn also schon die weltliche Justiz den Kompass verloren hatte, wie hätte dann die Kirche richtig handeln können?

Ich kann der These nicht zustimmen. Unabhängig von den konkreten Urteilen (da weiß ich nicht, ob es hierzu Studien gibt) wurde Missbrauch (§ 176 StGB) vor der Reform mit Freiheitsstrafen von 6 Monaten bis 10 Jahren geahndet. Nach der Reform mit ganz ähnlich mit 6 Monaten - 10 Jahren. Bei minder schweren Fällen konnte die Freiheitsstrafe durch Geldzahlungen abgegolten werden. Das war neu. Bei Taten mit Todesfolge war die Mindeststrafe vor und nach der Reform 10 Jahre bis lebenslänglich. Aber die Grundlage der Strafzumessung änderte sich. Während zuvor die allgemeine Sittlichkeit verteidigt wurde, stand jetzt der Schaden für die Opfer im Mittelpunkt. Eigentlich genau der Perspektivwechsel der in der Kirche erst langsam kam und bis heute noch stockt. 

Anders als Bischof Voderholzer andeutet, gab es ja gerade durch die Reform 1973 das Anliegen, die Opfer stärker in den Blick zu nehmen. Ob das dann wirklich gelang und ob die Agitation der Pädophilenlobby hier möglicherweise „Erfolge“ hatte, steht auf einem anderen Blatt. Auch wenn es in der konkreten juristischen Verfolgung der Täter Schwächen gab, stützt das die Argumentation des Bischofs nicht. Er sollte sich von diesem Denken verabschieden. 

Die Opferperspektive ist der Kirche sicher nicht durch die Folgen der sexuellen Revolution abhanden gekommen. Eher könnte man sagen, dass man in der Kirche eher noch dem alten Recht verhaftet war und das Thema der „Sittlichkeit“ und der Verstöße gegen das Zölibat und die Berufsehre stärker im Blick waren als die Folgen für die Opfer priesterlicher Übergriffe und Verbrechen. 

Das ist im Grunde das glatte Gegenteil der Spur, auf die uns Bischof Voderholzer – wenn auch sicherlich nicht aus böser Absicht heraus – führen möchte. 

Schuld an dem Elend ist nicht die sexuelle Revolution an sich. Selbst wenn die allgemeine Liberalisierung der Sexualität Auswirkungen auf einzelne Taten und Täter hatte. Das wird ja auch niemand leugnen. Wir kennen genügend Fälle liberaler Priester, die sich unter dem Deckmantel von „Aufklärung“ und „Erziehung“ an ihre Opfer heran machten. Die Aufhebung der Distanz zwischen Laien und Klerikern im Gefolge der gesellschaftlichen Umwälzungen brachte sicher auch Missbrauchsfälle eines neuen Typs. Dafür wäre ja der Fall des gerade stark diskutierten Pfr. Peter H. aus dem Bistum Essen ein Paradebeispiel. 

Die erste Aufregung darüber, dass Bischof Voderholzer von "im Grunde harmlosen Missbrauchsfällen" gesprochen hat, war in der Tat ungerecht. Da hatte er offensichtlich unter Zeitdruck, den gedanklichen Faden nicht sauber formuliert. Er hat ja auch schon das Statement selbst mit den Worten abgeschlossen, dass sich dieser Fehler der Kirche nicht wiederholen dürfe. Verharmlosung darf man Bischof Voderholzer sicher nicht vorwerfen.

Hintergrund der Wortmeldung von Bischof Voderholzer ist die These, dass die gesellschaftliche Liberalisierung der Sexualmoral dazu geführt habe, dass die kirchlichen Verantwortlichen weniger genau hingeschaut hätten, wenn Übergriffe von Pfarrern gemeldet wurden. Die gesellschaftliche Liberalisierung bekommt damit eine Mitschuld am System der Vertuschung. Dieses Argument liegt auf einer ähnlichen Linie wie der Verweis auf pädophile Strömungen in der Gründungsphase der Grünen Partei (und auch noch unter deren Dach), die das gesellschaftliche Urteil über Pädophilie aufgeweicht hätten. 

