Mittwoch, 28. November 2018

Der Jesuit und der Kardinal

Ich erinnere mich an eine einzige, kurze Begegnung mit Gerhard Ludwig Kardinal Müller. Nach der Amtseinführung des neuen Kölner Erzbischofs 2014 stand er am Rande der Festgemeinde auf dem Roncalliplatz, umgeben von einigen Leuten, die mit ihm sprechen wollten. Ich stellte mich ebenfalls dazu, in der Hoffnung mit ihm einige Worte wechseln zu können in einer Sache, über die wir zuvor korresponiert hatten. Da trat ein älterer Mann auf ihn zu und sagte: „Herr Kardinal, eines wollte ich Ihnen unbedingt noch sagen: Sie sind ein Kirchenschädling.“ Sprachs, drehte sich um und verschwand in der Menge. Der Kardinal war einigermaßen aufgebracht und offenbar ratlos, wo er nun mit seinem Ärger hin sollte. Mir schien, am Liebsten hätte er ihm einige wütende Sätze hinterher geworfen, aber das Gespräch mit mir lenkte ihn ab.

An diese Szene muss ich in diesen Tagen häufiger denken. Ich weiß gar nicht, was den Mann zu diesem verbalen Angriff auf den Kardinal verleitet hatte, zumal dieser eine hochgewachsene, Ehrfurcht einflößende Erscheinung ist, sein Kritiker dagegen ein kleineres Männchen.

Ich habe Kardinal Müller in den letzten Jahren oft gegen Angriffe in den sozialen Medien verteidigt und immer wieder für ihn Partei ergriffen. Mir scheint, er ist ein solider Dogmatiker mit wirklich profundem theologischem Wissen. Aber ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass er ein eher aufbrausender Charakter ist und nicht besonders geübt darin, mit Leuten zu kommunizieren, die ihm theologisch nicht das Wasser reichen können.

Mir scheint, dass es diese Charakterzüge waren, die ihn letztlich das exponierte Amt des Präfekten der Glaubenskongregation „gekostet“ haben. Im Vergleich zu seinem Vorgänger und Nachfolger im Amt, war Kardinal Müller weit mehr mit prägnanten und oft auch umstrittenen Wortmeldungen in den Medien.

Dabei täte man ihm unrecht, wenn man ihn im extrem konservativ-bewahrenden Lager der Kirche verortet. Es lohnte sich immer, seine Interviews im Zusammenhang zu lesen. Auch wenn man nicht jedem Gedanken zustimmte, aber hier sprach ein Denker, der etwas zu sagen hatte. Auf jeden Fall, konnte man seine Positionen nicht abtun und die Beschimpfung als „Kirchenschädling“ ist keineswegs gerechtfertigt, nein ich halte sie für eine schliche Unverschämtheit. Wer Gerhard Ludwig Kardinal Müller einzig als Gegner und Feind einer modernen und liberalen Theologie betrachtete, der kannte seinen Müller nicht. Dieser war (und ist) ein Mann, der sich nicht scheute um der Sache willen gleichermaßen mit den Piusbrüdern und den Kirchenvolksbewegten in den Clinch zu gehen.

Gestern war die Meldung zu lesen, Kardinal Müller bekomme für seine jüngst in Kanada geäußerten Positionen Zuspruch von Weihbischof Schneider aus Kasachstan, Kardinal Brandmüller aus Rom und Weihbischof Eleganti aus der Schweiz. Man kann sich aber vorstellen, dass diese an anderer Stelle durchaus mit Kardinal Müller über Kreuz lägen. Ich erinnere an die Diskussionen um dessen Rechtgläubigkeit nach seinem Aufstieg zum Präfekten der Glaubenskongregation, als sein Dogmatik-Lehrbuch in traditionellen Kreisen gnadenlos zerpflückt wurde.

