Dienstag, 19. November 2013

Das gute alte Gotteslob: Friedrich Spee und der kristallklare Leib

Eine charmante Bloggerin regte an, anlässlich der Herausgabe des „Neuen Gotteslob“ einmal über sein persönliches Lieblingslied im „Alten Gotteslob“ zu schreiben/bloggen. Im Bistum Berlin werden ja Prominente gebeten, ihr Lieblingslied im neuen Gotteslob zu beschreiben. Da unsereiner nun mal nicht prominent ist, ist es ja auch konsequent aus dieser Position zurück ins alte Gotteslob zu schauen und in Erinnerungen zu schwelgen.
Ich bin 1967 geboren und – ich glaube – 1976 zur Erstkommunion gegangen. Da war ein Geschenk schon mal klar, ein eigenes Gotteslob. Schließlich wollte man als neues Vollmitglied der Kirche nun auch richtig mitsingen können. An den Vorgänger des Gotteslobs, das Laudate erinnere ich mich nur wenig. Meine Oma hatte eines, schön, mit Goldschnitt. Sie hat es auch nach 1975 noch mit in die Kirche genommen. Heute habe ich es (geerbt) und es steht in meinem Schrank mit historischen und religiösen Büchern. 
Ich erinnere mich auch, dass es vor allem die unregelmäßigen Kirchgänger waren, die sich nicht ans Gotteslob gewöhnen wollten, sondern unbedingt bei Maiandachten und Schützenfestmessen möglichst die Lieder aus dem Laudate singen wollten, die man nicht ins Gotteslob retten wollte. „Hier liegt vor Deiner Majestät...“. Und das „Maria breit den Mantel aus...“ singt man bis heute nach der alten Melodie.  
So hat das gute alte Gotteslob mein Glaubensleben bis zum heutigen Tag begleitet. Ich erinnere mich noch gut daran, dass wir als Jugendliche froh waren, zusätzlich zu dem – vom Liedprogramm doch eher altbackenen Buch – dann in der Gemeinde auch den „Regenbogen“ aus Münsterschwarzach (ein Buch mit neuem geistlichen Lied) nutzen zu können. Es war im westfälischen Vreden jedesmal Schwerstarbeit zu einer Jugendmesse in der riesigen St. Georg – Kirche die Kisten mit etwa 600 Exemplaren dieser Liederbücher aus dem Turm in die Kirche zu schleppen und da zu verteilen. Aber wir haben das gern gemacht. Später habe ich auch das Gotteslob als mein Liederbuch schätzen gelernt und mich gefreut, dass sogar einige „Regenbogen“ - Lieder per Ergänzungsheft darin einzogen. Etwas niedlich fand ich die Sprachrevision per Aufkleber, um dem Gotteslob eine geschlechtergerechtere Sprache beizubringen und aus den vielen Brüdern ab und an Geschwister zu machen. 
In 35 Jahren ist viel passiert mit dem guten alten Gotteslob und um das Gotteslob herum in den Gemeinden noch viel mehr. In meiner Jugendzeit gab es bis zu zehn Jugendliturgiekreise in unserer Gemeinde, die sich intensiv mit der Gestaltung der Hl. Messe und anderer Andachtsformen beschäftigten. Es gab geradezu einen Wettbewerb und zahlreiche junge Menschen fanden sich in Kirchen und Kapellen ein. Busseweise fuhren wir nach Taizé und zu europäischen Jugendtreffen, alles ganz selbstverständlich gemeindeübergreifend organisiert. Der Treffpunkt für die ganze Stadt am Samstagabend war erst mal der Kirchplatz, direkt nach der Abendmesse. Heute sieht es in meiner Kirche ganz anders aus und heute kauft kaum noch eine Kommunionfamilie ihrem Kommunionkind ein eigenes Gotteslob. 
Aber heute soll es ja um das „Lieblingslied“ gehen. Bei mir ist das im Grunde ein Bild aus einem der  Lieder, das mich mit 15/16 Jahren im Innersten berührt hat. Beim Singen der Vers entstand in meinem Inneren eine bildliche Vorstellung, die mich seitdem noch immer anrührt und verzaubert und für etwas „Gänsehaut“ sorgt, wenn die Strophe gesungen wird. Vor meinem inneren Auge entstand ein leuchtender Christus, von Kreuz herabgestiegen, von innen her durchstrahlt von einem geheimnisvollen Licht. Seine Wunden leuchtend wie strahlend rote Rubine. 
Sie werden es längst erkannt haben, das Lied stammt aus der Feder von Friedrich Spee, es findet sich u.a. unter der Nr. 932 im Münsteraner Anhang zum Gotteslob. 

