Mittwoch, 17. Februar 2016

Ein Paukenschlag aus Münster!

Es war ein „Paukenschlag“, als am Valentinstag einer der profiliertesten Münsteraner Pfarrer seinen Rücktritt vom Pfarramt und eine Auszeit in einem Kloster ankündigte. Er tat das mit einer Erklärung, die mich (und manche andere) sehr beschäftigt. Dass ausgerechnet dieser, kunstsinnige, kluge, nachdenkliche, engagierte Pfarrer, der mit vielen Ideen und Projekten sicher zur Avantgarde der kath. Kirche im Bistum Münster gehört, für sich selbst keine Perspektive mehr im „klassischen Pfarramt“ sieht, diese Tatsache stellt ja auch die Frage an mich (und alle Kollegen): „Warum machst Du eigentlich noch weiter?“ 

Doch zunächst einmal die Zitate aus der langen Erklärung von Pfarrer Frings, die mich besonders angerührt haben: 

„...an diesem Wochenende habe ich den Gemeindemitgliedern mitgeteilt, dass ich auf meinen Wunsch hin … als Pfarrer entpflichtet und als Priester beurlaubt werde. Ich werde weiterhin Priester bleiben... 
An allen Orten, an denen ich als Priester wirken konnte, war ich so, dass ich auf nichts anderes gewartet habe. Innere und äußere Umstände führten zu einer hohen Zufriedenheit. … Aber es stellt sich mir verstärkt die Frage: Wofür lebe ich?
... Solange ich lebe, kenne ich nur eine schwindende Zahl bei den in der Kirche Aktiven und eine wachsende bei den Kirchenaustritten. Die Reaktionen auf dieses Phänomen sind bei Kirchenleitung, Gemeindeleitung und in den Gemeindegremien sehr ähnlich. Gemeinden, Seminare und Klöster werden geschlossen oder zusammengelegt, um dann meist das Bisherige weiterzumachen. 
Als ich 1980 mit dem Studium begann hieß es, die Nachwuchszahlen gehen bergauf. ... Inzwischen steuern die Eintrittszahlen in den Seminaren mancherorts auf eine Null-Linie zu. Wir gestalten die Zukunft von Kirche in den Gemeinden immer noch nach dem Modell der Vergangenheit. ...
Es besteht bei den Antworten auf die Fragen, die sich uns in dieser Umbruchszeit stellen, kein Konsens. Hinsichtlich des Pastoralplans für unsere Gemeinde kam auf die Frage „Was wünschen sie sich für die Zukunft?“ auch die Antwort „Das alles wieder so ist wie vor 30 Jahren“. Diese Antwort halte ich für die ehrlichste, die mehrheitsfähigste und eine, die ich sogar nachvollziehen kann. Und doch ist es diejenige, deren Wunsch am unwahrscheinlichsten in Erfüllung gehen wird. In was für einem Dilemma befinden wir uns, wenn Wunsch und Wirklichkeit so eklatant im Widerspruch stehen?
Unsere zahlreichen Kindergärten und Schulen werden als Chance der Glaubensverkündigung gesehen. Ist diese Hoffnung in den letzten Jahrzehnten in Erfüllung gegangen? ... Wurden die Erwartungen der letzten Jahrzehnte erfüllt, als wir auf noch mehr Erzieher/innen zurückgreifen konnten, die eine Glaubenspraxis kannten und lebten?
Was sich unter dem Begriff ´Caritas´ herausgebildet hat, ließ der Kirche lange Zeit höchsten Respekt zukommen. Das soziale Engagement war eine gute Begründung für eine Kirchenmitgliedschaft. Die letzten Umfragen haben gezeigt, dass die Menschen Caritas und Kirche kaum mehr zusammen sehen. ...
... Entwickelten sich die Modelle der begleitenden Katechese in einer Zeit, in der sie als Ergänzung zum Besuch der Sonntagsmesse verstanden wurden, so stehen sie heute an ihrer Stelle. Begründet wird das Festhalten an diesem Modell mit der Hoffnung, dass die Saat eines Tages aufgehen werde. Die erste Generation, von der man das erhoffte, kommt ins Rentenalter und tritt vermehrt aus der Kirche aus, wie die letzten Austrittszahlen zeigten. 