Das Interview, das Gerhard Ludwig Kardinal Müller der kanadischen Plattform Lifesitenews gegeben hatte, hat in der Tat einige Aufregung ausgelöst. Wie immer sollte man sich erst nach Lektüre des gesamten Textes ein Urteil bilden: https://www.kath.net/news/65962

Werfen wir zunächst einmal einen Blick in die Arena der Streithähne, die nach diesem Interview aufgetreten sind. Den Pokal für die schärfste Äußerung hat hier sicherlich der Jesuitenpater Klaus Mertes verdient. In einem Interview mit katholisch.de äußerte er sich u.a. folgendermaßen: „Die jüngsten Aussagen des Kardinals zur Kirchenkrise seien der "zum Dogma geronnene klerikale Dünkel", der der Schlüssel zum Gesamtproblem Missbrauch ist...“
Auch die Aussage Müllers, dass sich die Kirche im Hinblick auf die Missbrauchsfälle mit der praktizierten Homosexualität auseinandersetzen müsse, griff der Jesuit auf. "Es gebe eine Fraktion, die den Homosexuellen die Schuld geben wolle, so Mertes. Doch das entscheidende Problem liege in der Tabuisierung der Homosexualität selbst. Die Aussagen des früheren Glaubenspräfekten seien daher "unglaublich dreist" und "abgründig falsch" und riet Kardinal Müller dazu, zehn Jahre lang Pfarrer in einer normalen Stadtgemeinde zu sein - und bis dahin zu schweigen.“

Der Essener Generalvikar schloss sich auf Facebook mit deutlichen Worten der Kritik an: „Ich stimme P. Mertes voll und ganz zu. Auch während der gerade stattfindenden Präventionstagung der Bischofskonferenz sorgen die Aussagen von Kardinal Müller für Empörung. Mit solchen Äußerungen, wie sie Müller von sich gibt, werde eine Sexualmoral zementiert, die zur sexuellen Gewalt beigetragen habe, stellte Prof. Harald Dreßing, Leiter des Forscherteams der MHG-Studie, unter großem Beifall des Auditoriums fest. Darum muss solchen brandgefährlichen Aussagen auch deutlich widersprochen werden.“

Während das Interview des ehemaligen Präfekten der Glaubenskongregation in manchen Kreisen gefeiert wurde, bekommt dieser offenbar aus der Riege derer, die aktuell in der Missbrauchskrise das Heft des Handelns in der Hand halten, heftigen geradezu empörten Gegenwind.

Das ließ der gescholtene Kardinal nicht auf sich sitzen und gab den Angriff mit gleicher Münze zurück: Die Wortmeldungen des Jesuitenpaters seien „dreiste Beschimpfungen". Diese habe "besinnungsloser Zorn" dem Direktor des Jesuitengymnasiums Sankt Blasien eingegeben, sagte Müller der "Passauer Neuen Presse".

Zugleich sprach der frühere Präfekt der Römischen Glaubenskongregation Mertes "Sachkenntnis und Urteilskraft" ab. Der Jesuit, der 2010 die ersten Missbrauchsfälle am Berliner Canisius-Kolleg publik gemacht hatte, gebe sich "zu Unrecht als Experte in Sachen sexueller Missbrauch von Jugendlichen aus".

Dagegen handle die Glaubenskongregation auf einer wirklichen Datenbasis, so Müller weiter. Er hielt Mertes vor, es sei "einfach nur infam, die sexuellen Verbrechen an Teenagern und jungen Erwachsenen für kirchenpolitische Ziele zu benutzen". Offenbar kenne der Jesuitenpater nicht "die biblische Lehre zu homosexuellen Handlungen und zur absoluten Verwerflichkeit der Schändung von Heranwachsenden". Müller fügte hinzu: "So wenig man eine Schreibmaschine zu einem Klavier weiterentwickeln kann", so wenig vermöge Mertes, "das Wort Gottes in das Gegenteil zu verkehren".

