Sonntag, 12. April 2015

Nachdenken über Krankheit: mein Krebs


Etwas mehr als ein Jahr liegt es nun zurück, dass die Ärzte in meinem Körper eine "Raumforderung" diagnostizierten. "Raumforderung", ein Begriff, der zunächst einmal nur aussagte, dass da im Ultraschall oder auch im MRT / CT – Bild etwas war, das da nicht hingehörte. Was das war, was da Raum forderte, das war zunächst nicht klar. Ein Bluterguß, ein Muskelfaserriß, ein gut- oder gar bösartiger Tumor? Klar wurde dann Schritt für Schritt, dass es sich um einen bösartigen, "hochmalignen" Tumor handelte, um ein Non-Hodgkin-Lymphom. Und dass diese Erkrankung mehr Raum fordern würde, als ich nur wenige Tage zuvor zu fürchten gewagt hatte. 

Sie stellte ein Stück meines Lebens auf den Kopf. "Sie werden ihre ganze Kraft für Ihre Heilung brauchen." sagte mir die behandelnde Onkologin. Der Krebs und die Therapien sollten also viel Raum in meinem Leben einnehmen. So viel, dass an Arbeit nicht mehr zu denken war und an einigen Tagen während der Chemotherapie ging auch vieles Andere nicht. Psychisch und physisch war da die Luft oft raus und selbst kleinere Aktivitäten erforderten viel Energie. 

Die akute Erkrankungsphase liegt hinter mir, über den Berg bin ich noch nicht. Das wurde mir recht schmerzhaft vor Augen geführt anhand des Schicksals eines befreundeten Ehepaars, wo der Mann etwas später als ich eine vergleichbare Diagnose mit einem vergleichbaren Krebs erhielt. Am Samstag mußten wir ihn zu Grabe tragen. Einige Jahre lang waren wir gemeinsam zu Fuß nach Kevelaer gepilgert, nun trugen ihn zwei junge Kevelaer – Pilger zu seiner letzten Ruhestätte. 

Das maligne Lymphom ist eine Erkrankung des Lymphgewebes, das ist eine "Systemerkrankung", wie ich lernen mußte. Krebszellen finden sich dabei im ganzen Körper, die Medikamente und Chemotherapeutika greifen sie – über das Blutsystem transportiert überall an, zerstören die Möglichkeit der Krebszellen sich zu teilen und zu vermehren. Dabei fallen auch manche andere Zellen im Körper den Zellgiften zum Opfer, was u.a. dafür sorgt, dass man sich über Monate die Kosten für den Friseur spart und sich selten zu rasieren hat. 

An bestimmten Stellen des Körpers bildet der Krebs auch Tumoren oder läßt die Lymphknoten anschwellen. Bei mir war das im Unterbauch, bei meinem Bekannten in Auge und Kopf, was es wohl viel schwieriger machte, die Tumore zu erreichen. Während sich meine Erkrankung im Idealverlauf behandeln ließ, war es bei ihm viel schwieriger und wesentlich härter. Dennoch, Ende des Jahres konnten wir uns als "vorläufig geheilte" die Hand schütteln. Ein Erfolg, der bei ihm leider von kurzer Dauer war. Während ich wieder langsam mein "altes Leben" zurückerobern darf stellten sich bei ihm Komplikationen ein, die man zunächst den harten Therapien zuschrieb. Sein Zustand verschlechterte sich Schritt für Schritt, dann rasant, so dass er in der vergangenen Woche dann den Kampf gegen den Krebs auf der Intensivstation eines Krankenhauses verlor. 

Das führt auch mir vor Augen, dass ich noch keineswegs auf der "sicheren" Seite bin. Ich bin froh, dass die Sorge mein Leben nicht zu sehr beeinträchtigt. Aber ab und an ist die Frage schon da: "Was tut sich da im Körper, was ich nicht sehe...?" Spüren kann ich durchaus noch was, der Körper, mein Leib fühlt sich noch nicht an wie früher... Und er kann auch noch nicht so wie er mal konnte, es fehlt an Kraft und oft auch an Konzentration. Das ist zwar ärgerlich, aber solange es kein Anzeichen dafür ist, dass der Krebs noch lebt ... buche ich all das unter "Zipperlein" ab. 