Die Glaubenspraxis der Menschen hat sich geändert, aber das Kirche sich an dieser Stelle nicht verändern darf, da sind sich Fernstehende und Verantwortliche einig wie selten. Die Einen wollen nicht die Tradition und die Anderen nicht die Hoffnung aufgeben. 
Wir haben den Satz ´Die Menschen da abzuholen wo sie stehen´ gelernt umzusetzen. Jetzt müssten wir noch den Umstand akzeptieren, dass immer mehr Menschen gar nicht dahin wollen, wo wir sie hinführen möchten, nämlich zur Mitfeier dieser Sakramente. 
...Ich bin kein Verfechter des ´heiligen Restes´, wohl aber eines mutigen Abschiednehmens vom Gewohnten, auch wenn es Ärger gibt. Ermöglichen wir allen alles, aber sagen wir auch, was das kostet, und zwar nicht nur an Kirchensteuern, sondern auch im Leben, am Werktag wie am Sonntag. Uns kann das Mitglieder kosten, aber das tut die jetzige Praxis auch. Vielleicht gewinnen wir aber auch Menschen und an Glaubwürdigkeit. Das Risiko ist es mir wert.
Ich feiere mit Freude die Messe, am Sonntag wie am Werktag. … Dennoch wächst der Spagat zwischen den immer seltener im Leben der Menschen stattfindenden Gottesdienste (Hochzeit, Taufe, Erstkommunion, Firmung, Beerdigung, Jubiläum, Weihnachten) und der inneren Gestimmtheit dafür, dem Grundgerüst, das man zum Mitfeiern vielleicht braucht. ...
Foren, Synoden, Umfragen, Erhebungen, Untersuchungen, Dialoge, Beratungen, Pläne – all das sind notwendige Aktionen angesichts der aktuellen Probleme. Viele Gespräche und Überlegungen bringen Erkenntnisgewinn. Dennoch fällt die Bilanz ernüchternd aus, hat sich doch am Bedeutungsverlust vom in der Kirche gelebten Glauben nichts geändert...
Wir sind Teil einer gesellschaftlichen Entwicklung, auf die wir nur einen marginalen Einfluss haben. ...
Seit der Gemeinschaft der Apostel hat es nie eine ideale Gemeinschaft in der Nachfolge Jesu gegeben. Es ist jedoch ein Unterschied, ob diese Gemeinschaft sich ausbreitet, Gemeinden gründet, Kirchen baut und Gesellschaft beeinflusst oder ob man Zeit seines Lebens einen Konsolidierungsprozess erfährt, in dem gleichzeitig die Servicementalität wächst. Ich erlebe einen ununterbrochenen Rückzug. Alle Korrekturen sind schon mit einem Verfallsdatum oder Fragezeichen versehen und mir fällt es zunehmend schwer, mich in diesem Kontext zu engagieren. ...
Alles bisher Gesagte klingt nach Veränderung und Entschiedenheit. Dies ist aber etwas, das man nicht von Anderen erwarten sollte - vielleicht nicht einmal von einer so alten und noch immer in Zahlen großen Kirche wie der Unsrigen. Erwarten darf man das letztlich nur von sich selber!
Mir ist die Perspektive abhanden gekommen, angesichts der Entwicklung und der Aussichten. ... Die Strukturveränderungen habe ich aus Überzeugung mitgetragen. Eine Erneuerung habe ich davon nicht erwartet und würde ich auch von Veränderungen wie z.B. bei der Zulassung zum Priesteramt nicht erwarten.
Es ist auch nicht so, als ob ich wüsste, wie der Weg in die Zukunft für Kirche und Gemeinden auszusehen hat. ... Ich werde gehen und suchen. 
Mit aller Klarheit und Deutlichkeit sage ich am Ende dieser Stellungnahme, dass ich niemandem einen Vorwurf mache. ...
Meine Bewunderung gilt allen, die in den Gemeinden in dieser Zeit aktiv bleiben. ...“