Ist das der Leib, Herr Jesus Christ, 
der tot im Grab gelegen ist? 
Kommt, kommt, ihr Christen, jung und alt, 
schaut die verklärte Leibsgestalt! Alleluja, alleluja!

Der Leib ist klar, klar wie Kristall, 
Rubinen gleich die Wunden all; 
Die Seel durchstrahlt ihn licht und rein, 
wie tausendfacher Sonnenschein. Alleluja, alleluja!

Bedeck, o Mensch, dein Augenlicht! 
Vor dieser Sonn besteht es nicht.
Kein Mensch auf dieser Erde kann, 
den Glanz der Gottheit schauen an. Alleluja, alleluja!

Auch von der Melodie her ein wunderbar, freudiges Auferstehungslied. Ein Muß in der Osternacht und in der Osterzeit. Der (vermutlich) originale Text des berühmten Jesuiten und Streiters gegen den Hexenwahn geht so (aus dem Mainzer Büchlein Himmlische Harmony von 1628, im Gotteslob ist es undatiert, die Melodie soll von 1623 stammen): 

Jst das der Leib Herr Jesu Christ/ 
Der todt im Grab gelegen ist/
Kom/ kom/ O kom/ kom Jung und alt/ 
Kom schaw die schone Leibsgestalt / Alleluia/ Alleluia.

Der Leib ist klar/ klar wie Christall/ 
Die Adern roth/ roth wie Corall/
Die Seel hierdurch glantzt hüpsch und fein/ 
Wie tausentmal der Sonnenschein/ All.

Der Leib hat die Unleidenheit/ 
Bleibt unverletzt in Ewigkeit/
Gleich wie die Sonn bleibt eben klar 
So vil und so vil tausent Jahr/ All.

O wie subtil! O Leib wie zart/
Du gehst durch Stahl und Eisen hart/
Gleich wie die Sonn das Glaß durchgeht/
Da nichts den Stralen widersteht/ All.

Schnell ist der Leib und ist geschwind/
Gleich wie ein Pfeil/ und gleich dem Wind/
Gleich wie die Sonn viel tausent Meil
Die Welt umlaufft in schneller eil/ All.

Nun deck/ nun deck die Augen zu/
Daß dir der Glanz nicht schaden thu/
Jm Leib die Gottheit schawen an/
Kein mensch/ kein Aug auff Erden kan. Alleluja

