Sonntag, 30. August 2015

Sonntagsgedanken zu Horror und Humanität

„Cayuco approached by a spanish Salvamar vessel“
von Noborder Network - Flickr: 
Dass Menschen Frikadellen mit Nägeln und Rasierklingen bestücken und in Parks verstecken oder mit Rattengift gepuderte Fleischbrocken irgendwo hinlegen, habe ich eigentlich für eines dieser modernen Märchen gehalten, die sich durch soziale Netzwerke verbreiten. Doch ein Artikel im SPIEGEL führte mir vor Augen, das dies inzwischen ein Massenphänomen ist und nicht auf psychisch gestörte Einzeltäter zurückzuführen ist, die ansonsten beispielsweise Pferde auf der Weide dahinmetzeln.

Vor einigen Jahren hat mich ein Roman sehr beschäftigt, wo schon im ersten Viertel die sehr sympathische „Hauptdarstellerin“, mit der ich mich sehr identifiziert habe, über den Haufen geschossen wurde. Es war gar nicht so einfach, den Roman dann noch zu Ende zu bringen. Neben Sach- und Fachliteratur lese ich sehr gern Krimis, aber möglichst solche, wo am Ende die Gerechtigkeit siegt und der Täter zur Strecke gebracht und seiner Strafe zugeführt wird. Verstörend sind für mich die Romane, wo „das Böse“ am Ende siegt und der bestialische Mörder davon kommt. Ob ich mein Weltbild zu revidieren habe? 

Sind solche Romane für mich vielleicht so etwas wie das homöopathische Gegengift zur Grausamkeit in unserer Welt geworden? Möchte ich mich in die wohlige Phantasiewelt zurückziehen, in der es „am Ende“ noch eine Gerechtigkeit gibt und wenn sie nur in einer gerechten Strafe gipfelt?

Solche Gedanken beschäftigen mich sehr. 71 Menschen – vermutlich aus Syrien – erstickten im Auflieger eines Lastwagens! Einen ähnlichen Lastwagen habe ich kürzlich noch über die Insel Ameland gesteuert. Was für eine Vorstellung, darin 71 Menschen zu transportieren. Ein Mädchen aus dem Lager hatte mich gefragt, ob sie nicht im „Kasten“ mal mitfahren könnte. Ich habe das natürlich abgelehnt, denn im Führerhaus bekommt man nichts davon mit, was sich hinten auf der Ladefläche abspielt. 71 Menschen starben – und niemand hat ihnen geholfen: was für ein Horror. Ich denke an die (fast) 71 Kinder aus unserem Sommerferienlager. So viele unterschiedliche Persönlichkeiten... Sie hätten sicher alle Platz gefunden in diesem Laderaum. Früher gab es schon mal solche Wetten im Ferienlagerprogramm... 

Vorgestern haben wir vom Tod der Flüchtlinge erfahren; gestern dann die Horrormeldung: es waren 71 Menschen, darunter auch Frauen und Kinder! Was für ein Schock. Heute morgen habe ich bei Spiegel Online nachgesehen. Die Topmeldung ist das nicht mehr. Stattdessen: Trump; die EU bietet Afrika Geld für die Rückführung von Flüchtlingen; Verteilung der Flüchtlinge in Europa; Heidenau; Aktien... 

Auf den ersten Blick ist das Grauen auf der LKW – Ladefläche gar nicht mehr zu finden. Und gestern gab es ja auch den Bericht über die 200 Flüchtlinge die im Mittelmeer ertranken.... Ich kann nichts dagegen tun, aber mir kommt der Absturz der „germanwings“-Maschine in den französischen Alpen in den Sinn. Gerade vor einigen Tagen hat man in Haltern ein Denkmal eingeweiht für die Schüler dieser Stadt, die dabei ums Leben kamen. Warum erregt das eine Unglück das Land für Wochen und warum nehmen wir das andere Verbrechen eher schulterzuckend und resigniert hin? Das verunsichert mich! Rational finde ich natürlich Antworten. Im Flieger aus Barcelona saß auch jemand aus Friedrichsfeld und einer aus Dinslaken, Seelsorger die ich kenne waren in Haltern um dort den Angehörigen beizustehen und auch eines der Halterner Opfer kommt mir näher, weil eine Bekannte mit ihr verwandt ist. Von den Flüchtlingen kannten wir wohl niemanden. Aber dennoch drängt sich mir der Eindruck auf, das Leben eines Flüchtlings ist weit weniger wert als das Leben eines Flugpassagiers. Und das kann ganz konkret werden; beispielsweise im Aufwand, der für die Rettung eines Menschenlebens „getrieben“ wird. 