Diese Worte gehen mir in dieser Woche nach und sie werden auch den Priesterrat im Bistum Münster aktuell beschäftigt haben, das Gremium, dessen Sprecher Pfr. Frings ist (war). Wenn ich die Reaktionen richtig mitbekomme: Die Erklärung ist weitgehend mit Respekt aufgenommen worden und zwar quer durch das Spektrum der Kirche. Kaum eine hämische oder spöttische Reaktion (mal abgesehen von der dämlichen Zuspitzung auf Helene Fischer in Focus und BILD). Etwas schmunzeln musste ich über einige unentwegte Tradis, die natürlich gleich die richtige Antwort parat hatten: nicht 30 Jahre zurück ist der richtige Schritt, nein es müssen mindestens 60 sein, also zurück zur „Tridentinischen Messe“ und zur alten Kirchenzucht! Aber so einfach kann die Antwort nicht sein, denn dann sähe man durchaus blühende Kircheninseln dort, wo die Vergangenheit konserviert wird. Ja, liebe Tradi's – ich sehe wohl, dass es durchaus muntere altrituelle Gemeinden und Aktivitäten gibt. Aber um den Preis eines Aderlasses der Feld-/Wald- und Wiesengemeinden. Es gibt auch andernorts beachtenswerte Aufbrüche, aber von einem Weg für die ganze Kirche, von einem Aufbruch in diese oder jene Richtung ist noch weit und breit nichts zu sehen. Aber kann dieses „zurück“ zur „guten alten Zeit“ ein Weg in die Zukunft sein, auch wenn er hier und da Erfolge zeitigt?

Alles klingt nach „Veränderung und Entschiedenheit“, wie Pfr. Frings zu Recht feststellt! Doch selbst in seiner eigenen Gemeinde, mit mutigen Aufbrüchen (z.B. in der Erstkommunionvorbereitung) kommt manches Ermunternde und manches Enttäuschende dabei rum. Die Vision, das Aufblühen einer neuen Glaubenskultur ist kaum erkennbar. Es wächst noch manches Unkraut unter den Getreidehalmen. Und ich fürchte, wir können nicht viel mehr tun, als dieses Durcheinander geduldig zu ertragen, denn wer das Unkraut ausrauft, wird auch die Ähren schädigen. 

Es stellt sich die Frage nach einer Kirchenvision. Derer gibt es sicher die ein oder andere. Aber bis heute keine gemeinsame Vision, eine, die Getaufte, Gefirmte, Beauftragte und Geweihte zu einer Jüngerschaft zusammenschweißt. Kardinal Woelki schreibt in seinem aktuellen Hirtenwort zur Fastenzeit 2016: „Doch ohne eine gemeinsame Vision sind weder Aufbruch noch Weitergehen möglich. Neue Wege entwickeln nur dann eine Überzeugungskraft, wenn sie von einer Vision geleitet sind, die möglichst viele Menschen teilen.“ Der Kölner Kardinal verweist auf Abraham, der auf Gottes Ruf hin ins Ungewisse aufbricht, und stellt fest: „Auch heute spüren wir, dass die augenblickliche Form unseres Kirche-Seins vielerorts nicht mehr passt. Wir sehen das unter anderem daran, dass von ihr nur noch eher selten eine wirklich prophetische Kraft ausgeht, dass sie unseren eigenen Glauben nicht mehr ausreichend nährt und uns darum kaum noch missionarisch und evangelisierend sein lässt.“ Eine bemerkenswerte und schonungslose Analyse. 