Interessant, wie Spee die Licht- und Sonnensymbolik mit der Auferstehung, ja sogar mit dem Auferstehungsleib, dem verklärten Leib verbindet. Interessant auch, wie sich das Lied mit der Zeit verändert hat, dass aus den Adern und Korallen später Wunden und Rubine werden, dass „Bilder“, die unserem aktuellen Weltbild nur schwer entsprechen, später doch lieber weggelassen werden. Welcher heutige Sänger mag sich zunächst damit anfreunden, daß Christi Auferstehungsleib „schnell wie ein Pfeil oder der Wind“ zu sein vermag oder sein „zarter Leib“ Eisen und Stahl zu durchdringen vermag. Man kann sich vorstellen, wie bei solchen Strophen der Gesang in der Kirche auf einmal schwächer und dünner wird. 
Aber andererseits? Warum eigentlich nicht, warum sollen Spee's Auferstehungsjubelbilder aus dem Gotteslob „glaubwürdiger“ sein als die aus dem alten Gesangbuch von 1623. Im Grunde wird doch eine Wirklichkeit beschrieben, die Worte allein nicht fassen können, eine wunderbare Wirklichkeit, da ist einer tod – und lebt wieder; jedermann sieht ihn in „verklärter Leibsgestalt“, ein Leib „klar wie Kristall“ „Wunden wie Rubine“ von der Seele durchstrahlt. Ein Licht von Gott, vor dem wir die Augen verschließen sollten, nicht weil es uns schadet, sondern weil es mehr ist, als wir zu verstehen, zu be-greifen instande wären.
Und gerade hier wären ja die „fehlenden Verse“ vielleicht hilfreich, beschreiben sie doch teils paradoxe Dinge – die aber dennoch geschehen. 
Zumal zu den Liedern auch eine Melodie gehört, die manche sperrigen Texte zu durchdringen und lebendig zu machen vermag. Man spürt den inneren Sinnzusammenhang und die innere Wahrheit einer Strophe ja oft erst beim Singen. 
So liegt die Wahrheit des Liedes, die Wahrheit der Auferstehung tiefer als die Bilder mit der wir sie beschreiben. Wer fragt, ob der Leib eines Menschen durch Eisen und Stahl gehen kann, wer fragt, ob Licht durch den Körper strahlen kann, wer fragt, ob ein Toter schneller als der Wind sein kann... Wer vor allem so fragt, der tut sich auch schwer mit der Wirklichkeit und Wahrheit von Auferstehung. Für den ist es auch undenkbar, dass ein Auferstandener plötzlich trotz verschlossener Türen inmitten seiner Freunde und Jünger erscheint. 
Auferstehung ist in Spees Sinne etwas, was diese Welt überschreitet, weitet in eine neue Wirklichkeit hinein, die Wirklichkeit eines Gottes, der diese Welt geschaffen hat der aber doch weit größer und weit mächtiger ist als diese seine Schöpfung.
Ich denke, es ist sicher nicht ganz falsch, in Friedrich Spees Liedern eine spezifisch katholische Reaktion auf die neu aufgekommenen protestantischen Kirchenlieder zu sehen (von denen viele inzwischen treu und brav neben echten „katholischen Schlagern“ im Gotteslob stehen. Im Grunde ist die reiche deutschsprachige Musikkultur der Kirche heute ohne die Reformation nicht denkbar.) Spees sehr poetische, bildmächtige und symbolträchtige Liedkunst ist eine große Bereicherung unseres Liedgutes, kein anderer Dichter ist mit mehr Liedern im (alten) Gotteslob vertreten als er. 
Es ist sehr bedauerlich, dass dieser große Kirchenmann bis zum heutigen Tage nicht einmal selig gesprochen wurde. Wegen seines Einsatzes gegen den Hexenwahn ist er vielen ein Vorbild, er war ein Lichtblick in einer dunklen Zeit der Kirchengeschichte. Sein Seligsprechungsprozess ruht und wird offensichtlich weder von seinem Orden noch von einem Bistum betrieben. 

Nun kommt in mir doch die Frage auf, welches Schicksal meinem Lieblingslied im neuen Gotteslob blüht. Mal nachsehen...
Was für eine Überraschung. Es ist aus dem diözesanen Teil sogar in den Stammteil gerutscht – Nr. 331 – und noch überraschender - es hat statt drei nun sogar sechs Strophen. Die Melodie ist von Köln nach Würzburg umgezogen, der Text auf die Jahre 1623/1938 datiert. Neu sind für mich die zwischen 2. und 3. Strophe eingeschobenen drei Strophen: 

Der Leib empfindet nimmer Leid, 
bleibt unverletzt in Ewigkeit, 
gleich-wie so viele tausend Jahr 
die Sonne leuchtet eben klar. Halleluja... 

O Leib, wie zart, o Leib, wie fein, 
dringst durch verschlossne Türen ein, 
wie durch das Glas die Sonne geht, 
da nichts den Strahlen widersteht. Halleluja... 

Schnell ist der Leib, schnell und geschwind, 
gleichwie ein Pfeil, gleichwie der Wind, 
gleichwie die Welt viel tausend Meil 
die Sonn umläuft in schneller Eil. Halleluja...

Während Friedrich Spee in seiner kriegerischen Umwelt vielleicht stärker an den Stahl und das Eisen der Schwerter und Kanonen gedacht hat, knüpft die moderne Version an die Berichte der Evangelien an. Die Erde kreist im neuen Gotteslob um die Sonne, während Spee selbst geschickt die Problematik umgeht, wer hier eigentlich um wen kreist.

Das fromme Bild meiner Jugend darf also auch weiter lebendig sein und ich freue mich auf die neuen Strophen, die wir demnächst zusammen singen. 

Der Leib ist klar, klar wie Kristall, 
Rubinen gleich die Wunden all; 
Die Seel durchstrahlt ihn licht und rein, 
wie tausendfacher Sonnenschein. Alleluja, alleluja!