Im Grunde braucht man nicht viel mehr zu wissen, um zu erkennen, wo die Konfliktlinien verlaufen und um welche Themen da diskutiert wird. In diesen Tagen sekundieren die „üblichen Verdächtigen“ jeweils der einen oder anderen Seite, ein eher verstörendes Schauspiel das in der Öffentlichkeit einen wahrhaft verheerenden Eindruck erzeugt und mühsam aufgebautes Vertrauen in die Kirche (wieder und wieder) zerschlägt.

Ich würde mir wünschen, dass jeder Mensch, dessen Tun und Reden in diesem Tagen mit der Kirche in Verbindung gebracht wird, folgendes Signale setzt und entsprechend handelt:
  • Wir stehen an der Seite der Opfer, wir tun alles, um Unrecht wieder gut zu machen.
  • Wir investieren sehr viel Kraft in Aufklärung, Transparenz und Prävention.
  • Wir lassen kirchenpolitische Kämpfe ruhen und reden diszipliniert über alle Fragen, die sich in der Mißbrauchskrise stellen. Wir reden über Sexualität, Zölibat, Homosexualität, über das Miteinander und Zueinander von Männern und Frauen in der Kirche.
  • Wir tun alles, damit sich das Wirken der Kirche in Zukunft wieder nur um eines dreht: Die Verkündigung der Frohen Botschaft, die Sorge um die Menschen und die Anbetung Gottes.
Vor diesem Hintergrund macht es Sinn, das lange Interview von Kardinal Müller einmal im Gesamtzusammenhang zu lesen und hier und da zu kommentieren.

Die vielen Gedanken darin umfassend zu würdigen, das kann dieser Beitrag hier nicht leisten. Aber die Aufmerksamkeit auf die ein oder andere Aussage des Kardinals zu richten, könnte die Diskussion insgesamt erhellen. Ich hoffe, dass die vielen Müller – Kritiker den Text wirklich gelesen haben … fürchte aber, dass sie sich nur mit den Schlagworten aus der Presse begnügt haben.

Viel zitiert wurde ein Aspekt seiner Antwort auf die erste Frage von Dr. Maike Hickson: „Laien können nicht über Bischöfe urteilen.“ - wo Müller letztlich darauf aufmerksam macht, dass man jetzt nicht holterdipolter die Verfasstheit der Kirche auf den Kopf stellen kann. Letztlich wendet sich der Kardinal damit auch sehr deutlich gegen eine Initiative in den USA, die betont hatte, die „Laien“ müssten den Bischöfen jetzt mal Beine machen und vor allem die Rolle der Kardinäle in der Missbrauchsaffäre extern unter die Lupe nehmen. Bemerkenswert finde ich die abschließende Formulierung, wo der Kardinal um Dialog und Vertrauensbildung wirbt und die Verantwortung betont, die jeder mit seinen Wortmeldungen nun trägt.

Wesentlich ist an der Antwort des Kardinals auch, das er sehr klar sagt, dass ein straffällig gewordener Bischof oder Priester sehr wohl durch Laien vor weltlichen Gerichten zu verurteilen sei. Dass es aber in der Kirche ausreichende Strukturen gäbe, einen Priester oder Bischof auch noch kirchenrechtlich zur Verantwortung zu ziehen (was man dann auch tun müsse). Er betont die eigene Verantwortung der Bischöfe für ihre Diözesen und fordert vertrauensbildende Maßnahmen.