Spannend ist, dass ein nicht unwesentlicher Teil dieses lesenswerten Hirtenwortes sich dem Einsatz für das Priestertum widmet. „Grundlegend ist dabei die Rückbesinnung auf die je eigene Berufung. Denn es erfordert tiefes Gottvertrauen, gewohnte Dinge zu lassen oder Ungewohntes zu tun.“ Bei aller Sympathie für die an und für sich völlig richtigen Gedanken; doch hier möchte ich widersprechen. Grundlegend ist die Besinnung auf die gemeinsame Berufung, Jünger Jesu Christi zu sein, in unterschiedlichen Diensten, Ämtern und Verantwortlichkeiten. Vermutlich mühen wir uns heute noch allzu sehr um Struktur und Hierarchie der Kirche.  

Ich bin keinesfalls dafür, das Priesteramt zu nivellieren. Wir brauchen Priester, unbedingt! Aber zur Zeit ist das priesterliche Charisma der Leitung mir zu stark ein „Charisma“ der Bestimmung und der Allverantwortlichkeit. Das frisst an der priesterlichen Berufung. Ein Priester muss nicht die Strippen ziehen beim Bau eines Pfarrheims. Er muss auch nicht Chef von Hunderten von Mitarbeitern sein. Es baut die Kirche nicht auf, wenn Priester und Bischöfe für jedes noch so weltliche Detail „Letztverantwortung“ übernehmen. Der Priester sollte dagegen derjenige sein, der durch Verkündigung und Sakramentenspendung eine innere Struktur in seine Gemeinde bringt, eine Struktur, die die Gemeinde zusammenhält und ihr ein Rückrat verleiht. Priester sollten – gemeinsam mit anderen Getauften ein spirituelles Netzwerk aufbauen, an das sich zahlreiche christliche Initiativen anknüpfen können und das pastorales Handeln durch die Getauften ermöglicht. 

Wie kommt es eigentlich, dass bei allen „Reformüberlegungen“ die Sorge um das rechte Verständnis des Priestertums sofort oben auf der Agenda steht? Als Kirche haben wir Zeiten überlebt, in denen ein greiser Papst seine Amtsführung einem „Kardinalnepoten“ überließ und wo Bischöfe, die nicht einmal eine Weihe empfangen hatten, gleich mehreren Bistümern vorstanden. Beispiele dieser Art, wo die Amtsführung der Priester sich sehr weit von seinen Idealen und Grundlagen entfernte, finden sich in der Geschichte zu Hauf. Da ist mir unter den Bedingungen der heutigen Zeit um die Zukunft des „besonderen Priestertums“ nicht bange. Auch der Kartäusermönch in seiner Zelle ist Priester. Es mangelt ihm nichts! Das „Priestertum des Dienstes“, wie Kardinal Woelki ein Wort des 2. Vat. Konzils zitiert, trägt ein stabiles Identitätspotential in sich. Was Priester heute „verunsichert“ ist nicht ein bröselndes Priesterbild, es sind die Umstände, unter denen sie Dienst tun müssen. 

Aber zurück zur „Strukturvision“. In dieses Netzwerk eingewoben sollten Klöster und geistliche Gemeinschaften sein, die nicht nur für sich leben und beten, sondern je nach ihrem Charisma auch die Gemeinde aufbauen und die Christen untereinander vernetzen. Dazu tragen auch streng kontemplative Gemeinschaften in bemerkenswertem Maße bei. 
(Es scheint mir bezeichnend, dass Pfr. Frings ausgerechnet ein Kloster für seine (vorübergehende) Auszeit wählt und mit den Worten schließt: „Ich möchte an anderer Stelle für sie und alle Menschen glauben, beten und leben.“)
In ein solches Netzwerk eingebunden, sollte auch eine Gemeinde der Petrusbruderschaft, eine charismatische Gruppe oder eine Gemeinde des Neokatechumenats als Teil eine Ganzen bereit sein zum selbstlosen Dienst im Auftrag Jesu Christi. Damit meine ich u.a. die Bereitschaft, die Menschen nicht für sich zu gewinnen, sondern auszusenden und auch weiterzuschicken, bis sie die Quelle finden, aus der das reine Wasser des Evangeliums sprudelt. Allzu sehr wollen wir noch alles für uns festhalten. Unseren „tollen“ Pastor (der nicht wechseln darf), unsere Jugendgruppe, meine KAB, unsere Pfarrbüroöffnungszeit, ... Welcher Schaden da manchmal angerichtet wird, wenn so viele Kräfte in Kampf und Streit investiert werden, davon können manche (Bistums-)Verantwortliche ein Liedchen singen.