Vielleicht ja schon in der Osternacht vom 19. auf den 20. April 2014. 
Der Herr ist auferstanden! Ja, er ist wahrhaft auferstanden! Alleluja, Alleluja!

Freitag, 8. November 2013

St. Martin zieht die Zügel an, sein Roß steht still beim LINKEN Mann...

Schon lange ist in Deutschland nicht mehr so engagiert über einen Vorschlag der Linkspartei gestritten worden, wie über die Idee des NRW-Vorsitzenden Rüdiger Sagel, den Martinszug ohne St. Martin als „Sonne, Mond- und Sternefest“ zu feiern. Natürlich nicht, weil man was gegen christliche Feste oder gar Heilige der Nächstenliebe habe (schließlich, so behauptet die Partei in einer nachgeschobenen Erklärung:  „Die Botschaft des katholischen Heiligen Martin, den Mantel zu teilen und den Armen zu helfen, ist auch ein zentraler Bestandteil unserer Politik. Kinder sollen auch weiterhin mit ihren Laternen bei den Martins-Umzügen ihre Freude haben.“).

Eigentlich käme die Geschichte des Hl. Martin der LINKEN doch sehr entgegen. Schließlich war Martin ein Migrant, ein Fremder, da wo er mit einem einheimischen Bettler seinen Mantel teilte. Martin war später Kriegsdienstverweigerer und Antimilitarist und zum Zeitpunkt der Mantelteilung sogar noch nicht getauft, also in gewissem Sinne noch „Heide“ (auch wenn er im Herzen schon von der Botschaft Jesu berührt war). 

Es mag unfair sein, aber bei einem „Sonne-, Mond- und Sternefest“ denke ich zuerst an die Schulchronik der Lohberger Marienschule; 1916 als katholische Schule für Bergarbeiterkinder gegründet. Seit ihrem Beginn war diese Chronik geprägt von christlichen Festen, doch 1933 schlichen sich mehr und mehr neue, weltliche Feste ein, wie z.B. Sonnenwendfeiern, bis schließlich der christliche Festkalender arg gerupft erschien. Das Martinsfest blieb, fiel nur ein oder zweimal wegen Bombengefahr aus. Allerdings führte man 1933 plötzlich „Hakenkreuzlaternen“ mit und der Hl. Martin wechselte die Mitra verschämt gegen einen Soldatenhelm. 

Sonne, Mond und Sterne als Inhalt eines Festes? Das klingt mir eher nach einem Rückfall in prähistorische Zeiten, wo die Verehrung der Himmelskörper eine hohe Bedeutung hatte, weil man in ihnen das Göttliche vermutete. Auf jeden Fall klingt es nicht nach Fortschritt und nach einer klaren Trennung von Kirche und Staat. Eher nach New Age und einer Neuauflage naturreligöser Vorstellungen. Vielleicht beten die Kinder linker Waldkindergärten demnächst ja die verbliebenen Baumriesen in unseren Wirtschaftswäldern an und spüren sich innig verbunden mit ihrer beschädigten Umwelt. 

Auch die „Andersgläubigen“, denen die LINKE ursprünglich entgegen kommen wollte, danken es nicht. Der Vorsitzende des Zentralrats der Muslime in Deutschland, Aiman A. Mazyek meinte, dass für Muslime der Bezug auf einen katholischen Heiligen gar kein Problem darstelle: „Das Leben des heiligen Martin ist doch geradezu vorbildlich, auch für Muslime.“
Und den Salafisten und Fundamentalisten unterschiedlicher religiöser Zuordnung, die sich gegen religiöse (christliche) Feste ereifern kann doch selbst die LINKE nicht die Stange halten wollen. Hier sind alle Bürger gefragt, gegen solche Intoleranz religiöse Traditionen und Überzeugungen zu verteidigen, selbst wenn man sie selbst nicht teilt. 