Geradezu verstörend jedoch ist Müllers Antwort auf die 2. Interviewfrage: Er habe Kardinal McCarrick persönlich nicht gekannt und niemand habe ihn über dessen Vergehen informiert. Und dann kommt es: Man habe ihn vermutlich deshalb nicht informiert, da man von seiner Seite eine „rigide Reaktion“ befürchtet habe. Doch hätte (s)eine rigide Reaktion „uns“ vor vielem bewahrt. „Dass er mit seinem Clan und geschützt von einer Homo-Lobby mafiös in der Kirche sein Unwesen treiben konnte, hängt mit einer Unterschätzung der moralischen Verwerflichkeit homosexueller Praxis unter Erwachsenen zusammen.“ Dies scheint mir ein Kernsatz des ganzen Interviews zu sein. Zur 3. Frage führt er dann weiter aus, dass die Glaubenskongregation für die Fälle sexuellen Mißbrauchs an Heranwachsenden zuständig gewesen sei, beklagt aber die fehlende Zuständigkeit für Fälle von Unzucht von Klerikern mit Klerikern oder Laien. Die kirchliche Sexualmoral dürfe auch nicht durch die weltliche Akzeptanz von Homosexualität relativiert werden.

Auf die bemerkenswerte Frage, ob „Richtlinien“ in dieser Sache weiter helfen oder ob nicht eher eine „tiefere Bekehrung der Herzen“ gefordert sei antwortet Kardinal Müller, dass die Krise ihren Ursprung in einer „Verweltlichung der Kirche“ und in „einer Reduktion des Priesters auf einen Funktionär“ habe. Es gäbe Bischöfe, die die Kirche säkularisieren wollten, um nicht mehr als „unbequeme Mahner und Leute von gestern“ dazustehen. Diese opferten die Wahrheit des Dogmas und die Prinzipien der Moral“, da diese nicht mehr mit der Lebenswirklichkeit übereinstimmten. So stände einem „Leben nach den eigenen Lüsten und Bedürfnissen“, angepasst an eine „Welt ohne Gott“ die Offenbarung nicht mehr im Wege. Das ist für den Kardinal ein „Atheismus, der sich in der Kirche breitgemacht“ habe.

Auf diesem Horizont analysiert er dann eine Zahl aus der Statistik, dass nämlich nur 5 % der Täter krankhaft pädophil seien. Daher habe die große Masse der Täter „freiwillentlich aus Unmoral das 6. Gebot des Dekalogs mit Füßen getreten“ und setze sich „blasphemisch über den heiligen Willen Gottes hinweg“.

Was mir an dieser Stelle und auch im ganzen Interview fehlt, ist eine klare Positionierung auf der Seite der Opfer, deren Sichtweise, deren Schicksal und deren Situation an keiner Stelle auch nur erwähnt werden. 

Ich würde sagen, dass es unbedingt Beides braucht, klare Richtlinien und eine tiefe Bekehrung der Herzen. Das eine geht nicht ohne das Andere. Aber die Aufarbeitung der Mißbrauchsfälle hat auch gezeigt, dass wir nicht über eine Frage der Moral reden, sondern über eindeutige Verbrechen an Menschen, die der Macht eines Anderen ausgeliefert sind, weil dieser über ihnen steht, älter ist, einen Status hat, der ihm Macht verleiht. Er setzt sich über den Willen und das Wohl anderer Menschen hinweg und zudem über den Willen Gottes. Im schlimmsten Fall setzt er noch sein persönliches Wollen mit dem Willen Gottes gleich. Bekehrung kann man nicht erzwingen, klare Richtlinien aber sehr wohl durchsetzen. 

In der 6. und 7. Frage geht es um das Kirchenrecht und die Unterschiede zwischen dem CIC 1983 und 1917.
Interessant ist, dass der Kardinal hier gleichgewichtig die zölibatären und die verheirateten Priester des östlichen Ritus erwähnt, die auch in ihrer Ehe ein Vorbild für die Herde sein sollen. „Nicht die wilde Gier nach der Befriedigung, sondern die leibliche und geistige Überantwortung in der Agape an eine Person des anderen Geschlechts ist der Sinn der Sexualität.“