Krebs, das ist der "König der Krankheiten". Diese Feststellung verdanke ich dem Schriftsteller Henning Mankel, der auch im vergangenen Jahr eine Krebserkrankung zu durchleben hatte. Als Schriftsteller brachte er seine Gedanken und Empfindungen dazu zu Papier. Dem eifere ich jetzt – verspätet – einmal nach. König der Krankheiten! Es ist wirklich etwas dran! Dem Wort "Krebs" hängt ein gewisser Mythos an, umwabert von Lebensgefahren. Obwohl es zahlreiche hoch gefährliche Erkrankungen gibt und manche von Ihnen viel rasanter zum Tode führt, kommt "Krebs" im Empfinden mancher Menschen in der Gefährlichkeit noch weit vor dem Herzinfakt. Beim Infakt glaubt man ja zu wissen, wo das Problem liegt. Da war ein Blutgefäß halt zu eng, verstopfte und "bums"... Bekommt man den Verschluß schnell gelöst, sind die Chancen nicht schlecht. 

Krebs ist wesentlich schlechter zu greifen. Es ist auch nicht ein "Propf", der quasi von außen in den Körper kommt (oder sich halt unter widrigen, von außen beeinflußten Umständen, regelwidrig in mir bildet), sondern beim Krebs drehen die eigenen Zellen durch. Etwas von mir, tief in mir drin verändert sich. Ohne dass man wirklich genau sagen kann, woran das liegt. Die Zellen scheinen wie umprogramiert, entwickeln sich unkontrolliert und bilden einen Tumor. Und sie haben die Angewohnheit, sich tückisch über den Körper zu verbreiten. Manche tun das über das Blut, andere über die Lymphsysteme. 
Es ist komisch, man kann den Tumor gar nicht so richtig als Fremdkörper begreifen, er ist in mir, wird von mir am Leben erhalten, wächst... Es sind meine Zellen, die da wachsen. Er ist ein Stück von mir – und ist es wieder nicht. 

Mir geht da immer ein Wort aus dem Markusevangelium durch den Kopf: "Nichts, was von außen in den Menschen hineinkommt, kann ihn unrein machen, sondern was aus dem Menschen herauskommt, das macht ihn unrein. Er verließ die Menge und ging in ein Haus. Da fragten ihn seine Jünger nach dem Sinn dieses rätselhaften Wortes. Er antwortete ihnen: Begreift auch ihr nicht? Seht ihr nicht ein, dass das, was von außen in den Menschen hineinkommt, ihn nicht unrein machen kann?"
Natürlich hat Jesus da nicht vom Krebs gesprochen. Aber ich muss doch sehen und erkennen, dass der Krebs nicht von mir zu trennen ist. In meinem Fall nicht einmal durch eine Operation, denn der Tumor konnte nicht operiert werden und das wäre in meinem Fall auch nicht sinnvoll gewesen, hätte mir also die Chemo nicht erspart. Also, schließe Freundschaft mit dem, was in Dir ist, akzeptiere den Tumor als Teil von Dir!

Spaßeshalber habe ich schon mal "Attacke" gesagt, wenn ein besonders agressives Chemotherapeutika gespritzt wurde, oder "auf in den Kampf" und "macht sie fertig, die Tumorzellen". Im wahrsten Sinne des Wortes bekämpft man bei der Chemo und bei der Bestrahlung sich selbst. Diesen Gedanken könnte man jetzt auch theologisch überhöhen und im Horizont der Worte Jesu bedenken. In diesem Sinne ist eine Krebsbehandlung schon auch ein Stück "Askese" und bringt so manchen Verzicht mit sich. Den Verzicht auf Wohlbefinden, den Verzicht auf Wohlgeschmack, den Verzicht auf manche Aktivität, an der man sonst seine Freude gehabt hätte. Auch den Verzicht auf etwas Gemeinschaft und Miteinander. Die Therapie schwächt die Abwehrkräfte und es wird empfohlen, auf Begegnungen mit Menschen zugunsten schriftlichen und telefonischen Austauschs zu verzichten. In dieser Zeit habe ich "facebook" schätzen gelernt, das mir doch einen gewissen Austausch mit Menschen ermöglicht hat, die ich nicht um mich haben konnte. So konnten die "grauen Zellen" etwas im Training bleiben. Bei allem, was man gegen dieses soziale Netzwerk sagen kann ... ich habe manche Aspekte schätzen gelernt. Auch wenn sie "virtuell" war, die Zuwendung mancher Menschen in der Ferne und ihre Anteilnahme tun auch durchaus gut. (Natürlich gab es auch schlechte Erfahrungen, aber die gibt es im normalen Leben auch.)

Während meiner Wiedereingliederung habe ich oft gesagt, ich sei nach einem "Sabbatjahr" wieder dabei. Es war zwar unfreiwillig, aber in gewisser Weise doch ein Jahr, in dem man schauen konnte, was wirklich wichtig im Leben ist. 

Krebs, als König der Krankheiten! In gewisser Weise hat mich das auch in den Adelsstand erhoben. Viele Menschen, von denen ich das zuvor nicht wußte, offenbarten sich mir in diesen Monaten als Krebsüberlebende oder akut Erkrankte. Ich bin von Anfang an sehr offen mit meiner Diagnose umgegangen, habe sie auch bei facebook gepostet. Insgesamt war das sehr positiv aufgenommen worden, mit der Ausnahme eines weiblichen "Trolls", die mir daraus einen Strick drehen wollte. Aber so wußten viele Leute Bescheid und konnten sich innerlich ordnen, bevor sie mir wieder begegneten und nach angemessenen Worten und Reaktionen suchen. Und ich denke, wenn man es ausspricht ist schon ein Stück vom Mythos dieser rätselhaften Krankheit zerstört. Das ist zumindest ein kleiner Anfang. 

Man sollte diese Krankheit nicht unterschätzen. In der Öffentlichkeit kommt sie zu wenig vor, ob es daran liegt, dass man sich heute lieber mit dem Schicksal irgendwelcher Adeliger, Stars und Sternchen beschäftigt (im Wartezimmer habe ich mich manches mal über den Kontrast gewundert zwischen der Welt der Schönen und Reichen in der Wartelektüre und denen die mit ganz anderen Sorgen behaftet, sich dennoch gern mit deren vermeintlich schönerem Leben ablenkten) als mit der eigenen Sterblichkeit? O.K., das wäre jetzt auch zu viel verlangt. Aber die Statistik sagt, das jeder vierte Mensch eines Tages einmal mit einer Krebsdiagnose konfrontiert wird. Jährlich erkranken eine halbe Millionen Menschen mehr daran. Glücklicherweise hat es einen großen medizinischen Fortschritt gegeben, die Diagnose Krebs ist kein Todesurteil mehr. Die Ärzte vermögen etwas zu tun.

Ein Grund mehr, offen darüber zu reden. Ich wünsche mir, dass die von Krebs betroffenen Menschen eine Gesellschaft vorfinden, die es aushält, wenn sie offen über ihre Krankheit und über ihre Ängste reden. Dass sie Menschen begegnen, die sich nicht schnell "verdrücken", wenn sie einem begegnen – aus Angst, dass ihnen die richtigen Worte fehlen. In einer Gesellschaft, wo Jugend, Schönheit, Kraft und Gesundheit eine sehr große Rolle spielen, sollte auch Raum genug für die Realitäten sein und die Erkenntnis lebendig bleiben, dass die Hochglanzmagazine die Ausnahme und nicht die Regel präsentieren. Das Leben ist weit mehr als nur Hochglanz. 

Trotz aller Möglichkeiten, die eigene Gesundheit zu fördern und trotz aller ärztlichen Kunst, stoßen wir immer wieder an Grenzen. Wer mit Krebs konfrontiert ist, der schaut auch dem eigenen Tod ins Angesicht. Und je schlechter die Prognosen sind, desto schwieriger wird es wohl sein, die notwendige Kraft zu mobilisieren und den Kampf zu beginnen. Mir ist das recht leicht gefallen, weil mein Arzt mit eine recht günstige Prognose in Aussicht gestellt hat. Aber viele andere Kranken stehen vor viel schwierigeren Entscheidungen, erst recht, wenn es nur um die blanke Hoffnung auf einige Wochen mehr auf dieser Erde geht, die durch aufreibende Therapien erkauft werden sollten. Was das bedeutet, davon habe ich bis heute nur eine Ahnung bekommen. Es gibt im Internet eine Statistik, bei der man sich zu jeder Krebsdiagnose eine "Überlebensrate" anschauen kann. Ich bin ehrlich: ich möchte es gar nicht wissen und ich vertraue doch darauf, dass der Herr mit mir noch etwas vor hat. 

Ich habe auf meinem Computer einen Ordner "Projekte", wie z.B. eine Gemeindewallfahrt nach Banneux, Material für meinen Blog, Ostern u.ä.. Als ich meine ersten Briefe zum Krebsthema zu schreiben hatte, habe ich einen Projektordner: "Krebs" angelegt. Wohl in der Hoffnung, auch dieses Projekt zu einem erfolgreichen Ende zu führen. Ich hoffe, dass ich eines Tages auch diesen Ordner als "abgeschlossen" archivieren kann. 

Beim Kinderkreuzweg kürzlich (in diesem Jahr konnte ich die österlichen Tage wieder mitfeiern, erstmals seit gut 40 Jahren mußte ich im Vorjahr einmal aussetzen), habe ich bei der Station im Ölgarten über Jesus gesprochen und über die Kraft des Gebetes. Ich habe davon erzählt, dass das Gebet hilft. Vielleicht nicht in dem Sinne, dass man bekommt, worum man bittet (Genesung). Aber meine Erfahrung ist, dass es zumindest hilft, schwierige Situationen und Zeiten durchzustehen. Mein Handy bietet mir den kompletten Text des kirchlichen Stundengebets. Wenn man genug Klarheit im Kopf hat, eine gute Möglichkeit ab und an diese Gebetsweise mit zu vollziehen. In Wartezimmern und auf Krankenliegen geht das auch ganz gut. Und mancher Psalmvers wird neu lebendig und spricht in die persönliche Lebenssituation mit seiner Klage und seiner Hoffnung auf bessere Zeiten. Aber nicht immer ist die notwendige Konzentration da, manchmal weiß man gar nicht mehr, was man gebetet hat. Aber vielleicht ist das gar nicht so schlimm, im Gebet ist ja nicht nur das Bewußtsein aktiv. Ganz neu habe ich den Rosenkranz schätzen gelernt, weil eine Reihe von "Gegrüßet seist Du Maria" gehen immer – manchmal verbunden mit einem Geheimnis, manchmal mit eigens "erfundenen" Geheimnissen, manchmal auch einfach nur wiederholt. Ich habe durchaus die Erfahrung machen dürfen, dass das hilft, auch gegen Angst und Sorgen und das es den unruhigen Geist wieder sammelt. Ähnlich hilfreich ist auch das Jesus – Gebet, das mit dem Atemrhythmus gesprochen wird, z.B. mit dem Satz: "Herr Jesus Christus – erbarme Dich meiner." – oder "Herr Jesus Christus, steh mir bei." Ganz ähnlich funktionieren einige Wiederholgesänge, die man auch still singen kann: "Aus der Tiefe rufe ich zu Dir – Herr höre meine Klagen, aus der Tiefe rufe ich zu Dir – Herr höre meine Fragen." oder "Meine Seele, meine Seele wartet auf den Herren, wie die Wächter auf den Morgen. Allein, allein bei ihm ist Erlösung." Auch in solchen einfachen Formen "ereignet" sich Gebet, manchmal vielleicht sogar mehr, als durch das Ablesen oder Aufsagen langer Gebetstexte. Wir beim Ein- und Ausatmen geschieht dabei in gewisser Weise eine Kommunikation zwischen mir und Gott, fließt vielleicht so ein wenig von seiner Ruhe und Zuversicht in mein Herz.

Jesus hat im Ölgarten nicht darum gebeten, dass Gott das Leid von der Welt nimmt, sondern um die Kraft für sich (und für seine Freunde), den bevorstehenden Kreuzweg zu bestehen, die Kraft, das Kreuz zu tragen. Ich glaube, darin steckt eine tiefe Weisheit. Manche Menschen scheinen das Gebet für unwirksam zu halten, weil sie nicht bekommen, worum sie bitten. Aber es gibt manche Beispiele, dass die Welt aus den Fugen geraten würde, wenn wir alle unsere Gebetswünsche erfüllt bekämen. Da betet der Bauer um Regen und die Kinder in den Ferien um Sonnenschein. Das geht oft nicht gut zusammen. So scheint mir, funktioniert Gebet nicht. Natürlich habe ich auch gebetet: "Lieber Gott, lass mich wieder gesund werden!" Und nicht: "Aber wenn Du willst, dass ich am Krebs sterbe, dann nehme ich das gerne an." Aber doch: "Gib mir die Kraft, das durchzustehen, was auf mich zukommt." Ich weiß es auch heute nicht, aber ich hoffe, dass Gott mir (und meiner Familie, meinen Freunden und allen, für die ich Mitverantwortung trage) genügend Kraft gibt, die nächsten Schritte zu gehen und vielleicht einst (in möglichst ferner Zukunft), die Schritte über jene Schwelle hinweg, die ich dann allein gehen muss, über den eigenen Tod hinaus in ein neues Leben bei Gott. Möge dieser mir die Tür öffnen, wenn ich diesen Schritt zu gehen habe und mich in seine Hände fallen lassen muss. Bis dahin würde ich schon noch gern das ein oder andere Projekt hier zu Ende bringen und für die Menschen da sein, für die ich ein Stück Verantwortung übernommen habe.

Hoffentlich legt mein "Mitpilger" im Himmel ein gutes Wort für mich ein!