Gläubige Menschen haben in der Regel gar kein Problem, wenn Christen feiern und man fragt sich, warum die Linken mit Verweis auf „Andersgläubige“, Rücksicht auf etwas nehmen zu wollen, das von diesen kaum jemanden stört. Vermutlich hatte Herr Sagel daher eher die Leute im Blick, denen der Glaube und das Christentum ein Dorn im Auge sind, eben die kleinen Minderheiten, die sich an Kreuzen in öffentlichen Gebäuden und am Läuten der Kirchenglocken stören und die mit dem Ruf „Trennung von Kirche und Staat“ dagegen anklagen.
Im Grunde konnte man sich doch auch denken, dass es der LINKEN nicht um das Martinsfest an sich geht. Die Partei stammt doch aus einer Tradition, die religiöse Bindung immer schon als irgendwie „von gestern“ bzw. als Konkurrenz zur eigenen sozialistischen Ideologie angesehen hatte.
In der nachgereichten Presseerklärung wird ja auch klar, worum es ihnen wirklich geht: „Die Frage, wie eine Trennung von Kirche und Staat, insbesondere auch in Einrichtungen, die aus öffentlichen Geldern finanziert werden, realisiert wird, bleibt für mich auf der Tagesordnung."


Bei solchen Überlegungen frage ich mich, ob das nicht auf eine Diskriminierung von gläubigen Menschen hinausläuft. Wenn man Atheisten und Agnostikern eine Erziehung nach ihren Überzeugungen gewährt, warum müssen dann Katholiken und Evangelische (und Muslime) darauf verzichten. Müssen sie sich eine religionsneutrale Ideologie aufzwingen lassen? Steht nicht einem katholischen Kind eigentlich die gleiche (finanzielle) Unterstützung zu wie dem Kind eines Agnostikers oder sind Gläubige dem Staat weniger wert? De facto gibt Vater Staat ja für ein Kind in einer kommunalen Einrichtung viel mehr Geld aus als für ein Kind in einer katholischen Einrichtung, die von der Kirche mitfinanziert wird (Oft sogar über die offiziellen Kostenanteile hinaus). Zudem setzt die Kirche noch seelsorgliches Personal und Ehrenamtlicher in ihren Einrichtungen ein. Die Argumentation klingt oft so, als ob für die Versorgung katholischer Kinder mit Kindergartenplätzen am Besten allein die Kirche zuständig sei, während sich der Staat um all die kümmert, die für eine klare Trennung zur Religion eintreten. 
Hier scheint es einen klaren Denkfehler zu geben. Ich frage mich angesichts einer immer vielfältigeren KiTa-Landschaft, ob nicht den katholischen Kindern in Waldorfkindergärten oder in der kommunalen Kita in gleichem Maße eine seelsorgliche Betreuung zukommen müßte wie den Kindern in einer katholischen KiTa. Für viele Familien ist es doch heute gar nicht mehr möglich, ihr Kind zur Kath. KiTa zu bringen, da sie als Geringverdiener nicht über ein Auto verfügen können. Und diesen Kindern nun eine Sonne, Mond- und Sterne – Naturreligion aufzuzwingen - statt eines St. Martin, nur weil in jeder KiTa auch Kinder von Muslimen, Orthodoxen und Agnostikern sind? Das hieße ja letztlich, diesem Teil der deutschen Bevölkerung die Wurzeln zu kappen aus denen unsere Gesellschaft nach dem verheerenden Krieg wieder neu aufgestanden ist. 

Im WDR5 wies Dr. Dagmar Hänel, die Volkskundlerin des LVR zu Recht darauf hin, dass es beim Martinsbrauchtum nicht um Laternenumzüge und auch nicht um Sonne, Mond und Sterne geht, sondern um eine sehr menschliche Haltung im Zusammenleben, um das Teilen, um das Miteinander, um die Caritas, um Not sehen - und handeln. Sie verknüpfte in dem Radiogespräch alle christlichen Feste mit bestimmten Werten, die unser Zusammenleben prägen. An Weihnachten ginge es um Familie, an Ostern um den Umgang mit dem Tod und dem, was danach kommt. Als Theologe möchte ich dem nicht voll zustimmen, aber der Ansatz ist doch interessant. Werte, so sagte Frau Hänel, können nicht nur mündlich vermittelt werden. Die Werte, aus denen unsere Gesellschaft lebe und sich aufbaue, müssten auch sichtbar und erlebbar werden. Und dazu dienten die christlichen Feste eben auch. 