Wer waren die Menschen, die auf der Ladefläche des Volvo – LKW in Österreich zusammengedrängt wurden? Ob wir sie jemals kennenlernen werden? Ob wir ihre Namen erfahren? Vier Kinder waren dabei, vielleicht jesidische Frauen, die den Vergewaltigungslagern des IS entronnen waren, vielleicht flüchtige Christen, unsere Schwestern und Brüder aus Mossul, deren Häuser vor einem Jahr mit dem arabischen „N“ besprüht wurden, um sie zu stigmatisieren als Anhänger des Nazareners, vielleicht ein IS – Rückkehrer, der in Syrien gemerkt hat, dass er sich nicht Freiheitskämpfern sondern todesverliebten Ideologen angeschlossen hatte oder gar ein potentieller „Schläfer“ vom IS selbst heimgeschickt, zur späteren Terror – Verwendung. Wahrscheinlich waren es aber harmlose Menschen, die aus verschiedensten Gründen der Hölle des vom Bürgerkrieg verwüsteten Syrien entkommen wollten. 

Eigenartig, dass ich gerade über die „Unmenschlichkeit“ gegenüber Hunden in diese Gedanken gestolpert bin. Aber ich glaube schon, dass es Zusammenhänge gibt. Jedenfalls macht mir die Gewaltbereitschaft in unserer Gesellschaft Sorgen. Welche Motivation steckt hinter solchen heimtückischen Attacken auf Hunde, die zumindest in Kauf nehmen, dass auch Kinder sich verletzten oder gar vergiften? Weil Hunde Lärm machen und nerven? Es hat auch schon Vorfälle gegeben, wo Spielgeräte auf Spielplätzen mit Nägeln und Rasierklingen bestückt wurden...  Und „Asylkritiker“ und Rechtsradikale schrecken nicht vor verbalen Angriffen z.B. bei Facebook und in Briefen, aber inzwischen auch nicht mehr vor Angriffen auf leere und bewohnte Gebäude zurück, ja sogar Attacken auf Menschen, die hier Asyl erhoffen sind nicht mehr tabu. 

Wir sollten aufmerksam sein, es gibt eine Eskalationsspirale die beim gedachten, gesprochenen, geschriebenen Wort beginnt.  Ich sehe darin nicht automatisch „rote Linien“ die nicht überschritten werden. Daher können wir uns nicht beruhigt zurücklehnen und die ersten Warnzeichen um des inneren Seelenfriedens willen, getrost übersehen. 

Dabei ist nicht alles „zielführend“, was Politiker und andere Meinungsmacher in diesen Tagen tun. Vielleicht können wir als Christen, als Katholiken, als Kirche, diese Fehler vermeiden. Ist es hilfreich, die Rechten und „Asylkritiker“ als Pack zu bezeichnen? In ihrem Furor gegen das Tun der etablierten Politiker wird das eher als Brandbeschleuniger. Sie greifen es begierig auf und wenden es gegen uns. Manchmal eröffnet es den Strategen die Möglichkeit, verunsicherte Menschen auf ihre Seite zu ziehen. Solche Allianzen müssen wir verhindern, auch durch sorgfältiges Argumetieren und klare Parteiname. Sicher, manchmal möchte ich mich auch einfach nur aufregen und diese Leute beschimpfen, die da verbal und wirklich auf Flüchtlinge und Andersdenkende losgehen. Aber diese Strategen sind geschickt, oft zündeln sie im Hintergrund, in Onlineforen, Publikationen und Organisationen, die auf den ersten Blick durchaus ehrenhafte Ziele zu verfolgen vorgeben. 
Manchmal ist da vom Einsatz für „unsere Tritionen“, für Ehe und Familie, für dies und das zu lesen.

