Sonntag, 10. Mai 2020

Quid est veritas? Von sonnen und solchen Wahrheiten!

Eigentlich wollte ich nur einige Zeilen schreiben zu der Aufregung um die neueste "katholische " Protestaktion. Aber je mehr ich las, desto mehr wollte zu Papier gebracht werden. Tut mir leid... es war einfach stärker als ich... 
Meine Meinung zu Erzbischof Vigano und seinen sonderbaren Zeugnissen, Erklärungen, Auftritten und Interviews habe ich nie verborgen. Von daher verwunderte es mich auch gar nicht, dass er nach einigen Wochen der (Corona-)Abstinenz mit dem Text: „EIN AUFRUF FÜR DIE KIRCHE UND FÜR DIE WELT an Katholiken und alle Menschen guten Willens“ mal wieder lautstark an die Öffentlichkeit drängte. Es fehlen natürlich auch in diesem Text die typischen Stilmittel nicht, eine biblisch-lateinische Überschrift „Veritas liberabit vos.“ aus dem Johannesevangelium und der abschließende Hinweis auf ein „passendes“ Marienfest, das „Unserer Lieben Frau vom Rosenkranz in Pompeji“. Und es geht - natürlich - wieder ums Große und Ganze!

Also alles echter „Vigano-Style“. Aufmerken ließ allerdings, dass neben den üblichen Verdächtigen diese „Petition“ gleich von vier richtigen Kardinälen unterschrieben wurde. Wobei der erste von diesen unmittelbar zurückruderte, da er sich als Mitglied der Kurie der katholischen Weltkirche nicht in allzu politischen Fragen zu Wort melden wolle. Offenbar hatte er aus der letzten Affäre um den allzu lockeren Umgang mit einem Text des emeritierten Papstes Benedikt XVI. gelernt. In der Tat erscheint der Text der knappen Petition rein politisch und wenig spirituell unterfüttert. Zwar geht es auch um die göttlichen Rechte der Kirche und dabei recht allgemein die Nachfolge Jesu Christi und die Verantwortung der Kirche. Die biblischen Verweise erscheinen aber selbst mir als Feld-Wald-Wiesen-Theologen recht eigenwillig genutzt. Die Wahrheit, von der Christus hier spricht ist die Wahrheit des Glaubens, die Wahrheit über ihn, Jesus Christus selbst. Und er hat diesen Satz sicher nicht gesagt zur Bekräftigung recht beliebiger und umstrittener Überzeugungen. Abschließend erwähnt man noch ausgerechnet den Satz, auf dem sich das Papsttum stützt und dessen erster Teil die Kuppel des Petersdomes schmückt. Und dieses Lippenbekenntnis dann ausgerechnet aus der Feder derer, die den amtierenden Petrus allzu gern demontieren. In der Tat, sehr eigenwillig! 

Dass ausgerechnet Kardinal Müller diesen obskuren Text unterstützt, das macht mich einigermaßen ratlos. Und auch traurig! Dabei war ich nach seinem Auftritt in Bochum mit ihm schon wieder einigermaßen versöhnt. Jeder Leser meines Blogs wird sich erinnern, dass ich durchaus Sympathien für diesen Sohn eines Opel-Arbeiters aus Mainz-Finthen habe und ihn immer wieder erklärt und verteidigt habe. Aber er macht es einem wirklich von Mal zu Mal schwerer, ja unmöglich. 

Jetzt schaffte es der deutsche Kardinal mit seiner Unterschrift unter diese Petition, die im Namen die „Wahrheit“ und die „Freiheit“ trägt, auf die Titelseite der Bildzeitung. Ich habe es mir zur Gewohnheit gemacht, nicht bei den Schlagzeilen stehen zu bleiben und mich zu solchen Papieren erst dann zu äußern, wenn ich sie in Ruhe gelesen habe. Und das habe ich heute Abend gemacht. Meist nehme ich mir auch vor, die guten Inhalte selbst dann noch zu würdigen, wenn ich insgesamt der Intention eines Text widersprechen möchte und versuche dabei dem Anliegen der Verfasser möglichst gerecht zu werden. 