Mir ist das natürlich zu wenig. Schauen wir einmal ganz ehrlich auf das Martinsfest. Hier hat es ja immer schon große Veränderungen in der Festkultur gegeben (nicht nur in der Nazi-Zeit) und nicht nur in den letzten Jahren. Im 19. Jahrhundert war es schon einmal aus der Form geraten, so dass sich die kath. Kirche genötigt sah, die ausufernden Bräuche, die an Diebstahl und Besäufniss grenzten, pädagogisierend wieder einzufangen. So entstanden Anfang des 20. Jahrhunderts die Martinszüge und das Martinsbrauchtum, wie wir es heute kennen. Dann setzten die Nazis dem Fest ihren Stempel auf und stilisierten den „Ungarn“ zum arischen Krieger. Etwas deformiert zog er nach dem Krieg weiter mit den Kindern durch die Straßen. 
Freudig reihten sich die Kinder türkischer Migranten später in diese Züge ein und entdeckten im katholischen Heiligen ihre religiösen Werte wieder und freuten sich mit ihren deutschen Schulkameraden am Leuchten der Laternen, am Martinsfeuer und an Süßigkeiten und Stutenkerlen. In Dinslaken – Lohberg habe ich einige Martinszüge mitgemacht, wo am Martinsfeuer nachher mehr Frauen mit als ohne Kopftücher zusammenstanden. 

Die LINKE, aber auch andere Impulsgeber nutzen heute eine gewisse Stimmungslage in der Bevölkerung aus, die immer kritischer auf „Die Kirche(n)“ blickt. Ganz bestimmt sind „wir“ daran nicht unschuldig, es hat eine ganze Reihe von Fehlern (und Verbrechen) in den letzten Jahren gegeben und oft auch eine mangelhafte Öffentlichkeitsarbeit und Kommunikationsstrategie. Und es ist ja auch nicht zu übersehen, dass die Mehrheit der Deutschen, ja sogar die Mehrheit der Katholiken sich Schritt für Schritt von der Kirche verabschiedet hat und eine innere Distanzierung auch gegenüber kirchlichen Dogmen und christlicher Botschaft erfolgte. Vielen Menschen sind christliche Werte im praktischen Leben weniger bedeutsam geworden und religiöse Praxis bedeutet ihnen nicht mehr viel. Die Kirche hat dieser Entwicklung leider wenig entgegensetzen können und sich eher mit denen in eine Art religiöses Reservat zurückgezogen, bei denen die Verbindung auch vielerlei lebensgeschichtlichen und familiären Gründen noch lebendig geblieben ist. Heute fehlen ihr manche Voraussetzungen zur Kommunikation mit den Distanzierten und den Nichtglaubenden. Papst Franziskus beklagt das eindrucksvoll und zeigt durchaus Wege auf, wie Christen wieder „missionarischer“ werden können. 

Die kontroverse Debatte um die Martinstradition macht mir aber auch Mut. Es gibt durchaus noch Anknüpfungspunkte für die zentralen christlichen Botschaften. Wir sollten diese nutzen, auch wenn es uns nicht gelingt, die Menschen zu guten, papst- und kirchentreuen Katholiken zu machen. Es ist nicht nichts, wenn Mütter ihren Kindern den Hl. Martin als Vorbild vor Augen stellen und wenn Kinder spüren, das was Martin mit dem Bettler getan hat, das kann ich auch selbst tun (und wenn es nur mit der Tüte Gummibärchen ist, die mein Opa mir geschenkt hat). 

Wir schulden unserer Lebenswelt diese Basisbotschaften christlichen Glaubens. 

Und das ist es auch, was mir für die Zukunft Sorgen macht. Wir leben in einer Welt, wo die Mauern zwischen den Menschen immer höher wachsen... Was bringt die Menschen wieder zusammen? Was sorgt dafür, dass es Mitmenschlichkeit und Rücksichtnahme gibt? Was wird geschehen, wenn wir in Deutschland einmal wieder darauf angewiesen sind, dass da Leute sind, die uns aus der Not helfen?