Mancher Katholik, der sich mit seinem Einsatz für den Glauben und seine Werte als Rufer auf einsamer Flur (oder in der Wüste fühlt), mag da versucht sein, Gesinnungsgenossen und Partner zu entdecken. Es hilft auch nicht wirklich, den Wert der Flüchtlinge als zukünftige Arbeiter, Nachwuchsbringer oder Kulturträger über Gebühr zu beschwören. Klingt es doch allzusehr so, als müsse man eine Art "Geschäft" begründen. Die Flüchtlinge sind nicht für uns da, wir müssen unsere Probleme erst mal selber lösen. Der Wert des Flüchtlings bemißt sich nicht in seinem Wert für unsere in die Jahre gekommene Gesellschaft. 

Ich beobachte in meiner Facebook - Timeline mit Sorge, wie leichtfertig Stimmungen geteilt und verbreitet werden. Da ist die banale Frage inmitten einer Diskussion über ein Sommerfest mit und für Flüchtlinge; ob man sowas nicht auch mal für die deutschen Rentner machen könnte, die „ihr Leben lang malocht haben“ und „mit der Rente nicht rumkommen“. Da steht in manchen Post: „Ich bin nicht ausländerfeindlich...“ und dann kommt auch eigentlich nichts über Ausländer, aber über die Vielen, die im deutschen Staat zu kurz kommen. Manchmal sind sogar Bilder und Sprüche dabei, für die ich die „Liker“ eingentlich unmittelbar „entfreunden“ müßte. Aber hilft das? Oder mauern die sich dann noch mehr in ihre kleine Wagenburg ein? Der ein oder andere betont immer wieder wie gefährlich der Islam sei und dass die muslimischen Flüchtlinge doch anders zu behandeln seien als die Christen. Es wird darauf rumgeritten, dass Flüchtlinge über Smartphones verfügen oder dass die alle „jung und kräftig“ seien. 

Manchmal frage ich mich, was wohl die Brüder Josefs und sein Vater in den Augen dieser Leute waren, als sie vor dem Hunger in Israel nach Ägypten flohen. Ja sicher, Josef und Maria hätten wohl auch bei uns Asyl gefunden, auf der Flucht vor Herodes, obwohl es heute wieder Leute gibt, die ihre Flüchtgründe für nichtig halten, weil sie die Geschichte vom Kindermord von Bethlehem für „unhistorisch“ halten. Oder Abraham mit seinem Gefolge, Sara, seine vielen Knechte und Mägde. Die ganze Bibel erzählt Geschichten von Migration und Flucht. 

Als ich erstmals in Taizé war, hat mich sehr beeindruckt, dass die Brüder die Gäste mit einem „Vorschuss an Vertrauen“ begrüßten. Mit einem Bruder habe ich einmal diskutiert, ob das Vertrauen nicht auch mißbraucht worden ist (es ist), aber diese Grundhaltung möchten die Brüder nicht aufgeben. Manches Mal haben sie ihren Ärger heruntergeschluckt, z.B. wenn Taizé für die eigene religiöse Rechtfertigung mißbraucht wurde. Aber den nächsten jungen Menschen haben sie wieder vertrauensvoll aufgenommen. Wer weiß, ob es ohne diesen „Vorschuß an Vertrauen“ Taizé überhaupt noch geben würde. 

Ich denke, wir können viel davon lernen. Und Mancher, der spürt, dass man ihm vertraut, wächst über sich selbst hinaus und übernimmt seinerseits wichtige Funktionen in der Gemeinschaft. Ich denke, jeder Flüchtling hat einen Anspruch darauf, mit einem „Vorschuß an Vertrauen“ aufgenommen zu werden. Vielleicht sogar mit einem besonders großen Vorschuss, denn in der Regel hat er schwierige Zeiten hinter sich, ist selbst mißtrauisch und ängstlich, ausgeplündert und mißbraucht worden. 

Ich habe in Taizé auch erlebt, dass die Brüder konsequent werden konnten, nämlich dann, wenn jemand ihr Vertrauen mißbrauchte und gegen Regeln des Miteinanders verstieß. Auch das gehört dazu, ein Verhalten, dass das Miteinander gefährdet, muss konsequent unterbunden und sanktioniert werden. 

Aber erst einmal dürfen wir als Christen mit einem Vorschuss an Vertrauen auf die Menschen zugehen, die zu uns kommen. Ob sie nun Fremde sind, die aus einer anderen Stadt zu uns kommen oder ob es Flüchtlinge sind, die auf abenteuerlichen Wegen zu uns kommen, um hier ein sicheres und besseres Leben zu finden. Ich glaube auch, dass wir keinen Unterschied machen müssen, ob es nun Katholiken, Orthodoxe, Muslime oder Buddhisten sind, die zu uns kommen. 