Keine Sternstunde ist die wütende Antwort auf die Frage, dass Kardinal Cupich ja davon gesprochen habe, dass man „differenzieren“ müsse zwischen einvernehmlichen sexuellen Kontakten zwischen Erwachsenen und dem Missbrauch Minderjähriger. „Man kann alles differenzieren und sich dabei noch als großer Intellektueller vorkommen, aber nicht die schwere Sünde relativieren.“

Ich frage mich: War das nötig? Gibt es eine Konfliktgeschichte zwischen den beiden Kardinälen? Natürlich muss man differenzieren! Und das tut die Kirche doch auch. Für einen überführten Mißbraucher gibt es klare Kirchenstrafen (wenn sie denn angewandt werden), für einen sündigen Kleriker gibt es die Beichte. Nicht nur hier wird deutlich, dass für Kardinal Müller eigentlich kein wesenhafter Unterschied zwischen Mißbrauchsverbrechen und Zölibatsverstößen von Priestern besteht, besonders dort, wo es um männliche Betroffene geht. Beides müsse durch eine Stärkung der Disziplin, durch tieferen Glauben und klarere Regeln verhindert werden.

In Frage 9 und vielen folgenden geht es denn auch um die Rolle der Homosexualität und die ungewöhnliche Tatsache, dass 80 % der Opfer dieser Sexualverbrecher „Jugendliche männlichen Geschlechts“ seien, "der größte Teil schon nach der Pubertät". In einigen etwas verschachtelten Sätzen zieht der Kardinal daraus dann offenbar den Schluß, dass bei den Tätern eine „tiefe Unordnung ihrer Triebwelt“ vorliege. Und meint offenbar auch, dass daraus zu schließen sei, dass die Täter zwar überwiegend homosexuell seien, woraus man aber nicht schließen könne, dass überdurchschnittlich viele Prieser homosexuell seien, wohl aber, dass die Homosexuellen unter diesen besonders häufig zu Tätern würden. Man hätte hier wenigstens erwähnen können, dass es einige schlüssige Erklärungen für die hohe Zahl männlicher Opfer gibt, die nicht von der Notwendigkeit homosexuell veranlagter Täter ausgehen. Wenngleich diese Erklärungen sicher nur einen gewissen Teil des Phänomens erhellen.

Der Kardinal führt weiter aus: „Meiner Ansicht nach gibt es keine homosexuellen Männer oder gar Priester.“ Es könne aber „Männer und Frauen geben mit einer ungeordneten Triebstruktur in Bezug auf Personen des eigenen oder anderen Geschlechtes.“ Sexualität außerhalb der Ehe sei „Unzucht und Missbrauch der Geschlechtlichkeit“, sei diese auf Personen gleichen Geschlechts gerichtet handele es sich um eine „widernatürliche Steigerung der Sünde“.

Unbedingt zuzustimmen ist dem Kardinal in der Bemerkung: „Nur wer gelernt hat, sich zu beherrschen, erfüllt … auch die moralische Voraussetzung für den Empfang der Priesterweihe.“ Als Ehemann würde ich dies auch für Eheleute so fordern.

Insgesamt erkennt Müller in der Kirche offenbar mächtige Stimmen, die darauf aus sind, die Homosexualität von dem Makel freizusprechen, eine „widernatürliche Steigerung der Sünde der Unzucht“ darzustellen. Ganz offen spricht er von einer „Gay Lobby“ in der Welt aber auch in der Kirche, die an diesem Ziel arbeitet (deren Protagonisten er aber nicht kenne und nenne).

Diesen wirft er vor, sich „ins warme Mäntelchen des Zeitgeistes einkleiden“ zu wollen um „modern und zeitgemäß anzukommen auf Kosten ihrer Mitbrüder.“

Hier entdeckt er wiederum eine „Verweltlichung der Kirche“ und den „schleichenden Einfluss des Atheismus in der Kirche“, der verantwortlich sei für die Krise der Kirche seit einem halben Jahrhundert.