Wie sehr der Bischof sich auf diesen Gedanken fixiert, zeigen auch seine Predigten aus der vergangenen Zeit, die ja zusätzlich gern den Vorwurf des "Missbrauchs mit dem Missbrauch" in den Raum stellen. Ich teile mit dem Bischof den Eindruck, dass die "sexuelle Revolution" nicht ohne Auswirkungen auf die Missbrauchstaten dieser Zeit war, die hierdurch evtl. ihre konkrete Gestalt (zumindest bei einigen Tätern) veränderten. Auch bot die größere Offenheit in dieser Thematik den Tätern weitere Möglichkeiten, Taten anzubahnen und Chancen, die Taten selbst zu verschleiern bzw. Menschen aus dem Umfeld von Tätern und Opfern einzuwickeln. 

Aber ich glaube keineswegs daran, dass die Kirche sich mit Verweis auf derlei Einflüsse exculpieren darf, noch den Eindruck vermitteln, wenn es die "sexuelle Revolution" nicht gegeben hätte, wäre in der Kirche alles in bester Ordnung geblieben und die Reformen, wie sie heute gefordert werden nicht notwendig. Im Gegenteil, trug doch gerade die auf sittliche Reinheit fixierte kirchliche Moralverkündigung dazu bei, die Opfer nicht zu sehen oder ihnen gar eine Mitschuld zuzuschreiben. 

Wir kennen ja vor allem aus dem Raum der Kindererziehung, aus Heimen und Internaten unvorstellbar brutale Taten durch Priester und Ordensleute, die sich sogar als strenge Verfechter der Moral gerierten und den hieraus entstehenden Druck auf die Kinder und Jugendlichen und sogar die Beichte für ihre abscheulichen Verbrechen nutzten und die Opfer zum Schweigen brachten. 

Es wäre wünschenswert, wenn Bischof Voderholzer seine Fixierung auf die Folgen der "sexuellen Revolution" überwinden könnte. Die Täter finden sich unter strengen und barmherzigen Priestern, unter Liberalen und Traditionalisten gleichermaßen. 

Die so gern vertretene Idee, dass es nur eine Rückkehr zur guten alten Moralverkündigung, das Einhalten der klaren Verhaltensnormen braucht, damit das Problem des Missbrauchs in der Kirche überwunden ist zeigt sich als Irrglaube. Sie hat vor 1968 nicht funktioniert, sie wird auch nach 2022 nicht funktionieren. 

Jeder Fall ist einzigartig, jeder Fall ist einzigartig schrecklich. Wir dürfen da nicht mit Schablonen im Kopf herangehen. Und die Kernfrage muss lauten: "Wie können wir den Opfern so gut wie möglich helfen?" und nicht "Wie können wir die Kirche retten?". 

Gegen die Verbrechen des Missbrauchs in der Kirche hilft nur Prävention, die Stärkung der Kinder, Jugendlichen und aller Gläubigen (was Respekt vor ihren Lebensentscheidungen voraussetzt, selbst wenn sie gegen kirchliche Vorgaben verstoßen), die gute Auswahl der haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeitenden, Wachsamkeit, offener Umgang mit Fragen der Sexualität, gerade auch in der Aus- und Fortbildung von Katechisten, Priestern, pastoralem Personal und im Falle eines Falles: klare Parteinahme für die Opfer, Bestrafung der Täter, Unterstützung jeder Art für die Opfer. 

Eine reine Liberalisierung der Sexualmoral, die von Vielen gefordert wird, und da stimme ich Bischof Voderholzer absolut zu, wird natürlich keinen Missbrauch verhindern. Das kommt mir leider auch im synodalen Weg etwas zu kurz. 

Ich würde mich freuen, wenn Menschen, die Bischof Voderholzer besser kennen als ich oder Juristen, die die Hintergründe des Sexualstrafrechts besser verstehen, meine Gedanken hier korrigieren möchten.

Hier die Wortmeldung von Bischof Voderholzer:
https://bistum-regensburg.de/news/dritte-synodalversammlung-am-3-februar-2022 

Hier die Entschuldigung: 
https://bistum-regensburg.de/news/persoenliches-statement-von-bischof-voderholzer

Die strafrechtlichen Veränderungen findet man in Anlage 6 des WSW-Gutachtens, in der Online-Fassung ist das ab Seite 1414. 

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