Sonntag, 28. Februar 2021

Wie kannst Du in dieser Kirche bleiben?

Diese Frage stellte mir vor gut 30 Jahren meine damalige Freundin, und ich erinnere mich mit erstaunlicher Frische an diese Situation. Ich hatte mich damals gerade von der Idee, Ordensmensch zu werden verabschiedet und war in die Ausbildung zum Pastoralreferenten eingestiegen. Wie ich damals geantwortet habe, das weiß ich nicht mehr. Aber sicher so etwas wie dass es in der Kirche viel Licht und Schatten gleichzeitig gibt und dass ich mich auf der hellen Seite engagieren möchte. 

Nach 30 Jahren hauptberuflicher Arbeit in der Kirche kann ich sagen, dass die Frage sich immer wieder neu und anders stellt und dass sie nicht verstummt ist. Aber heute fällt mir eine klare Antwort schwieriger denn je. Denn heute bekomme ich diese Frage auch von jenen gestellt, die wie ich auf der Sonnenseite des Lebens und der Kirche unterwegs sind. Und die Taktzahl dieser Frage steigt rapide. Meist höre ich sie mit der freundlichen Einleitung „Du bist ja eigentlich ein netter Kerl, aber...“. 

Nur einige Beispiele aus dieser Woche will ich schildern: 

Ein Bekannter, respektierter Handwerker im Heimatstädtchen, jemand aus der Mitte einer bürgerlich-katholischen Stadt postete gestern in etwa: „Liebe Freunde, ich verstehe, dass ihr aus der Kirche austreten wollt. Aber seht doch die Rolle, die Kirche für das Sozialwesen und den Zusammenhalt der Gesellschaft hat. Wenn ihr gehen wollt, verstehe ich das, aber geht doch nicht ganz, geht in eine andere Kirche und stärkt diese...“

Das hat mich gestern so berührt, dass ich aus meinem Herzen folgende Antwort gab: „Ich bin vor jetzt 30 Jahren aufgrund guter Erfahrungen mit der Kirche (Kaplan Roth, Kaplan Emmerich, Christel Terlinden, Kaplan Gehrmann, Schwester Almuth, Schwester Ermenhild, Schwester Georgis... und wer nicht noch alles... in den kirchlichen Dienst gegangen. Und habe seitdem mit Herz und Seele in vielen Gemeinden gearbeitet mit und für die Leute. Bestimmt sind nicht alle immer zufrieden mit meiner Arbeit. Aber ich versuche mein Bestes zu geben. Alles wertlos und umsonst...? Weil einige Leute in der Führung Bockmist gebaut haben im Umgang mit Verbrechern...?“

Bei Twitter postete gestern eine prominente Journalistin: „Wer wegen des Bodenpersonals aus der Kirche austreten will, solle sich vorher genauer umsehen. Sie kenne viele wunderbare und großartige Pfarrer*innen.“ Ich habe ihr darauf geantwortet, dass ich in der Kirche auch viele ganz normale Leute mit Engagement und mit Fehlern kennen würde, die ihr Bestes gäben. Und auch für sie lohnt es sich, in der Kirche zu bleiben. Es muss nicht immer alles großartig sein... 

Wenn ich an meine Zeiten als normales Gemeindemitglied zurückdenke, dann haben wir uns natürlich über gewisse Eigenheiten des Pastors geärgert. Und ganz bestimmt sind wir auch mal sauer aus einer Begegnung nach Hause gekommen. Aber das ist auch ein Stück Leben und gehört zum menschlichen Miteinander dazu. Natürlich muss man schauen, was ein Pfarrer (wie jeder, der ein Amt ausfüllt) mit seiner Macht anfängt und wie er sie einsetzt.

„Kirche ist meine Familie“ sagte kürzlich der Vorsitzende der Bischofskonferenz, Bischof Georg Bätzing. Da könne er nicht einfach weggehen... 

Das ist eine sehr persönliche Antwort, aus der man keine Regel machen kann. In mancher Familie ist es ja auch wirklich zum Weglaufen. Und auch in der Kirche menschelt es manchmal unerträglich. 

„Nichts Menschliches ist mir fremd.“ pflegte mein alter Pastor in Lohberg zu sagen. Und auch mit Blick in die Kirchengeschichte muss man feststellen, dass Kirche umso mehr eingebunden war in ungutes Geschehen, umso machtvoller sie war. Sie war immer auch der Raum, wo sich normales menschliches Leben ereignete. Manchmal hat sie die menschliche Fehler abgemildert, oft hat es Leute gegeben, die sich aus der Kraft des Evangeliums dem Bösen in ihr in den Weg stellten (Franziskus, Pater Alfred Delp, Friedrich von Spee), manchmal hat kirchliches Denken und Handeln die Katastrophen der Menschheit noch verstärkt. Die Kirchengeschichte erben wir als heutige Christen auch mit all ihren Schattenseiten (meinetwegen auch ihrer Kriminalgeschichte). Nicht anders wie das deutsche Volk, dass die Last der Shoah, der Verfolgung der Juden und die Schuld am furchtbaren Weltkrieg nach wie vor zu tragen hat. Mir persönlich wäre es zu billig, da zu sagen, „Ich bin Altkatholik, meine Kirche hat kein Problem mit den Frauen.“ oder „Ich bin ja evangelisch, mit den Kreuzzügen haben wir Protestanten nichts zu tun.“ Nicht anders als die Reformatoren früher wollen viele engagierte Menschen in der Kirche, wollen Laien, Priester, Bischöfe, Papst … eine bessere Kirche. Einen neue Spaltung wird die Kirche nicht verbessern und die Welt insgesamt schon gar nicht. Selbst wenn ich mich persönlich als Mitglied einer „einzig wahren“ - oder gar keiner Kirche dann besser fühle. 

Aktuell bewegt die Öffentlichkeit weiter die Frage, wie die Kirche mit den Missbrauchstätern in den eigenen Reihen umgegangen ist. Diese Frage stellt zur Zeit die Glaubwürdigkeit der ganzen Kirche in den Schatten oder ganz in Frage. Für zahlreiche Menschen ist sie der konkrete Auslöser, warum sie der Kirche den Rücken kehren oder erst gar nicht erst den Kontakt mit der Gemeinde vor Ort aufnehmen. Kein Wunder, die Kirche beansprucht eine bessere Welt zu sein – und präsentiert sich doch als unglaubwürdig. Die Kirche stellt Forderungen und hält sie selbst nicht ein. 

Aufgabe der Christen sei es, so sagte das Frère Roger von Taizé immer wieder, „Ferment der Versöhnung“ in der Gesellschaft zu sein, der Kitt, der die Menschen im Dorf, in einer Stadt immer wieder zusammenführt und zusammen hält. Aktuell erleben wir – bis in unsere persönlichen Kontakte hinein – dass alles auseinanderdriftet und dass Auseinandersetzungen zunehmend verbissener und giftiger werden. Dazu tragen die Möglichkeiten der (sozialen) Medien, des Internet und die politischen, gesellschaftlichen und gesundheitlichen Krisen einen guten Teil bei. 

Die Kirche, ja die Kirchen (auch aus der evangelischen Kirche treten die Menschen in Scharen aus), können ihre Aufgabe, die Menschen zu versöhnen, die Menschen zusammenzuführen immer weniger erfüllen. Größer noch als meine Sorge um die Kirche ist die Sorge, dass ich weit und breit nichts sehe, was/wer diese konkrete Rolle in der Zukunft übernehmen könnte. Auch Politik und Institutionen schaffen es nicht, Vereine finden nur noch schwer ehrenamtlich Engagierte, das Konzert der Meinungen wird immer vielstimmiger und der Rückzug ins Private und in die eigene kleine Lebenswelt nimmt zu. Zudem bräuchte es ja eine Grundlage und die können wir Menschen uns nicht einfach selbst erschaffen. Ob wir zu einer gemeinsamen Vorstellung von Humanität ohne eine Verwurzelung in Gott, in der Bibel finden können? Ich sehe das mit Skepsis.

Wer meine Texte und Wortmeldungen verfolgt, der weiß, dass ich eine sehr klare Meinung zum Umgang meiner Kirche mit klerikalen Missbrauchstätern habe. Und da auch deutliche Kritik äußere. Wem das bisher entgangen ist, er kann hier auf diesem Blog und auf www.wirnicht-missbrauch.de dazu etwas lesen. 

Aktuell fühlt sich all das an, als sei in den 10 Jahren nichts passiert in der Kirche. Und als müsse man z.B. Kardinal Woelki erst zum Handeln zwingen. In den Diskussionen auf der Straße und bei Twitter und Facebook, ja selbst vor der Kirchentür wird noch immer erschütternd wenig differenziert. Gerade noch las ich einen erbosten Beitrag wo eine Dame dem Erzbischof vorhielt, er solle endlich zu seinen Missbrauchstaten stehen.

Daher liegt mir daran, dass wir noch mal genau hinschauen, worum es im Einzelnen geht und wo wir da aktuell stehen: 

1. Da ist zunächst einmal die Frage der Prävention. Was tut die Kirche, dass es keine weiteren Fälle gibt? Da stellen auch kritische Fachleute der katholischen Kirche ein gutes Zeugnis aus. Es gibt inzwischen personell gut aufgestellte Prävention in den Kirchen und ihren sozialen Institutionen. Mitarbeiter*innen werden intensiv geschult, bis hin zum betagten Pfarrer. Präventionskonzepte werden erstellt. Die Aufmerksamkeit für auffälliges Verhalten von Haupt- und Ehrenamtlichen ist gewachsen. Hier fährt der Zug wirklich in die richtige Richtung und man muss nur darauf achten, dass das Engagement nicht erlahmt. Mir scheint, da hat die Kirche sogar die Nase vorn? Wenn Sie das nicht glauben, fragen Sie doch mal den Trainer ihrer Kinder oder die Lehrerinnen Ihrer Schule, wann der letzte mehrtägige Präventionskurs stattgefunden hat? Ich verweise hier auch auf unser Präventionskonzept auf www.katholisch-in-voerde.de.

Missbrauch, sexualisierte Gewalt ist leider ein Teil unserer gesellschaftlichen Realität. Erschütternd wird uns das z.B. bewusst an den aktuellen Fällen, wo Eltern ihre eigenen Kinder anbieten und verkauften, wo Kinderporno-Ringe aufgedeckt wurden und manches mehr. Täter suchen – bewusst oder unbewusst – Felder für ihre Arbeit und ihr freiwilliges Engagement, wo sie auch potentielle Opfer finden. Und das kann auch in der Kirche sein, auch heute noch. Zudem gibt es in der Kirche einige besondere Bedingungen, die zu Verbrechen an Kindern und Jugendlichen führen könnten bzw. geführt haben. Die Position und Rolle und die Lebensweise eines Priesters spielt hier eine gewisse Rolle, nur nicht immer so plakativ wie es in der Diskussion um den Zölibat behauptet wird.  

2. Mit Blick auf die Gegenwart geht es hier also um Prävention, mit Blick auf das was war um die Aufdeckung der Taten und die Zusammenarbeit mit der Justiz. Das ist aber ein anderer Punkt und hier schneidet die Kirche auch weit schlechter ab. Nach wie vor ist es ja so, dass die meisten Missbrauchstaten (auch außerhalb des kirchlichen Bereichs) in Bezug auf die lebenslangen Folgen für die Opfer durch die Gerichte augenscheinlich milde bestraft werden. Ein Täter, für den sich nach der Verurteilung in den Augen der Betroffenen nichts ändert weil er vielleicht eine überschaubare Geldstrafe zu zahlen hat, aber ansonsten unter Bewährung weiter in kirchlichen Diensten bleibt – das ist im höchsten Maße unverständlich. Und was ist eine Freiheitsstrafe von drei, sechs Monaten oder gar wenigen Jahren gegen die lebenslange Last einer solchen Tat? Es wird ja manchmal so argumentiert, als sorge die Kirche dafür, dass die Täter nicht vor ein staatliches Gericht kommen. Das ist allerdings heute nicht mehr der Fall. Leider gelingt es nicht, klar zu machen, dass es sich beim Kirchenrecht um ein zusätzliches Verfahren handelt, ähnlich wie beim Disziplinarrecht im öffentlichen Dienst. Da wird geprüft, wie die Kirche als Dienstgeber ein Verbrechen noch zusätzlich bestrafen kann. Also Dinge, die einen Trainer im Sport oder Täter aus dem familiären Umfeld nie träfen. Da muss die Kirche oft die staatlichen Urteile abwarten. Und wenn dann jemand aus Mangel an Beweisen freigesprochen wird … wird es auch für die Kirche mit einer gerechten Strafe schwer, wenn die Bestraften dann gegen solche Strafen vor Gericht ziehen. In diesem Kontext geht es auch um solche Fälle, die sich in den kirchlichen Personalakten verbergen und die in der MHG – Studie untersucht wurden. Da finden sich tatsächlich erschreckend viele Fälle, die heute nicht mehr aufgearbeitet werden können, weil die Täter längst verstorben oder nicht einsichtig sind. Manchmal sind auch die Opfer nicht bekannt oder erreichbar. Viele haben sich in den vergangenen 10 Jahren erst an die Kirche gewandt und haben ihre Leidensgeschichten geschildert.

Manche glauben, dass diese Akten noch immer ausreichend Material zur Verurteilung von Tätern enthalten. In Bayern hat man offenbar einen großen Teil dieser Akten durch die Staatsanwaltschaften überprüft. Mit einem eher mäßigen Ergebnis, aufgrund von Verjährung, Tod der Täter oder dem Mangel an belastbaren Beweisen hat das nur zu einem einzigen Verfahren geführt. Aber genau dies ist ein sehr dunkles Kapitel in der jüngeren Geschichte der Kirche, dass wir dazu beigetragen haben, dass die Taten nicht umfassend aufgeklärt wurden, dass Täter weiter im Dienst der Kirche bleiben konnten, dass Opfer vergessen wurden, dass Täter ihrer gerechten Bestrafung entgingen und weitere Opfer forderten. Um diesen Aspekt geht es übrigens bei der Untersuchung in Köln nur in zweiter Linie. Bei der Untersuchung in Berlin hat man dies z.B. in einem einzigen Gutachten mit aufgearbeitet, aber mit der Folge, dass man die entscheidenden Seiten des Gutachtens nicht veröffentlichen konnte, weil Opfern und Tätern ein Grundrecht auf Persönlichkeitsschutz zusteht, dass man nicht einfach über Bord werfen kann, weil es die Institution Kirche entlasten würde. 

Nicht zuletzt ist es im höchsten Maße komplex aufzuarbeiten, was tatsächlich geschehen ist. Insbesondere, wenn wir nicht von schwerem Missbrauch reden. Die meisten Täter reden sich ihre Übergriffe schön, entschuldigen sich mit Phantasie, spinnen ein Netz von Verteidigern, vermeiden Zeugen. Für die Opfer dagegen sind oft auch Übergriffe schwerwiegend, die in anderen Kontexten als Belästigung mit einer kräftigen Ohrfeige abgewehrt würden. Aber gegenüber dem priesterlichen Täter sind sie wehrlos, können sich der Situation nicht entziehen... In vielen Fällen gibt es hier unterschiedliche „Wahrheiten“. Da den Opfern glaubwürdig zu versichern: „Ich glaube Ihnen!“ und die Täter angemessen zu bestrafen, das ist schon eine Herausforderung. Zumal dann, wenn man sich an Recht und Gesetz halten muss. Hier muss der Kirche gelingen, wo die Justiz nicht selten scheitert.

Ich fände es wünschenswert, wenn eine unabhängige Institution diese Fälle prüfen würde. Hier könnten die Akten unter den Bedingungen des Personenschutzes geprüft werden. Hier könnten sich auch Opfer melden, ohne es mit kirchlichen Mitarbeiter*innen zu tun zu haben und in direkten Kontakt mit der Täterorganisation zu geraten. Aber aufgrund der weit umfassenderen Bedeutung macht eine solche Institution nur für die Kirche keinen Sinn. Man sollte deren Aufgabe auch auf andere Tatorte erweitern, überall da, wo Taten nur dadurch möglich werden, dass Täter als Trainer, Erzieher, Therapeuten, Seelsorger*innen etc. Kontakt mit und Macht über Kinder, Jugendliche, Erwachsene bekommen. 

3. Der dritte Punkt ist die umfassende Sorge für die Opfer. Auch das ist ein schwieriges Feld, weil die Kirche ja letztlich die Täterorganisation ist, unter deren Dach die Verbrechen geschahen. Viele Opfer sind traumatisiert. Die Kirche war und ist viel zu zögerlich in der Frage der Entschädigung und Unterstützung. Lange waren die Opfer „das schlechte Gewissen in Person“ und Kirchenvertreter wehrten sie ab oder mochten Ihnen nicht gegenüber treten. Das ist ein nach wie vor herausfordernder Aspekt, in dem es der Kirche nicht leicht fallen wird, diesen zu bestehen. Ich wäre da sehr dafür, dass die Kirche hier den Tätern klar finanzielle Einbußen auferlegt, die den Opfern zu Gute kommen. Und dass darüber hinaus großzügig therapeutische und seelsorgliche Unterstützung ermöglicht wird. Auch wäre eine Art großzügig bemessene Opferrente ein gutes Signal, um den Menschen das Leben zu erleichtern. Wenn ein Täter seine volle Priesterpension bezieht und daneben sein Opfer aufgrund der Brüche in seinem Leben im Alter von der Grundsicherung lebt, dann muss diese Ungerechtigkeit irgendwie aufgehoben werden. Auch hier wäre eine unabhängige Institution hilfreich. 

4. Der vierte Punkt ist das, was man aus dem Fiasko der Vergangenheit lernen kann. Da geht es um die Fehler, die konkrete Verantwortliche, Bischöfe, Personalabteilungen, Generalvikare, Personalchefs in der Vergangenheit im Umgang mit Opfern und Tätern gemacht haben. Und genau um dies geht es auch im Kölner Gutachten. Und hier ist es zu den Fehlern gekommen, durch die ein Kölner Kardinal nun im Kreuzfeuer der Kritik steht. Und in diesem Kontext steht ja interessanter Weise auch der synodale Weg der Kirche, in dem Kardinal Woelki zu einem Wortführer der Kritiker geworden ist. Und dieser synodale Weg zieht seine Berechtigung unter Anderem aus der Frage, inwieweit die konkrete Gestalt der Kirche als Institution und Bürokratie zu der Krise und der Fehlerhaftigkeit im Umgang mit Missbrauchstaten und Tätern beigetragen hat. Dass sich in diesen Diskussionsprozess natürlich allzu gern all jene mit einbringen, die schon immer grundstürzende Reformen gefordert haben, das scheint mir nicht verwunderlich. Dass sich aber diejenigen diesem Prozess weitgehend verweigert haben, die eine heilige und traditionsbewußte Kirche im Herzen tragen, das gibt mir nach wie vor Rätsel auf. So fällt Kardinal Woelki in dem ganzen Prozess eine besondere Rolle zu, die – neben den gemachten Fehlern – die Aufmerksamkeit aller auf ihn gezogen haben. Dazu kommt sicher noch die Tatsache, dass das „hillige Köln“ sicher das bedeutendste Bistum in Deutschland ist und dass Köln sicher eine der bedeutsamsten Medienstädte der Republik ist. Von daher muss der Kölner Kardinal als de facto „primas germaniae“ nun den Kopf hinhalten für die lieben Kollegen, die doch allesamt im Glashaus sitzen. Kein Wunder, dass diese – angesichts der sich zuspitzenden Krise – zunehmend dünnhäutiger werden. 

Insofern stimme ich konservativen Kreisen zu, die aufgrund der aktuellen Diskussion den Verdacht haben, die aktuelle Aufmerksamkeit für Köln habe mit dem synodalen Weg zu tun. Aber ich teile in keiner Weise die Vorstellung, "man" wolle den Kardinal ausschalten, der dem Durchmarsch in eine neue Kirche im Wege stehe. (Wer auch immer diese dunkle Macht sein soll? Das ach so mächtige ZdK vielleicht?)

Also, das Kölner Gutachten müsste eigentlich ein Grundlagentext für den synodalen Weg werden. Zusammen mit dem Aachener, Münchner, Münsteraner, Essener... Worum geht es bei diesem Gutachten wirklich? Die Anwälte aus München, die das erste Gutachten erstellen, haben den Weg gewählt, aus den gut 200 „Fällen“ einige besonders auffällige, exemplarische Fälle auszuwählen. Diese haben sie eingehend erforscht und daraus ihre Schlüsse gezogen, wo die Institution Fehler gemacht hat. Aufgrund dieser Untersuchungen haben sie benannt, wer diese Fehler zu verantworten hat. Es liegt in der Natur der Sache, dass niemand über sich in der Presse lesen möchte, wo er im Dienst versagt habe. Erst recht nicht, wenn das Folgen für den Lebenslauf und die Karriere hätte. Daher begibt man sich damit auf ein heikles Gelände.

Zumal, wenn das auch Personen betrifft, die heute als Bischöfe andere Bistümer leiten.  

Das war wohl der Grund, weshalb der Kardinal weitere Juristen gebeten hat, sich  mit der Frage zu beschäftigen, ob man da nicht vor den Gerichten eine Klatsche bekommt, wenn man damit an die Öffentlichkeit ginge. Und da hat er wohl Signale (und ein Gutachten) bekommen, dass das durchaus sein kann. Nur konnte man nun – nach vollmundigen Ankündigungen – nicht einfach aussteigen oder die Namen rauslassen. Und die Betreffenden würden sicher argumentieren, es seien ja nur einzelne Fälle im Gutachten erforscht worden und daher sei das Urteil sehr einseitig. Daher hat man einen weiteren renommierten Juristen beauftragt ein neues Gutachten zu machen, das ausdrücklich alle Fälle in den Blick nimmt und sich in diesem Punkt nicht angreifbar macht. Rings um all diese Vorgänge gab es eine gewisse Zahl von Pleiten, Fehlern und Pannen und eine zunehmende Ungeduld in der Öffentlichkeit.

Die wird umso mehr gesteigert, als dass viele Beobachter die Details gar nicht im Blick haben und so verfestigt sich der Eindruck, dass sich in der Kirche gar nichts verändert und verbessert. Journalisten und ihre Leser, Hörer und Zuschauer erwarten Antworten auf ihre Fragen, verweisen zu Recht darauf, dass der Prozess ja nun schon lange dauert. Kirchenleute trauen sich aus Angst vor hitzigen Debatten und Ungerechtigkeiten gar nicht mehr auf öffentliches Parkett oder wollen sich dreimal absichern, dass am Ende kein schlechtes Bild bleibt. Es ist verständlich, dass Kardinal Woelki, bevor er Fehler und Verantwortliche benennt, dafür erst die Einschätzung eines neutralen Gutachters lesen will. Trotzdem würde ich mir mehr Mut wünschen, sich mit klaren Worten auf die Agora oder auch den heißen Stuhl zu begeben. Warum nicht „Was nun Herr Woelki?“ im Garten hinter dem Bischofshaus. Und gerne mit Christiane Florin als Interviewerin.

Die hat letztlich erstmals die Frage nach spürbaren Konsequenzen, nach Rücktritten gestellt. Seitdem ist das – zuvor Undenkbare – in der Welt. Von dem, was bisher bekannt ist, trägt Kardinal Woelki auch nicht mehr Schuld als seine Bischofskollegen in München, in Regensburg, in Essen, in Münster, in Osnabrück... Ich erwarte da weder von dem einen noch von dem anderen Gutachten Mitte Mai grundstürzende Neuigkeiten. Wenn es danach ging könnte vielleicht noch Bischof Wilmer aus Hildesheim bestehen oder Bischof Hanke in Eichstätt. Beide kommen aus einem Orden und bekleideten keine hohen Positionen in der diözesanen Bürokratie und Verwaltung. Obwohl … auch die Orden haben da ja ihre diesbezügliche Geschichte. Trotzdem stellt sich ja die Frage, wie in der Kirche die Verantwortung für Fehler eingestanden werden kann und welche konkreten Folgen ein solches Eingeständnis hat. Kostet es mich etwas? Also mehr als einige unangenehme Diskussionen und unerfreuliche Artikel in der Tageszeitung? Kostet es mich meine Position, meine bedeutsame Rolle, meine Macht? Mein Geld? Meine Privilegien? Und wem wäre damit gedient? Kardinal Marx hat ja erfreulicherweise hier schon vorgedacht und einen beachtlichen Teil seines privaten Vermögens abgegeben. Andere Bischöfe haben schon mal prophylaktisch persönliche Fehler eingestanden. Diejenigen, die mutmaßlich selbst Täter waren oder aktiv solche gedeckt haben sind lange schon tot. Viele derjenigen, die die Taten nicht ernst genug nahmen oder Täter einfach versetzten sind ebenfalls verstorben oder längst nicht mehr im Amt. 

Kardinal Woelki träte heute zurück aufgrund der Fehler seiner Vorgänger und seiner Diözesanverwaltung. Viel wichtiger wäre mir, dass die Kirche aus ihren Fehlern lernt. Dass sie sich entschlossen von weltlicher Macht und Privilegien trennt. Dass sie viel transparenter wird in ihrem Handeln, dass sie nur solche Menschen in Ämtern einsetzt, die mit sich, ihrer Rolle und Position und ihrer Sexualität und ihrem Gefühlsleben im Reinen sind. Ich fürchte mit Frauen in Ämtern, nicht klerikalen Priestern und einer liberaleren Sexualmoral allein ist es nicht getan. 


„Wie kannst Du in dieser Kirche bleiben?“ Ich denke, diese Frage wird mich weiter begleiten. Die Familien-Antwort von Bischof Bätzing taugt für mich nicht. 

Vielleicht habe ich zwei Teilantworten. Die Eine: Die Kirche ist für mich immer noch weit mehr Lösung als Problem. Dass es uns gibt, macht die Gesellschaft menschlicher, sozialer. Trotz aller Schwächen und Fehler. 

„ecclesia semper reformanda“ 

Wenn es die Kirche nicht gäbe, müsste man sie erfinden. Wir müssen alles tun, damit sie ihre Kraft wieder auf die Straße bekommt. Und vielleicht muss sie wirklich mal ausziehen aus den Ruinen ihrer einstigen Herrlichkeit und ganz klein und ganz neu wieder anfangen. Obwohl dann auch manches kaputt geht, was gut und hilfreich ist. Apropos erfinden. Nach wie vor ist für mich die Kirche keine menschliche Sache, sondern sie ist Gottes Werkzeug, seine Erfindung, seine Kirche. Bei der lauthals vorgetragenen Forderung von (Neu-)Evangelisierung kommt es mir allerdings manchmal so vor, als ginge es allein darum die alte Herrlichkeit zu retten, zu restaurieren und aufzupolieren. Ein alter Pfarrer sagte mir, der erste Schritt müsse sein, sich selbst zu evangelisieren.

Die Bibel ist nicht ein schönes Buch unter vielen, eine weise Schrift der Vergangenheit, nein in ihr klingt Gottes Wort in seiner ganzen Frische und auch Sprengkraft. Und wo sonst könnte man sie zum Klingen und Erklingen bringen, wenn nicht in der Kirche.

Ja, ich bin seit 30 Jahren dabei. Ich weiß um manche Misstöne. Irgendwie ist die Kirche aktuell wie eine völlig verstimmte Orgel. Es wird ein Kraftakt werden, sie wieder richtig zum Klingen zu bringen. Und selbst dann, wenn alles fertig ist und glänzt – wird irgendeine Taste wieder klemmen oder eine Orgelpfeife quäken. 

Aber, sie kann schön klingen, sehr schön und zu Herzen gehend.

Deshalb bin ich noch immer dabei. 

Und ich glaube fest, dass ich auch bleiben werde. 

Aber ich habe auch Lust, das Instrument mit einer kräftigen Bürste von allem Dreck zu befreien. 

Aber doch auch mit Engagement, Liebe und Sachkunde, so dass die Substanz nicht verloren geht. 


Und Sie? Und du? Bleibst Du auch mit dabei? Oder fängst Du wenigstens was Neues an, was die Leute zusammenbringt und die Gesellschaft zusammen hält? Was ist Dein Beitrag?


Bildquelle: Von Caspar David Friedrich - https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=2184609