Offenbar hat er keine hohe Meinung von einigen seiner priesterlichen und bischöflichen Mitbrüder, denen er attestiert, dass sie „im naiven Glauben, modern sein zu wollen, gar nicht das Gift merken, das sie jeden Tag einschlürfen und das sie fahrlässig anderen zu trinken anbieten.“

In diesem Kontext kommt er abschließend auf die Hintergründe zu sprechen, aufgrund derer er glaubt, sein Amt als Präfekt der Glaubenskongregation verloren zu haben.

Eine Gruppe von Kardinälen habe beim Papst den Eindruck vermittelt, er stünde als Präfekt nicht hinter dessen Ideen. Diese hätten aber nie mit ihm selbst gesprochen und sie hätten doch wissen müssen, dass er als Bischof und Kardinal nicht dem Papst nach dem Mund zu reden habe, sondern die Lehre des katholischen Glaubens zu vertreten habe. In diesem Zusammenhang erwähnt er seine „orthodoxe Auslegung“ von Amoris laetitia, bemängelt, dass seine anonymen Kritiker offenbar nicht sein Buch über das Papsttum gelesen hätten. „Das Lehramt der Bischöfe und des Papstes steht unter dem Wort Gottes in Schrift und Tradition und dient ihm.“ Er habe sich als Präfekt „keiner Innovation oder Reformen im katholischen Sinne des Wortes widersetzt“ und man habe ihm bis heute nicht mitgeteilt, was der Grund für die Nichtverlängerung seines Mandates sei.

Es sei argerlich, „dass theologisch ungebildete Leute in den Bischofsrang erhoben werden, die unfähig sind zu lehren und dies dem Papst mit einer infantilen Ergebenheit meinen danken zu müssen.“

Diese Formulierungen aus dem Mund eines Kardinals muss man wirklich erst einmal verdauen. Der Papst, umgeben von „Schmeichlern und Karrieristen am päpstlichen Hof“, denen noch dazu grundlegende theologische Fähigkeiten fehlen. Wann hat man so etwas jemals gehört?

Auch zum „Klerikalismus“ hat der Kardinal eine klare Meinung. „Klerikalismus als Vorwurf gegen gute Priester dient der homophilen Lobby als Vernebelung ihrer Missetaten und unchristlichen Ideologie.“

Wenn das – durchaus problematische - Wort vom „Klerikalismus“, das ja das Machtgefälle beschreiben soll, das die Mißbrauchstaten überhaupt möglich macht, derart von der einen oder anderne Seite als Kampfbegriff verwendet wird, dann ist es in der Tat wertlos geworden. Ich denke an die klugen Worte meines Bischofs Felix Genn, der in diesem Zusammenhang von „geistlichem Mißbrauch“ sprach. Wann immer jemand als Kleriker sein Amt dazu mißbraucht, mit Hilfe der durch Weihe und Status gegebenen Macht persönliche Wünsche und Bedürfnisse durchzusetzten sollten wir sehr aufmerksam werden. Hier wird die Botschaft Jesu schon verbogen und entstellt. Hier hält dann in der Tat der „Atheismus ins Christentum“ Einzug. Und jeder, der mit solcher klerikaler (und anderer) Macht ausgestattet ist, sollte sich in jeglicher Hinsicht im Griff haben. „Wir tragen unseren Schatz in zerbrechlichen Gefäßen. Unsere Kraft kommt von Gott und nicht von uns.“ Wie recht Paulus hier mit seinen Worten hat.

Bezüglich der Gründe für die Ablösung des Kardinals von seiner Aufgabe an der Spitze der Glaubenskongregation weiß ich nach der Lektüre des Interviews weit mehr, als ich jemals wissen wollte.

Das Interview läßt spüren: Hier ist jemand tief verletzt, verletzt über die Tatsache, dass Leute, die ihm theologisch und intellektuell nicht das Wasser reichen können, mit dazu beigetragen haben, dass er heute nicht mehr im Amt ist. Möglicherweise hatte er auch das Ideal der Zusammenarbeit zwischen Papst Johannes Paul II. und Kardinal Ratzinger vor Augen als er sein Amt antrat.

Die vom Kardinal beanspruchte Expertise in Sachen „Sexueller Mißbrauch“ vermisse ich in seinem langen Interwiew durchaus. Es ist sicher sein gutes Recht und auch seine Aufgabe als Kardinal, die katholische Lehre in Erinnerung zu rufen. Sicher auch, sich für die traditionelle Ehe und die Haltung der Kirche zur gelebten Homosexualität zu engagieren. Man fragt sich allerdings: „Muss es mit dem Holzhammer sein?“ Und wenn er schon die große Sachkenntnis der Glaubenskongregation für sich reklamiert, warum dann kein einziges Wort zur Rolle des Zölibat, zur Priesterausbildung, zur konkreten Lebensform und Lebenswirklichkeit vieler Priester, zum angemessenen Umgang mit den Opfern, zu Strukturen und Organisationsformen in der Kirche, die Missbrauch begünstigen? Die Fehler liegen allesamt bei den Anderen, bei denen, die sich ins Priestertum gemogelt haben, bei der bösen Welt und bei Seilschaften homosexueller oder homophiler Kleriker und möglicherweise auch beim Papst selbst. Ich lese auch kein einziges, auch nur annähernd selbstkritisches Wort. Auch das macht dieses Interview – bei allem was darin auch wichtig und richtig ist – für mich ziemlich unverdaulich. Auf meiner persönlichen Sympathie-Skala, von sagen wir mal 10 Punkten rutscht Kardinal Müller mit seinen aktuellen Wortmeldungen sicher um einige Punkte ab, sagen wir mal von 8 auf 5 Punkte. Ich hoffe sehr, dass er es schafft, an seine früheren Stärken wieder anzuknüpfen. Wir brauchen solche Leute, die in den Chor derjenigen, die auch in der Missbrauchskrise die immer gleichen Heilmittel für die Kirche empfehlen, begründete, kritische Worte hineinsprechen und beispielsweise auf die erschreckende Tatsache aufmerksam machen, dass es beispielsweise Machtmißbrauch, Gewalt und sexuellen Mißbrauch auch durch Frauen geben kann, dass auch Schwule nicht alle nur sanft und lieb sind und dass die Aufhebung des Zölibats neben der Lösung von Problemen auch viele neue schafft. Umso bedeutsamer ist, dass sie auch durch persönliche Integrität und Glaubwürdigkeit Gehör finden und nicht nur durch Amt und Würde.

Ich bin eigentlich unverdächtig, zum Kreis der Schmeichler und Karrieristen zu zählen. Ich weiß auch nicht genug darüber, wie gut oder schlecht Papst Franziskus mit seinen Mitarbeitern umgeht. Aber ich würde mir wünschen, dass er u.a. Gerhard Ludwig Kardinal Müller für einige Tage zu sich einlädt, dass die beiden miteinander die Messe feiern, die Bibel lesen, essen, einmal gemeinsam mit den Schwestern der schmerzhaften Mutter am Borgo Santo Spirito den obdachlosen Lebensmittelspenden austeilen und über ihre Differenzen ins Gespräch kommen.

Und allen Kontrahenten würde ich empfehlen, nicht nur die Verse über Unzucht und Barmherzigkeit zu zitieren, sondern den folgenden kleinen Dialog zweimal zu lesen, bevor sie in einem Interview über einen Anderen sprechen: „Petrus fragte Jesus: "Sag mal, wie oft soll ich jemandem vergeben, der mir Unrecht tut? Siebenmal?" "Nein!", antwortete Jesus, "Siebzigmal siebenmal! Soll heißen; ohne Ende! Zähl nicht nach. Vergib!"

Kyrie eleison!