Wir glauben, dass Gott uns als Mann und Frau wunderbar erschaffen hat, jeder Mensch ist sein Ebenbild, Christus hat für sie gelebt, gelitten, ist gestorben und auferstanden. Möglicherweise erreichen wir ja, dass der ein oder andere von ihnen neugierig wird, auf diesen Jesus, der uns soviel Rückhalt gibt, ihm einen „Vorschuss an Vertrauen“ zu geben. 

Schon viele haben es unternommen, mir zu beweisen, dass das Christentum eigentlich zur Kultur der Mitmenschlichkeit und des Mitgefühls nichts beigetragen hätte. Dass humanes Verhalten eben nicht „vom Himmel gefallen“ ist, sondern uns irgendwie von irgendwo in die Wiege gelegt wird. Nicht nur im Philosophieren darüber wachsen meine Zweifel daran, auch wenn ich in die Welt blicke werde ich mißtrauisch. Viele halten heute das christliche Erbe Europas für „überlebt“. Die christlichen Werte werden zu allgemein humanen Werten umdeklariert. Oder teilweise auch direkt entsorgt. Doch wo wären wir (wo kämen wir hin), wenn die Grundlage unserer Humanität nicht der Glaube an die unbedingte Würde eines jeden Menschen von der Zeugung im Mutterleib an bis zu seinem Tod wäre. Ist das nicht eine Überzeugung, die wir im gesellschaftlichen Diskurs wach zu halten haben als Christen, die Würde des Menschen, ob es um einen geifernden Nazi am Zaun vor dem Flüchtlingsheim geht, um einen radikalen Muslim am Verteilstand der „LIES“-Aktion, um einen Embryo im Mutterleib, um den erfolgreichen Unternehmer in Deutschland oder die gebrechliche alte Frau in einem Pflegeheim. 

Auf diese Weise können wir als Christen sein, werden und bleiben, was man in den Quellen von Taizé so umschreibt: die Berufung des einzelnen Christen und der Kirche sei, „Ferment der Versöhnung“ in der Gesellschaft zu sein. Dieses Wort hat mich schon seit Jahren beflügelt, schließlich ist das Ferment nur eine winzige Zutat, aber dennoch sorgt es für die Wandlung des Ganzen. Mein Beitrag ist oft nur winzig, aber Gottes Geist kann Großes damit bewirken. Das Böse erscheint übermächtig, aber letzendlich wird es nicht siegen, auch diese Hoffnung schenkt mir mein Glaube. Und eines Tages wird Gott (mich) trösten, und die Tränen trocknen. 

Das mag zwar auch etwas nach "Vertröstung" klingen, aber wir sollen die Hände eben nicht in den Schoß legen. 

Möge uns die Hoffnung auf diesen Gott die Kraft geben, angesichts des Bösen in der Welt nicht zu resignieren oder zu verzweifen oder gar selbst auf Irrwege zu geraten.

Herr Jesus Christus,
freundlich und demütig von Herzen, wir hören deinen verhaltenen Ruf «Du, folge mir nach».
An uns ergeht deine Berufung,
damit wir zusammen
ein Gleichnis der Gemeinschaft leben und, nachdem wir das Risiko
eines ganzen Lebens
auf uns genommen haben,
Ferment der Versöhnung seien
in jener unersetzlichen Gemeinschaft, der Kirche.
Gib, dass wir mutig darauf antworten, ohne im Treibsand unserer Ausflüchte zu versinken.
Komm, damit wir ganz
aus dem Atem deines Geistes leben, dem einzig Wesentlichen,
ausser dem nichts sonst uns anhält, unseren Weg neu aufzunehmen.
Von jedem,
der zusammen mit dir
zu lieben und zu leiden weiss,
verlangst du, sich selbst zurückzulassen, um dir nachzufolgen.
Wenn es nötig wird,
um mit dir zu lieben und nicht ohne dich, diesen oder jenen Zukunftsplan aufzugeben,
weil er deinem Plan zuwiderläuft, dann komm, Christus,
und öffne uns
dem unbeschwerten Vertrauen
lass uns darum wissen,
dass deine Liebe niemals vergeht
und dass dir nachfolgen bedeutet, unser Leben hinzugeben.

(aus den Quellen von Taizé)