Unsere Priester müssen „Geistliche“ im wahren Sinne sein können. Sie müssen die Chance bekommen, eine Lebensform für sich zu entwickeln, wo sie auch Zeit zum Auftanken, zum Gebet für die ihnen anvertrauten Menschen, zur festlichen und feierlichen Liturgie haben. Sie brauchen die Eingebundenheit in Gemeinschaften von Menschen, die sie tragen. Da kann ich mir Ordensleute vorstellen, Alleinstehende und Verheiratete. Das wird neue Schwierigkeiten und Konflikte mit sich bringen, wie immer, wenn Menschen miteinander leben. Aber das wird auch glaubwürdig in die Welt ausstrahlen, denn die Getauften kennen all dies aus dem eigenen Leben. 

Wir müssen als Christen Formen des intensiven Gemeinschaftslebens entwickeln, die aber nicht exklusiv sind. Sie müssen Raum lassen für Andere, Raum und Offenheit für neue christliche, pastorale Initiativen, Raum für Menschen, die auftanken wollen oder einfach nur Obdach für Leib und Seele brauchen. Und diese kleinen Gemeinschaften, die auf unterschiedliche Weise Leben und Glauben teilen (auch unterschiedlich eng und intensiv) brauchen eine spirituelle Vernetzung untereinander. Sicher kann man hierfür ein Konzept und Ideen entwickeln, wie ein Miteinander über „Pfarreigrenzen“ hinweg möglich sein kann. Natürlich braucht all das auch Verbindlichkeit und „Visitation“. Vom Ordensleben können wir auch für die allgemeine Seelsorge manches lernen. 

Natürlich sind auch Priester denkbar, die allein, zölibatär in ihrer Gemeinde leben und arbeiten und auch auf diese Weise inspirierende Kraftquelle sind. Die Menschen, auch die Priester, sind verschieden. 

Um die zahlreichen, nicht priesterlichen Arbeitsfelder kümmern sich demnächst vielleicht unterschiedliche Leute, die im Team organisatorische Aufgaben übernehmen, sich um Kirchen, Kindergärten und Versammlungsräume bemühen. Es ist wichtig, dass die Kultur der Mitverantwortung gestärkt wird, die u.a. auch durch die bequeme Kirchensteuerfinanzierung abgenommen hatte. So konnte man bisher alle Verantwortlichkeit an die abgeben, die auch die finanzielle „Macht“ in den Generalvikariaten an sich gezogen hatten. 

Bei den weiter sinkenden Priesterzahlen (die ja mit sinkenden Zahlen bei den Ordensleuten, den pastoralen Mitarbeitern und bei den Gläubigen einher gehen), werden wir eine ganz neu Organisationsform kirchlichen Lebens entwickeln müssen. Wir brauchen eine tragfähige „Alltagsstruktur“ in der kath. Kirche, die sie Säulen des Gemeindelebens in Gemeinschaft und Liturgie, Verkündigung und Caritas sichert, notfalls auch ohne die Mitwirkung von Priestern. Und wir brauchen so etwas wie eine „Sonntagsstruktur“, die es den Menschen ermöglicht, mit den Priestern und notfalls mit Gottesdienstbeauftragten den Herrentag zu feiern in der Eucharistie, damit diese Quelle und Höhepunkt kirchlichen Lebens sein kann. Wie kann das gehen, wenn die Zahl der Priester schneller sinkt als die Zahl der Gemeinden und Gottesdienstorte? Welche liturgischen Formen sind möglich und nötig, wenn an einem Sonntag einmal keine Eucharistie gefeiert werden kann? 