Wir haben in den vergangenen Jahrzehnten zugesehen und zugelassen, dass familiäre Bindungen schwächer wurden. Menschen sind immer mobiler geworden, oft wohnen und arbeiten Kinder weit entfernt von ihren Eltern. Nachbarschaften sind zerbröselt. Nur noch in Dörfern gibt es geregelte Systeme der gegenseitigen Hilfeleistung. Die „Kleinfamilie“ oder die Paarbeziehung ist bedeutsamer geworden, die Großfamilien, in denen Verbindungen über drei oder mehr Generationen hinweg gelebt wurden haben an Verbindlichkeit verloren. Wer kümmert sich heute noch um seine Großtanten und Urgroßonkel? Für kleine nachbarschaftliche Unterstützungsleistungen gibt es heute besondere Dienstleister – gegen Geld. Ein hoher Wert ist es für viele, „von niemand anders abhängig zu sein“. Und dank der Navigationsgeräte muss man nicht einmal mehr jemanden nach dem Weg fragen. 

Ich will nicht pessimistisch sein. Es gibt auch noch die andere Seite; Solidarität, Miteinander, Hähe, Aufopferung, Engagement. Aber niemand kann die Augen davor verschließen, dass die Betonung heute auf „Freiheit“, Eigenständigkeit, Egoismus, Selbstverwirklichung u.s.w. liegt, ohne daran zu denken, dass es eigentlich immer Begriffspaare sein müßten: Freiheit + Verantwortlichkeit, Selbstverwirklichung + Solidarität, Eigenständigkeit + Miteinander. 

Der ehemalige Verfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde hat darauf hingewiesen, dass die Gesellschaft aus Werten lebt, die nicht einfach so da sind. „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“ Unsere Gesellschaft ist bis zum heutigen Tag auf christlichen Werten gegründet. Diese haben auch dann ihren Wert und ihren Bestand, wenn sich die Kirche unserer Tage (eigentlich ihr Garant) wenig überzeugend präsentiert. Offensichtlich wird sie aus der Perspektive vieler Menschen schlicht der allgemeinen „Obrigkeit“ zugeordnet und die hat schon mal per se einen schlechten Ruf, wie man an dem niedrigen sozialen Renommée von Politikern und anderen Institutionen deutlich erkennen kann. Auch hier hat das nicht immer mit konkretem Fehlverhalten und schlechten Leistungen zu tun. 

Ich sehe weit und breit keine Alternative zu einer Gesellschaftsordnung, die auf christlichen Werten gründet. Die philosophischen Entwürfe der Vergangenheit überzeugen nicht, im Gegenteil führten sie doch manches Mal direkt in den Abgrund, zu einem unmenschlichen Terrorregime. Lenin, Stalin, Ulbricht, Honecker und Mao haben die im Grunde durchaus menschenfreundlichen Gedanken von Marx und Engels auf alle Zeiten desavouiert. 

Aus dieser „Falle“ müssen wir uns befreien. Es muss wieder deutlich werden, dass Kirche nicht eine abgehobene „Obrigkeit“ ist, sondern Gottes Volk, Gemeinschaft von Menschen, die in den Spuren Jesu Christi und nach seinem Wort ihr Leben gestalten. Nicht nur die Hirten brauchen den Geruch der Schafe, wie der Papst es formuliert hat, sondern auch die normalen Katholiken müssen ihr Leben und ihren Glauben mitten unter den Menschen leben und als solche erkennbar, besser noch „erlebbar“ sein. Das schließt auch die Notwendigkeit ein, der Botschaft einen Vorrang zu geben vor dem Botschafter, der Mission und Verkündigung einen höheren Rang zu geben als einer Kirche von „schöner und edler Gestalt“.

Bei aller Fehlerhaftigkeit: Als Kirche, als Katholiken, als Nachfolger Christi schulden wir der Welt einfach die Botschaft des Glaubens. Wir müssen mit dazu beitragen, dass unsere Gesellschaft die Welt, von der sie lebt als Schöpfung begreift, die es zu bewahren und zu gestalten gilt. Wir müssen mit dazu beitragen, dass die Mächtigen und Entscheidungsträger den unbedingten Wert menschlichen Lebens von der Empfängnis bis zum Sterbebett achtet und dafür sorgt, dass ein menschenwürdiges Leben für jeden möglich ist. Wir können den Sonntag als Tag der Ruhe und Nachdenklichkeit fördern, wo der Mensch dankbar sein kann, für alles und jeden, ohne den und die sein Leben nicht möglich wäre. Wir können mithelfen, dass die Menschen spüren, dass Leben auch Verantwortlichkeit bedeutet. Es gibt also viel zu tun. Ein schön und würdig gestalteter Martinsumzug kann ein erster Schritt auf diesem Wege sein und Menschen im Herzen berühren.