Das ist mir bei veritasliberabitvos – ganz ehrlich gesagt – beinahe nicht möglich. Die ersten zwei (von drei) Seiten sind vollgepackt mit unbewiesenen Behauptungen, Unterstellungen und Verdächtigungen bei denen nicht einmal Ross und Reiter benannt werden. Wir lesen von der beabsichtigten „Schaffung einer Weltregierung, die sich jeder Kontrolle entzieht“ und von Zensur, von geheimnisvollen „Formen der Kontrolle“ von Menschen und von einer „hasserfüllten technokratischen Tyrannei“, die beabsichtigt sei. Am Ende bleibt nicht ganz viel, wo ich – selbst mit gewissen Bedenken – noch ja dazu sagen könnte. 

Neben der BILD griffen nun auch weitere Zeitungen in diesen Tagen diese Story auf, fällt sie doch zusammen mit weiteren Aktionen gegen die Maßnahmen, mit denen Regierungen in aller Welt die Corona-Pandemie in den Griff bekommen möchten. Die deutliche Kritik an dieser Unterschrift (auch aus dem Kreis der Bischöfe) scheint den Kardinal in Rom inzwischen erreicht zu haben, denn heute meldet er sich via Tagespost zu Wort. 

Er habe ja „nichts weiter getan, als sich auf telefonische Anfrage hin mit dem Text als Aufruf zum sorgfältigen Umgang mit den publizistischen und politischen Nebenwirkungen, die diese furchtbare (sic! - immerhin) Pandemie in einigen nichtdemokratischen Ländern haben könne, im Allgemeinen einverstanden zu erklären. Den Text habe er dabei nicht als wissenschaftliche Analyse bewerten wollen.“

Man reibt sich die Augen!? Aus diesem berechtigten Anliegen heraus unterschreibt ein Dogmatiker, ein ehemaliger Präfekt der Glaubenskongregation, ein Kardinal der römisch-katholischen Kirche einen solchen scharfen und schrägen Text? Ein Text, wo schon im ersten Abschnitt ausdrücklich steht, dass der Unterzeichner sich ihn zu eigen mache und dem Inhalt zustimme. Ein Text, wo als Autor der Name „Vigano“ darunter steht – da müssten doch alle Alarmglocken schrillen. Ein Autor, der angeblich in einem Versteck lebt, weil aus Angst vor dem Rachedurst kirchlicher Kreise um seine körperliche Unversehrtheit fürchte.

Der Kardinal äußert sich nun erstaunt, dass er alle Kritik auf sich zieht: „Dadurch, dass ich als Kardinal irgendwie als der Hauptprominente dieses Textes angesehen wurde, hat sich die Wahrnehmung auf mich konzentriert.“ Ähm, ist das jetzt wirklich verwunderlich?

Selbst ich als kleines Rädchen im Gefüge der Kirche äußere mich nicht zu Texten, die ich nicht gelesen habe und bemühe ich um ein ausgewogenes Urteil, selbst da, wo ich nicht zustimme. Und ein Kardinal unteschreibt einen Text mit absurden Verdächtigungen und Beschuldigungen, weil er sich mit dem Autor und den Mitunterzeichnern verbunden fühlt und gewisse Besorgnis im Herzen trägt? Dazu fällt mir nichts ein, was ich als Sohn der Kirche hier aufschreiben kann. Aber ich kann Gerhard Ludwig Kardinal Müller nur dringend auffordern, diese Unterschrift umgehend zu kassieren, nicht um Schaden von der Kirche abzuwenden (der ist schon da), sondern um sich selbst, um seine Lebensleistung nicht noch weiter zu diskreditieren. Tun Sie es um Ihrer selbst willen, Herr Kardinal! Das sage ich als jemand, dem Verbundenheit in der Kirche etwas wert ist.

Warum ich mich dazu in dieser Weise äußere? Sage ich es einfach mit den Worten des Kardinals selbst (ebenfalls in der Tagespost): „Es ist falsch, immer alles zu polarisieren. Wer es besser weiß, kann doch mit sachlichen Argumenten wirkliche oder vermeintliche Irrtümer ruhig und gelassen richtig stellen.“ 

Wenn der Kardinal sagt, man solle nicht immer alles polarisieren? Dann frage ich zurück: „gibt es ernsthaft eine Position, die noch polarisierender, noch weniger ausgleichend ist, als die Formulierungen dieser Petition?“ Nun gut, vielleicht noch der Video-Blog von Ken Jebsen. 

Dennoch, ich versuche einmal dem Wunsch des Kardinals zu folgen und mit der notwendigen Ruhe und Gelassenheit diesen Appell aufzunehmen und einige Anmerkungen zum Text zu machen. Der Kardinal sagt ja, der Text würde bewusst missverstanden. „Es wird so hingestellt, als ab die Pandemie selbst erfunden wäre, um Panik zu machen, was ja absurd ist.“ 

Ja, in der Tat! Das ist absurd und es kann Kardinal Müller ja auch nicht entgangen sein. Steckte er doch in Italien mitten drin im Krisengebiet. Umsoweniger kann ich verstehen, warum er nicht aufmerksam wurde bei einem Satz wie diesem: „Das gilt umso dringlicher, je mehr Zweifel von verschiedenen Seiten an der tatsächlichen Ansteckungsgefahr, der Gefährlichkeit und der Resistenz des Virus laut werden: Viele maßgebliche Stimmen aus der Welt der Wissenschaft und der Medizin bestätigen, dass der Alarmismus wegen Covid-19 durch die Medien in keinster Weise gerechtfertigt zu sein scheint.“ (1. Seite, 2. Absatz) und gleich anschließend im 3. Absatz: "Wir haben Grund zu der Annahme – und das auf der Grundlage offizieller Daten zur Epidemie in Bezug auf die Anzahl der Todesfälle – dass es Kräfte gibt, die daran interessiert sind, in der Bevölkerung Panik zu erzeugen. Auf diese Weise wollen sie dauerhaft Formen inakzeptabler Freiheitsbegrenzung aufzwingen, die Menschen kontrollieren und ihre Bewegungen überwachen. Diese illiberalen Maßnahmen sind der beunruhigende Auftakt zur Schaffung einer Weltregierung, die sich jeder Kontrolle entzieht.“

Interessant: Konservativ – katholische Akteuere als Kämpfer für die Liberalität einer Gesellschaft. Auch eine neue Rolle. 

Ich finde in dem Artikel nichts, was die wahre Dramatik der Pandemie angemessen schildert, nirgendwo wird Mitgefühl mit den Erkrankten und Betroffenen geäußert, nirgendwo Anerkennung für alle, die gegen die Krankheit kämpfen. Hier ist nur die Rede von überzogenen Maßnahmen und nicht eine Silbe darüber, dass es ja auch zahlreiche sinnvolle, notwendige und wichtige Einschränkungen gibt, die absolut richtig und lebensrettend waren und sind. 

Sowas ist Wasser auf die Mühlen der Leute, die noch immer – wider alle wissenschaftlichen Erkenntnisse – die Covid-19-Erkrankung als eine Art milde Grippe verharmlosen. 

Unter dem Strich bedeuten doch auch diese „wahren“ Aussagen: „Es ist alles nicht so schlimm, die Maßnahmen sind überzogen, denn es gibt einen geheimen Plan hinter den Maßnahmen, gesteuert von Kräften, die man als „supranationale Einheiten“ beschreibt.  Wenn es so etwas gäbe, wenn die Maßnahmen nicht sachlich und wissenschaftlich im Kampf gegen das Virus begründet werden können, dann muss man konkret und gut begründet die Stimme dagegen erheben. Aber derart pauschal und undifferenziert – wen soll das eigentlich überzeugen? Da ist ja selbst manche Netzdiskussion auf einer anderen wissenschaftlich-argumentativen Höhe. Und da sollte man sich auch nicht mit dem Verweis auf eine persönliche Sorge um gewisse Fehlentwicklungen herausreden. Und seinen Kritikern vorwerfen, es ginge denen um „Empörungskapital gegen ihre vermeintlichen Gegner“. Das finde ich ... ... schwach!

Überhaupt werden in den drei Seiten des Papiers nirgendwo einmal Verantwortliche benannt. Es wird nicht gesagt, wer denn eigentlich die Stimmen sind, die wissenschaftlich begründete Zweifel an der Gefährlichkeit des Virus äußerten. Soll damit etwa Dr. Wodarg gemeint sein oder ein anderer wissenschaftlicher Dissident, Leute die ihre Thesen zwar unablässig wiederholen, aber keineswegs belegen können?

Aber, jetzt mal der Reihe nach noch weitere Anmerkungen zu weiteren Formulierungen, die mir besonders aufgefallen sind: 

Im ersten Absatz heißt es: „Die Fakten haben gezeigt, dass unter dem Vorwand der Covid-19-Epidemie in vielen Fällen unveräußerliche Rechte der Bürger verletzt und ihre Grundfreiheiten unverhältnismäßig und ungerechtfertigt eingeschränkt werden, einschließlich des Rechts auf Religionsfreiheit, der freien Meinungsäußerung und der Bewegungsfreiheit.“ Belegt wird diese Behauptung keineswegs. Darf man das dann einfach so locker raushauen, mit dem Hinweis darauf, Kritiker könnten sich ja ruhig und gelassen dazu zu Wort melden. Wo das doch genau hinein fällt in eine ähnliche Argumentation von Kreisen, die sich zu Tausenden, ohne Einhaltung der schlichtesten Hygiene- und Abstandsregeln zu Demonstrationen zusammen finden und eine weitere Verbreitung der Erkrankung billigend oder schlicht aus Dummheit in Kauf nehmen. Also quasi „Corona-Party“ heavy Style!

Natürlich müssen wir wachsam sein, dass nicht Grundrechte und Grundfreiheiten unter dem Vorwand der Pandemiebekämpfung dauerhaft eingeschränkt werden. Aber das hätte man auch fordern können, ohne ganz allgemein und ohne jeglichen Beleg zu behaupten, dies geschehe überall und massenhaft und gesteuert. Und wenn undemokratische Regierungen gemeint gewesen wären, wie Kardinal Müller nun anmerkt, dann hätte man auch das sagen sollen. 

Sicher wurden auch viele Fehler gemacht. Und es gab schlampiges und übereifriges behördliches Handeln. Aber statt grenzenloser Kritik bin ich da eher bei dem bemerkenswerten Satz des deutschen Gesundheitsministers Jens Spahn: „Wir werden einander wahrscheinlich viel verzeihen müssen.“ Das klingt für mich durchaus nach Evangelium. Und mehr nach Evangelium als fast das ganze veritasliberabitvos.

Vielleicht an dieser Stelle noch mal ganz deutlich: Ja, ich glaube auch, dass in den letzten Wochen viele Fehler gemacht wurden. Und ich vermisse auch deutliche und empathische Stellungnahmen der Kirche zu kritischen Maßnahmen (über die Verteidigung der Religions- bzw. Kirchenfreiheiten hinaus). Wer spricht klar für die Rechte der Kinder und der Alten? Wer äußert Kritik an den "Krankheiten" unserer Wirtschaftsordnung... Aber zurück zur Petition, denn darum soll es hier gehen: 

Dann folgt im Text der meist kritisierte Absatz mit den „Kräften“, die Panik erzeugen wollen und Freiheitsbegrenzung und umfassende Personenkontrolle wünschen. Das ist alles so allgemein gehalten, dass man hier sicher auch konkrete Beispiele finden könnte. Aber wenn Vigano z.B. Victor Orban kritisieren wollte, warum nennt er diesen dann nicht oder wählt einige Beispiele um die Behauptung zu belegen? Im folgenden Absatz wird dann plötzlich vor den wirtschaftlichen Folgen gewarnt und vor der Einmischung fremder Mächte. Ja was denn nun? Weltregierung oder Souveränität der Vaterländer?

Anders als von Manchen suggeriert, hat ja die Corona-Krise zu einer Abschottung der einzelnen Ländern und zu einer Marginalisierung von internationalen Organisationen wie der europäischen Union und der Uno geführt. Und hier hätte man doch auch auf wirkliche Probleme hinweisen können, die die Krise aufgedeckt hat, z.B. die mangelnde Solidarität der Länder untereinander und die fehlende Abstimmung der Regierungen. 

Es wäre sehr hilfreich, wenn die Unterzeichner endlich mal die Katze aus dem Sack lassen, wer denn nun die Weltregierung sein soll. So kann jeder das Wort mit einem eigenen Inhalt ersetzten und sich auf Bischöfe und Kardinäle berufen, irgendwas zwischen WHO, UNO, Bill Gates, Soros, Freimaurern, Juden... Es ist alles möglich und denkbar.

Als wirkliche weltweite Organisation fällt mir vor allem die Kirche selbst ein, mit ihrem Netz an Gemeinden und der vielfachen Vernetzung in supranationalen Organisationen, ihre Sonderrolle durch den Staat der Vatikanstadt und die vielen Nuntiaturen und die päpstliche Diplomatie. Analoge Vorwürfe kennt man hier vor allem aus dem Kreis der organisierten Atheisten.

Am Ende ersten Seite wird das Wort „Social Engineering“ eingeführt. Gemeint sind damit Methoden der zwischenmenschlichen Beeinflussungen mit dem Ziel, bei Personen bestimmte Verhaltensweisen hervorzurufen, Ich fürchte, hier soll ein neuer Popanz aufgebaut werden, wo man ähnlich wie beim Stichwort „Gender“ plötzlich auch Stimmung gegen sehr begründete und sinnvolle Maßnahmen macht, wie z.B. bezüglich der Gleichberechtigung von Männern und Frauen. Wir kennen – gerade in der Pandemiezeit – viele Versuche, Menschen zu einem sinnvollen Verhalten anzuhalten und entsprechende Kampagnen über die Medien und Werbemaßnahmen zu fördern. Auch das ist „Social Engineering“ - nach dieser Definition. 

Die Distanzregeln, die Menschen voneinander auf Abstand halten oder Kontaktmöglichkeiten beschränken, sind für jedermann eine schwere Belastung. In der Seelsorge hört man täglich solche Geschichten. Diese Maßnahmen sind schmerzhaft und ich sehe niemanden, der nicht an einer Aufhebung dieser Regeln interessiert ist. Aber sie dienen ja nicht der Unterdrückung sondern dem Schutz des Einzelnen. Wenn aber Kirchenverantwortliche diese Maßnahmen als „Kriminalisierung persönlicher und sozialer Beziehungen“ bezeichnen, dann sind alle Grenzen sinnvoller und konstruktiver Kritik überschritten. Wenn eine „Bestrafung schwacher und älterer Menschen“ beklagt wird, die man zur „schmerzhaften Trennungen von Angehörigen“ zwinge, dann frage ich mich, ob die Realität dieser Situation so angemessen beschrieben wird. Natürlich müssen wir uns als Kirche dieser Menschen annehmen und für sie einstehen. Wir müssen auch widersprechen, wenn – wie einzelne Stimmen es ja zugunsten der Wirtschaft und der Jungen fordern – Risikopersonen unangemessen isoliert und am gesellschaftlichen Leben gehindert werden. Aber den Eindruck zu vermitteln, es ginge um ein größeres Projekt „mit dem die Isolation vn Personen gefördert wird, um diese besser manipulieren und kontrollieren“ zu können, dann kann man das nicht anders als als Verschwörungstheorie beschreiben. Wem soll so etwas nutzen? Selbst eine echte Diktatur kann an einer solchen pauschalen Strategie keinerlei Interesse haben, da sie sehr teuer wäre und zudem auch unabsehbare Folgekosten verursachte, ohne einen klar beschriebenen Nutzen zu haben. Wem soll das ernsthaft nutzen?

Dann wird der Bereich wirtschaftlicher Interessen angesprochen, besonders mit Blick auf die Medizinindustrie. Hier wird von kostengünstigen Arzneimitteln geschrieben, die sich als wirksam erwiesen hätten. Diese sollten nun geächtet werden, um Behandlungen und Impfstoffen den Vorrang einzuräumen, die Pharmaunternehmen höhere Gewinne garantierten. Derlei Phänomene sind ja durchaus bekannt. Schade, dass die Kirchenleute nicht schon lange dagegen ihre Stimme erheben, wenn sie denn ernsthafte Belege für solche Praktiken vorlegen könnten. Bei einigen Krebstherapien scheint mir dies mit Recht diskussionswürdig oder vielleicht auch bei gewissen Blutverdünnern. Andererseits ist es ja auch so, dass die geltende Wirtschaftsordnung und das Trimmen der Medizin auf Effizienz und strikte Wirtschaftlichkeit solche Verhaltensmuster von Pharmaunternehmen fördern. Auch hier wäre ein Warnruf der Kirchen sicher angemessen. Ob das aber in den aktuellen Kontext gehört, wo bisher keine preiswerten und wirksamen Medikamente bekannt sind und überall mit Hochdruck nach Medikamenten und Impfstoffen gesucht wird... Und man auf die Innovationskraft der Universitäten und Unternehmen angewiesen ist. Das möchte ich durchaus bezweifeln. Vielleicht kann Herr Vigano ja mal die Namen der Medikamente nennen. 

In diesem Kontext wäre auch das Thema Gerechtigkeit in der medizinischen Versorgung der Menschen in armen Ländern oder mit schlechter Gesundheitsversorgung ein Thema, das ich in der Petition vermisse. Und richtig mutig wäre es gewesen, hätte Erzbischof Vigano seinen amerikanischen Freunden eine gerechte Krankenversicherung empfohlen. 

Auch der Vorwurf, „Material von abgetriebenen Föten“ würde für die Herstellung von Impfstoffen verwendet, ist ja im Zusammenhang mit dem Kampf gegen Covid-19 eher an den Haaren herbei gezogen.  Der Hintergrund ist wohl der, dass einige wenige Impfstoffe mit Hilfe von immer weiter vermehrten Zelllinien produziert werden, die im Ursprung in den 60er Jahren einmalig aus den Stammzellen zweier abgetriebener Babys gewonnen wurden. Das ist sicher ein moralisches Problem, so wie sich in der modernen Medizin immer wieder Probleme dieser Art stellen. Auch hier sehe ich die Kirche gefordert, in den ethischen Entscheidungen ihre Stimme vernehmbar und wirkungsvoll einzubringen. Aber dann wirklich auf der Höhe der Wissenschaft und nicht so, dass man suggeriert, hier würde aus menschlichen Föten unmittelbar ein Impfstoff gegen Covid-19 produziert. 

Für die nächsten Absätze möchte ich mich eigentlich zurück halten. Ich würde gern etwas dazu sagen, wenn die Autoren des Textes wenigstens im Ansatz Belege für die unklaren Absichten supranationaler Einheiten und deren wirklicher Einflussnahme genannt würden. Wer soll das sein und wo haben diese „Einheiten“ konkret und nachweislich Einfluss auf politische Entscheidungen? Inwieweit muss ausgerechnet die Kirche im Sinne der menschlichen Freiheit gegen eine verpflichtende Impfung aufstehen? Warum soll die Kirche überhaupt gegen eine staatliche Impfpflicht sein? Und wenn diese „Kirche der Freiheit“ sich in dieser Weise einlässt, kann sie dann doch nicht gleichzeitig das „Social Engineering“ ablehnen, mit dem eine Regierung versuchen könnte, ihre Bevölkerung von der Sinnhaftigkeit einer Impfung gegen Pocken, Tetanus und Diphterie zu überzeugen. 

Wer ist es denn, der „eine Politik der drastischen Bevölkerungsreduzierung“ erfolgt? Ja, es gibt durchaus Leute, die sagen, dass wir Überbevölkerung haben und Maßnahmen dagegen fördern. Sie wollen ja auch keine „Reduzierung der Bevölkerung“ sondern deren Wachstum verlangsamen. Sie haben ja auch durchaus Argumente auf ihrer Seite. Aber man muss ihnen auch argumentativ begegnen und muss vor allem gegen solche Maßnahmen kämpfen, die den Wert des Lebens in einem Land geringer schätzen als in einem anderen Land. Ich denke da z.B. an Zwangssterilisierungen oder eher verdeckt durchgeführte Maßnahmen zur Reduzierung der Kinderzahl einzelner Bevölkerungsgruppen. In Guatemala z.B. war das ein Thema, um die Kinderzahl der Indigenas zu senken. Von daher hat die Klage sicher einen realen Hintergrund, aber letztlich reden wir hier über Gedanken und Argumente und nicht über „supranationale Einheiten“. Es sei denn, man meint mit diesen diffusen Beschreibungen z.B. die Gates-Stiftung oder gewissen NGO's die weltanschaulichen oder persönlichen Überzeugungen folgen und versuchen, ihre Überzeugungen in die politische Debatte einzubringen. Aber auch hier ist die katholische Kirche ein ebenso machtvoller Player für die eigenen Standpunkte und nutzt die gleichen Mechanismen, bis hin zur Forderung „strafrechtlicher Immunität“ und eine überstaatliche Rolle für manche ihrer Vertreter. 

Auch in der Frage, was die Autoren des Texts mit „subtiler Form der Diktatur“ genau meinen, hätte ich gern eine umfassendere Antwort gewusst. Sonst klingt dieser Abschnitt auch etwas nach den rechtspopulistischen Schreihälsen, die in Westeuropa lautstark beklagen, was sie alles „nicht sagen dürfen“, ohne dass diese Behauptung durch Inhaftierungen, Verhaftungen oder Nichteinladung zu Talkshows belegt würde. Im Gegenteil, gehen doch aktuell inmitten der Krise die Leute vom Widerstand 2020 in Massenversammlungen auf die Straße. Da wo 50 Leute gemeldet sind dürfen dann in aller Ruhe 3.000 Leute aufeinander hocken, ohne dass die Polizei sie hindert. Und wer Björn Höcke für einen überhitzten Provinzpolitiker und rechtsextremen Schwadronierer hält, auch er wird zuverlässig auf allen Nachrichtenkanälen dennoch mit dessen Meinungen versorgt. Und kann sich problemlos seine Bücher ins Haus schicken lassen. Inzwischen ist ja aus solchen Sprüchen sogar eine effiziente Werbestrategie geworden. Wer möchte, dass alle Welt sein Youtube-Video schaut, muss nur behaupten, es sei schon zweimal gelöscht worden und man solle es fix gucken, bevor das wieder geschieht.

Am Ende der 2. Seite kommt dann der Abschnitt mit den Themen, mit dem vermutlich manche Kirchenleute erst angelockt wurden und zu denen sich auch Kardinal Müller schon früher deutlich zu Wort gemeldet hatte. Die Kirche beanspruche mit Nachdruck „Autonomie in der Leitung, im Gottesdienst und in der Verkündigung.“ Ich glaube in Deutschland firmiert das unter Religionsfreiheit. Auch hierzu ist ja u.a. vom Verfassungsgericht ausführlich etwas gesagt worden in Bezug auf die „Gottesdienstverbote“. Soweit ich das in NRW beobachten konnte, haben die Kirchen dort immer betont, dass sie freiwillig auf Gottesdienste verzichten. Sicher auch, um einem Verbot und einem deutlichen Eingriff in die Religionsfreiheit zuvor zu kommen. Daher hat man mit den Behörden und der Politik einen Konsens gesucht. Alles, was dazu zu sagen ist, ist ja – auch hier auf diesem Blog – schon ausführlich diskutiert worden. Auch die Kirchenvertreter haben sich nicht beklagt. Im weltweiten Kontext mag es vorgekommen sein, dass der Staat deutlicher in die Rechte der Religion eingegriffen hat. Aber insgesamt kann ich nachvollziehen, dass Kardinal Müller diesen Absatz und den Folgenden auf S. 3 aus ganzem Herzen unterstützt.

Beim ersten Absatz auf S 3 wäre ich auch noch mit dabei, selbst wenn ich es anders formulieren würde. 

Aber dann wird es wieder strange: 
Entweder – oder! Es gibt nur „mit Christus“ oder „gegen Christus“. „Das Gute“ sei viel mächtiger als „die Welt“. Man kämpfe gegen einen „unsichtbaren Feind“ und gegen eine „hasserfüllte technokratische Tyrannei“, die unter dem Vorwand eines Virus „Jahrhunderte christlicher Zivilisation“ auslöschen wolle? Es lohnt sich in diesem Zusammenhang auch mal Markus 9,40 nachzuschlagen. Da wird die Grenzziehung dann doch unschärfer. 

Ich frage mich ernsthaft, in welcher Welt der Verfasser lebt. Ich fürchte, es ist die Welt eines Menschen, der sich von dunklen Mächten bedroht, in ein Versteck zurückgezogen hat und spiegelt damit die Lebenswelt und das Denken eines Erzbischof Vigano. „Wenn dies der Plan ist, mit Hilfe dessen uns die Mächtigen der Erde beugen wollen...“ 

Bitte, liebe Herren Kardinäle, Bischöfe, Priester … und wer noch alles diesen Text unterstützt. Um wen geht es, von wem reden Sie? Was wollen Sie?

Letztlich kommt mir bei den weiteren abschließenden und etwas theologischeren Worten der Petition eine schon alte Geschichte des großartigen Clowns und Musikers Herman van Veen in den Sinn. Er nennt sie „Eine Geschichte von Gott“. Sie blickt sehr kritisch auf die Kirche und ich habe in seinen Worten immer eine Art liebevollen Spiegel gesehen, einen Beichtspiegel. In der Geschichte kommt Gott einmal wieder auf die Erde und wundert sich über „seine“ Kirche. Er spricht einen der Menschen an, die für seine Kirche zuständig sind und bittet um Aufklärung. 

„Komm mal her! Was ist das hier" Was ist das hier!“
„Das ist eine Kirche, mein Freund. Das ist das Haus Gottes." 
"Aha ... wenn das hier das Haus Gottes ist, Junge, warum blühen hier dann keine Blumen, warum strömt dann hier kein Wasser und warum scheint dann hier die Sonne nicht, Bürschchen?!" 
"....das weiß ich nicht." 
"Kommen hier viele Menschen her, Knabe?" 
"Es geht in letzter Zeit etwas zurück." 
"Und woher kommt das Deiner Meinung nach? Oder hast Du keine Meinung?" 
"Es ist der Teufel. Der Teufel ist in die Menschen gefahren. Die Menschen denken heutzutage, dass sie selbst Gott sind und sitzen lieber auf ihrem Hintern in der Sonne." 
Und Gott lief fröhlich pfeifend aus Kirche auf den Platz. Da sah er auf einer Bank einen kleinen Kerl in der Sonne sitzen. Und Gott schob sich neben das Männlein, schlug die Beine übereinander und sagte: ".... Kollege!" 

„Es ist der Teufel, es ist eine finstere Macht, die nicht zu kontrollieren ist...“ Nicht, dass ich nicht an die Existenz des Bösen glaube. Aber wir sollten es uns nicht zu leicht machen und den Teufel – die hasserfüllte technokratische Tyrannei – die supranationalen Einheiten – die zweifelhaften Wirtschaftsinteressen – die subtilen Formen der Diktatur – die Weltregierung, die sich jeder Kontrolle entziehe – allzu locker im Munde führen. Und uns auf der Seite des Guten wähnen. 

Wir sollten mit guten Gründen für das Evangelium einstehen, im Wissen, dass „Pforten der Unterwelt werden sie nicht überwältigen“ mutig und gut begründet für den Menschen, für seine Freiheit, für seine Verantwortung, für Solidarität und Gemeinwohl, für brüderliche Nächstenliebe (um einige positive Stichworte aufzugreifen) eintreten. 

Die Corona-Krise legt in der Tat manche Schwächen offen. Sie stellt Fragen nach Gerechtigkeit und Kooperation, sie stellt die Wirtschaftsordnung in Frage, sie fragt nach den Grenzen des Wachstums, den Grenzen der Globalisierung, sie spitzt die Probleme der Umweltzerstörung weiter zu. Hier ist die Stimme der Kirche gefragt.

Aber das dann mit wohl begründeten Worten und mit engagiertem Handeln. So dass wir als einfache Gläubige morgens die Zeitung aufschlagen können (und wenn es die Bildzeitung wäre) und nach der Lektüre stolz und zufrieden sagen könne: „Wie schön, dass ich katholisch bin.“ Das ist meine Kirche! An der Seite der Menschen! Streitbar für die Armen, Schwachen und Unterdrückten! Mutig den Regierenden und den Reichen den Spiegel vorhalten! Niemals auf den eigenen Vorteil aus! Mit großartigen Argumenten und selbstlosen Mitarbeitern und Geistlichen! Katholisch- und stolz darauf. Ein Traum!

Ich will ihn nicht aufgeben!

Hier noch einige Anmerkungen von Josef Bordat, der sich nicht "interessierten kirchlichen Kreisen angehört". Mag auch Kritik von Joachim Frank den Kardinal kalt lassen, Bordat sollte ihn inne halten lassen:
https://jobosblog.wordpress.com/2020/05/10/noch-ein-bisschen-groesseres-armutszeugnis/