Aber selbst wenn das gelänge: Keine Kirchenreform wird die Gesellschaft in Europa umkrempeln. Besonders zwei Aspekte machen mir große Sorge: das scheinbare "Verschwinden" Gottes und die Individualisierung.

Gerade las ich einen Text von Pastor Wilhelm Kolks aus Spellen über die Gemeinden in Ghana. Dort heißt es: „Das einzige, was die Christen in Ghana nicht verstehen ist, wenn jemand nicht an Gott glaubt.“ Auf dieser Voraussetzung beruhte die mehr oder minder glorreiche und erfolgreiche Kirchengeschichte bis in unsere Zeit. Darauf baut auch die große Chance der Kirche in Afrika und Asien. Aber diese Voraussetzung schwindet in Europa mehr und mehr. Es gibt bei uns eine spürbare Gotteskrise. Zahlreichen Menschen fehlt nichts, wenn ihnen Gott fehlt. Doch damit fehlt uns der fruchtbare Boden, fehlen uns die Möglichkeiten, mit unserer Botschaft bei den Menschen anzuknüpfen. Alle Reformen, Millionen kreativer Ideen und menschennahe Gottesdienste haben es nicht vermocht, den schleichenden Auszug Gottes aus dem Leben der Menschen aufzuhalten. Auf die Verkündigung des Evangeliums erfolgt kein kraftvolles Echo mehr. 

Über die Gründe kann man vielfältig spekulieren. Und es ist wirklich zum Verzweifeln. 

Ich glaube auch nicht, dass der Heilsweg darin liegen kann, uns an Sprache und Stil „der Welt“ anzupassen, aus den Gottesdiensten Events zu machen, mit hohem Aufwand an Technik und Kreativität unsere Verkündigung auf die Höhe des medialen Zeitalters zu hieven. 

Wir brauchen eine Verkündigung und eine Kirche, die mit einfachen aber ehrlichen Mitteln und Worten auskommt. Wir müssen liturgische Formen für den Alltag finden, wo die Menschen sich aufgehoben und daheim fühlen. Wo sie ihr Versagen eingestehen dürfen, ohne „verprügelt“ zu werden, wo sie ihre Dankbarkeit lassen können; wo sie ihre Sorgen und Bitten abladen und Trost erfahren. Wo sie sich in Gemeinschaft geborgen fühlen oder einen Raum für Stille und Gebet eröffnet bekommen. Ich fürchte, es hilft nicht, wenn man sie mit einem hohen Ideal konfrontiert und einem unerreichbar reinem, christlichen Leben. Da spricht mich das Bild von Papst Franziskus an, die Kirche sei ein „Feldlazarett“. Was sicher nicht bedeutet, dass nur lauter Verwundete und vom Leben Zerschlagene dort „auftanken“ dürfen. Diejenigen, die vom Leben beschenkt wurden (weil vieles „glatt“ lief) stärken in solchen Gemeinden diejenigen, die es schwer hatten. 

Wir brauchen eine lebendige Vielfalt an Gottesdiensten und rituellen Formen. Und wir müssen für die Sakramente einen Weg finden, sie an diejenigen zu spenden, die ihrer bedürfen und die aus ihnen Kraft empfangen. Das Potential der Sakramente könnte gewaltig sein. Das spüren wir doch durchaus auch dann, wenn die Menschen heute kommen, um aus Traditionsbewußtsein die Kinder zu taufen, sie zur Kommunion zu führen; die Firmung zu empfangen oder den Bund für's Leben schließen. Wann immer wir die Suche nach Gott in ihnen entdecken, sollten wir durch Verkündigung, Ritual und Sakrament einen weiteren Schritt nach vorn auf diesem Glaubensweg ermöglichen. Was spricht dagegen, auch diejenigen liebevoll zu begleiten, die im Glauben den „guten alten Zeiten“ verbunden sind, ob diese nun 30 oder 60 Jahre zurück liegen? Dass heute noch Leute zu uns kommen, weil man halt den kirchlichen „Service“ beanspruchen möchte, dafür tragen wir mindestens so viel Mitverantwortung wie die Menschen selbst. 

Auch wenn ich hier einige Linien einer Kirchenvision entwickelt habe, bleibe ich skeptisch mit Blick auf offensichtliche Erfolge „neuer Modelle“ der Gemeindewerdung und Organisation. Die Großpfarreien sind ein Versuch, auf schwindende Recourcen zu reagieren, ein Mangel, der sich vor allem im Mangel an überzeugten und engagierten Christen äußert, vom Kind als Messdiener über das Kirchenvorstandsmitglied, den Pastoralreferenten und die Ordensfrau bis hin zum Priester. Natürlich sind diese Strukturveränderungen notwendig, aber trotz aller Mühen noch lange kein Aufbruch. 

Das aus Afrika und Asien inspirierte und vielversprechende Modell der kleinen geistlichen Gemeinschaften hakt für mich in Europa an den oben genannten Problemen; zunächst am Schwinden des Gottesglaubens an sich;  am geringeren Stellenwert Gottes im Leben der Menschen heute (Gott ist eine Randerscheinung geworden, gefragt in positiven wie negativen Extremsituationen, er ist nicht mehr Begleiter in allen Lebenslagen des Alltags), kaum jemand stützt seinen Lebensentwurf auf die Existenz Gottes. Mag das in dieser Schärfe auch lange nicht bei allen Zeitgenossen zutreffen, so ist es doch eine erfahrbare Tendenz. Vielleicht liegt unsere Aufgabe darin, Zweifel an der Abwesenheit Gottes zu wecken, die allzu Satten und Beruhigten zu verunsichern und das „Gottesgerücht“ wach zu halten. Dass wir selbst – trotz aller Zweifel – glauben, dass es Menschen gibt, die ihr Leben auf die „Karte“ Gottes setzen und trotzdem mitten im Leben stehen, das könnte ja durchaus dazu beitragen.

Ein zweites großes Hindernis dürfte in der Tatsache liegen, dass unser „modernes“ Leben sehr stark auf Unabhängigkeit und Autonomie, auf Freiheit des Einzelnen setzt. Das wirkt dem kirchlichen Wunsch nach Gemeinschaftsbildung diametral entgegen. Die Verbundenheit in größere Gemeinschaften hinein schwindet und schwindet. Davon kann jeder Vereinsvorsitzende ein Liedchen singen. Die grassierende „Politikverdrossenheit“ ist auch ein Symptom dieser Entwicklung. Die Identifikation mit dem Stadtteil, dem Dorf, einem Verein, einer „Schulgemeinde“ und letztlich auch einer Kirche und einer Gemeinde sinkt bzw. wird im Konfliktfall leichter aufgegeben.  Niemand möchte sich binden, wobei Ausnahmen die Regel bestätigen. 

Gleichzeitig stelle ich durchaus eine Sehnsucht nach Gemeinschaft fest, die dem Menschen eingeschrieben scheint. Ziel dieser Sehnsucht ist heute stark die Kernfamilie und evtl. noch der engste Freundeskreis. Es ist interessant, was hier für durchaus kluge Sehnsuchtstexte in den sozialen Netzwerken geteilt werden. Allzu oft aber blenden diese aus, dass der Wunsch nach tragfähiger Gemeinschaft auch einen Preis hat, dass es eigenes Engagement erfordert, Investitionen ... und dennoch keine Garantie bietet, dass die Gemeinschaft auch trägt. Daher bekommen verwandschaftliche Bande heute wieder eine starke Bedeutung, weil diese nicht so leicht gekappt werden können. Wird es uns als Kirche gelingen, um die Botschaft Jesu herum, zweckfreie und tragfähige Gemeinschaften aufzubauen? Und das inmitten einer Dienstleistungsgesellschaft, wo sich alles kaufen lässt, auch der „kirchliche Dienst“? Dennoch: uns ist der Hl. Geist verheißen, die göttliche Kraft die Menschen zu einer Gemeinschaft zusammenführt. Viele Menschen heute vermissen tragfähige Gemeinschaft, vielleicht gelingt es tatsächlich, diese unter der Führung des Hl. Geistes neu zu begründen. 

Ich bin zwar skeptisch, aber nicht hoffnungslos! 

Wesentlich dürfte für die Zukunft sein, dass die Evangelisierung und Mission, die Weitergabe der Botschaft Jesu Vorrang bekommt vor dem Erhalt von Strukturen und Traditionen der Kirche. Wir verkündigen in erster Linie Jesus Christus, nicht eine bestimmte Kirchengestalt. Da „Tradition“ ein Reizwort darstellt, möchte ich auf die Unterscheidung Yves Congars hinweisen, es gibt die „kirchliche Tradition“ und „zeitgebundene Traditionen“.  Das macht natürlich die Gestalt der Kirche nicht willkürlich, im Gegenteil. 

Kardinal Woelki hat schon recht; es bleibt uns Christen nichts Anderes, als „Volles Risiko“, ein Aufbruch im Nebel in eine ungewisse Zukunft, wie es auch – mit Blick auf Abraham – im Hebräerbrief beschrieben wird. „Aufgrund des Glaubens gehorchte Abraham dem Ruf, wegzuziehen in ein Land … und er zog weg, ohne zu wissen, wohin der kommen würde...“

Beim Lesen des Textes von Thomas Frings, kam mir sofort ein Lied von Hannes Wader in den Sinn, dass ich hier zitieren möchte, auch wenn es aus einer anderen Kultur als der Christlichen stammt. Die ursprünglichste Version lehnt sich an ein Gedicht von Ferdinand Freiligrath an: 

Das war ´ne heiße Märzenzeit, 
Trotz Regen, Schnee und alledem! 
Nun aber, da es Blüten schneit, 
Nun ist es kalt, trotz alledem! 
Trotz alledem und alledem- 
Trotz Wien, Berlin und alledem, 
Ein schnöder scharfer Winterwind 
Durchfröstelt uns trotz alledem! 

Die Waffen, die der Sieg uns gab, 
Der Sieg des Rechts trotz alledem, 
Die nimmt man uns sacht wieder ab, 
Samt Pulver, Blei und alledem! 
Trotz alledem und alledem- 
Trotz Parlament und alledem, 
Wir werden unsre Büchsen los, 
Soldatenwild, trotz alledem! 

Heißt gnädiger Herr, das Bürschlein dort, 
Man sieht´s am Stolz und alledem! 
Und lenkt auch Hunderte sein Wort, 
Es bleibt ein Tropf, trotz alledem! 
Trotz alledem und alledem- 
Trotz Band und Stern und alledem, 
Ein Mann von unabhäng´m Sinn, 
Schaut zu und lacht trotz alledem! 

Und wenn der Reichstag sich blamiert, 
Professorhaft trotz alledem! 
Und wenn der Teufel reagiert, 
Mit Huf und Horn und alledem! 
Trotz alledem und alledem- 
Es kommt dazu trotz alledem, 
Daß rings der Mensch die Bruderhand 
Dem Menschen reicht trotz alledem!“

Trotz alledem und alledem... Ich denke, es wäre jemandem – der lyrisch mehr drauf hat als ich – leicht möglich die Situation der Kirche in Europa heute in diesem Versmaß und zu dieser Melodie zu besingen...

Trotz alledem und alledem, 
geb ich nicht auf, trotz alledem. 
Der Herr steht immer wieder auf, 
in seiner Kirch', trotz alledem.

Für die Freunde der Dicht- und Sangeskunst zur Inspiration hier drei Fassungen des "Trotz alledem" gesungen von dem wunderbaren Hannes Wader: www.youtube.com/watch?v=mRWkvQEmspg

Eine alternative Fassung desselben Sängers (keineswegs altersmilde): www.youtube.com/watch?v=icQM1zhwuaE

Diese Fassung fällt ausgerechnet in die Zeit des 2. Vaticanums: 

Hier der vollständige Text von Pfr. Frings: 

Hier das Hirtenwort zur Fastenzeit von Kardinal Woelki: