Mittwoch, 16. Mai 2018

Alles Schein-Riesen und Schein-Heilige?

Wer den Namen „David Berger“ bei Google eintippt, der findet dort zahlreiche Fotos eines attraktiven Herrn im Anzug, meist mit offenem blauen Hemd und Jacket. Der „Theologe und Publizist“ präsentiert sich vor allem mit seinem Blog „philosophia perennis“ als reichlich AfD-nah und posiert für einen Wahlaufruf für diese Partei auch in einem innigen Doppelportrait mit deren Frontfrau Alice Weidel. Der als Kenner der Theologie und der Schriften des Hl. Thomas von Aquin einst schon in jungen Jahren in konservativen und traditionalistischen Kreisen der Kirche sehr beliebte und hofierte junge Mann hat in den vergangenen 10 Jahren ganz erstaunliche Wandlungen durchgemacht.

Über einige Jahre war er der Herausgeber der Zeitschrift für konservative Theologie „Theologisches“, einem Blatt, dass früher einmal monatlich kostenlos an jeden deutschen Pfarrer geschickt wurde. Während meiner Ausbildungszeit habe ich es meist vor dem Papierkorb meines Ausbildungspfarrers gerettet und mit Interesse gelesen.

Berger ist etwas jünger als ich und begann – wie ich – 1991 seine theologische Ausbildung. Ende März 2010 legte er mit einer Erklärung seine Herausgeberschaft für die Zeitschrift „Theologisches“ nieder und kam damit seinem Rauswurf zuvor. Gleichzeitig outete er sich als homosexuell und in einer langjährigen Partnerschaft mit einem Mann lebend. Zuvor hatte er eine glänzende Karriere mit Dissertation, Habilitation und Aufnahme in wissenschaftliche Institutionen hingelegt, die ihm auch eine Aufgabe als „Lektor der Päpstlichen Kongregation für die Glaubenslehre“ einbrachten. Im November 2010 brachte er ein Buch auf den Markt, in dem er über sein Leben als schwuler Theologe in der katholischen Kirche berichtete. Diesem Buch gab er den Titel „Der heilige Schein“ und zog zu dessen Vermarktung alle medialen Register.

So spekulierte er über homosexuelle Neigungen des Papstes und weiterer Kirchenmänner und teilte mit, dass nach seinem fachkundigen Urteil zwischen der Hälfte und zwei Dritteln aller katholischen Priester homosexuelle Tendenzen hätten.

Der Kölner Kardinal Joachim Meisner entzog Berger 2011 die Lehrerlaubnis, worauf dieser nicht mehr als Lehrer an einem Kölner Gymnasium unterrichten konnte. Er wechselte daraufhin in das Berufsfeld des Publizisten und schrieb kirchenkritische Texte und übernahm die Redaktion eines Magazins für homosexuelle Männer. In dieser Zeit engagierte er sich stark gegen die anonyme, reaktionär-vulgärkatholische Website kreuz.net, die schließlich abgeschaltet wurde. Berger trat in dieser Zeit auch offiziell aus der Kirche aus.

Nach und nach kam seine konservative Grundhaltung wieder durch, so dass man sich 2015 von Berger trennte und das „Männer“-Magazin wenig später einstellte.

Alles diese Vorgänge waren durchaus Schlagzeilenträchtig. Schon 2015 warf man Berger vermehrt „Rechtspopulismus“ vor, ein Vorwurf, dessen Berechtigung der Theologe und Publizist inzwischen mit seinem Blog tagtäglich unter Beweis stellt, obwohl er in seine Biografie noch eine einjährige Episode als CDU – Mitglied einfügen konnte, die aber spätestens mit seiner Wahlempfehlung für die AfD im Herbst 2017 zu Ende ging.

Ich hatte mich bisher immer geweigert, einen Blick in Bergers Buch zu werfen. Da dieser Autor mir aber im Netz immer wieder begegnet und mehr und mehr in rechtspopulistischen Kreisen gehypt bzw. inzwischen auch wieder in konservativen Kirchenkreisen gelesen wird, habe ich mir kürzlich doch die Mühe gemacht, Bergers Buch zu lesen. Was mir leicht fiel, da es inzwischen für rund 50 ct. in den Antiquariaten verfügbar (und als Taschenbuch schon für 5,49 € zu haben ist).

Mir war Berger schon nach seiner etwas übergriffigen Kritik an den Theologen Rahner und Hans Urs von Balthasar suspekt und sein Name blieb daher durchgängig für mich ein „rotes Tuch“. Für ihn gilt in meinem Empfinden der alte Spruch: „Der Niederrheiner ist nicht nachtragend, aber er vergißt auch nichts.“ Leider sind viele der Theologen, die nach wie vor in Benedikt XVI., ihren geistlichen und geistigen Vater sehen, im Blick auf Berger heute alles Andere als Niederrheiner.

Wie auch immer, die Lektüre des Buches „Der heilige Schein“ ist durchaus erhellend. Ich habe nicht bereut, den Band gelesen zu haben. Bei einer oberflächlichen Lektüre, erscheint es geradezu so, als wolle Berger die Analyse der Autorin Liane Bednarz in ihrem Buch „Der heilige Schein“ vorwegnehmen. So verwendet er mehrfach den später eher Bednarz zugeschriebenen Begriff der „Rechtskatholiken“ und sieht noch weit stärkere und tiefergehende inhaltliche und personelle Verflechtungen des konservativ-katholisch-traditionalistischen Milieus mit rechtsextremen Kreisen im In- und Ausland. Hier beschreibt Berger auch ausdrücklich Verbindungen zur NPD (die AfD gab es damals ja noch nicht) und er tut dies aus intimer Milieukenntnis.

Der Klappentext des Buches gibt zwei Rezensionen wieder. In der ZEIT stand offenbar „Dieses Buch gehört zum Unglaublichsten, was derzeit über die katholische Kirche zu lesen ist.“ Im Tages-Anzeiger wurde geurteilt: „Der heilige Schein trifft den Nerv der Kleriker-Kirche und des Ratzinger-Pontifikats.“ Diesem Urteil möchte ich mich nicht anschließen. Das Buch beleuchtet einen sehr kleinen, wenn auch aktiven und sicher einflussreichen Teil der Kirche. Es zeigt, dass und wie finanzkräftige konservative Personen Einfluss auf den Kurs von Kirche und Theologie zu nehmen versuchen. Hier beschreibt der Autor seine Verbindungen in diese Welt konservativer und teils adeliger Akteure, deren Verbindungen untereinander und bis hinein in den Vatikan. Was er hier berichtet, erscheint mir durchaus zutreffend und interessant, wenngleich es im Grunde auch schon wieder Geschichte ist. Viele Protagonisten sind inzwischen verstorben, sie wirken nun nur noch über ihre Nachlässe in der Finanzierung gewisser Initiativen nach.

Über „die Kirche“ sagt das Buch allerdings nur wenig aus. Die ist ja nach wie vor von den normalen Pfarrgemeinden und den Ordensgemeinschaften geprägt. Das von Berger beschriebene erzkonservative Milieu spielt hier nur am Rande eine Rolle, allenfalls dann, wenn ein Pfarrer aus diesem Umfeld in einer Gemeinde eingesetzt ist und entsprechende Initiativen startet. So käme ich in unserer Gemeinde vielleicht mal auf drei oder vier Personen, die ich dem traditionalistischen Milieu zurechnen würde und wohl kaum ein Promille der Gemeindemitglieder hätte vor 2010 eine halbwegs konkrete Vorstellung haben können, wer dieser Dr. habil. David Berger überhaupt ist.

Wie bei Liane Bednarz fragt man sich auch bei Berger immer wieder, wo die „rote Linie“ zu ziehen wäre zwischen Papst- und Kirchentreuer-katholischer Theologie und legitimen konservativen Überzeugungen und reaktionären Übertreibungen und menschenverachtenden Machtspielen.

Der Titel der Buches „Der heilige Schein“, spielt auf Bergers Beobachtung an, dass er – nach seiner Auffassung relativ offen - schwul war und mit seinem Lebenspartner zusammenlebte, den er als „Cousin“ auch beständig in seinem Umfeld hatte. Dies sei von der Kirche geflissentlich so lange ignoriert worden, wie der „Schein“ gewahrt blieb, wo nicht offen die Homosexualität zum Thema gemacht wurde. Dies sei überhaupt ein typisches Kennzeichen einer weit verbreiteten „Scheinheiligkeit“ in der Kirche, für die er noch andere „Belege“ präsentiert.

Über Bergers Analyse und Deutungen wird man sicher streiten können. Sie erscheinen aber teilweise reichlich konstruiert und vom Bemühen um Selbstrechtfertigung getragen. Im Grunde ist „Der heilige Schein“ ein eher autobiografisches Buch, das wenig über die katholische Kirche als sehr vielschichtige Organisation, immerhin aber etwas über das konservativ-traditionalistische Milieu und letzlich recht viel über die Persönlichkeit David Bergers offenbart. So spürt man durchaus, dass er seine eher konservative Grundhaltung letzlich nicht in Frage stellt. Seine Hinwendung an das eher liberale Kirchenmilieu erscheint unter dem Druck seiner theologischen Gegner und der Kritiker seiner privaten Lebensführung aus eben diesem Umfeld.

Er schildert sich selbst als theologisch „Verführten“, der durch die Leute um sich herum über die „roten Linien“ hinaus gedrängt wurde. Er schildert auch seinen Kampf gegen besonders extreme theologische Positionen und gegen Antisemitismus, obskure Glaubensformen und Gruppen und manches mehr. Man spürt jedoch, dass er sich in einem, teils von extremen Überzeugungen geprägten Umfeld und Unterstützerkreis um einen theologisch verantworteten Weg mit Maß und Mitte bemüht.

Interessanterweise bezieht er schon damals Stellung gegen eine positive Haltung gegenüber den Muslimen, die offenbar vor 10 Jahren noch in der konservativ-katholischen Szene verankert war, weil man im Islam einen Partner gegen die weitere Auflösung von Moral und Sittlichkeit erkannte. Das würde heute vermutlich nicht mehr so vertreten werden, aber David Berger hat seine Position hier inzwischen auf seinem aktuellen Blog noch deutlich zugespitzt.

Insoweit ist Berger inzwischen einen aufschlußreichen Weg gegangen. Seine Themen haben sich aus dem Bereich des Theologischen stark in die Welt der Politik und Gesellschaft verlagert. Man kann sicher sagen, dass er sich radikalisiert hat. Das, was ihm in seinem theologischen Wirken offenbar wichtig war – scheint inzwischen vergessen. David Berger ist mit seinem Blog bestimmt kein Vertreter von Maß und Mitte mehr.

Originellerweise nennt er ihn – anknüpfend an seine früheren Orientierungen – gerade auch an Thomas von Aquin - auf lateinisch: „Philosophie perennis“ und will sich damit die Orientierung an zeitlosen, immergültigen, kulturübergreifenden Prinzipien zur Leitlinie machen. Diesem Anspruch wird er aber keineswegs mehr gerecht.

David Berger war einmal ein aufgehender Stern am Theologenhimmel, mit dem konservative Theologen einige Hoffnungen verbanden. Aber er war auch jemand, der sich nicht einfach vor den Karren spannen ließ, sondern durchaus eigenständige Wege ging. Es wäre (auch ihm) sehr zu wünschen, dass er einmal – altersweise und altersmilde – zu seinen Wurzeln zurückkehren möge. Hoffentlich dauert es nicht mehr allzu lange.

Er gibt mit seinem Buch „Der heilige Schein“ tiefe Einblicke, welche Folgen es haben kann, dass die Kirche und ihre Theologie noch immer ein gebrochenes Verhältnis zur Homosexualität und zu homosexuellen Menschen hat. Besonders zeigen sich diese Brüche unter denen, die doch eigentlich der kirchlichen Lehre zu 100 Prozent folgen möchten und den selbst gesetzten Ansprüchen nicht gerecht zu werden vermögen. Das Ergebnis ist keineswegs glänzend, nicht überzeugend und noch weniger anziehend.

Mich hat er nicht überzeugt mit der Idee, dass die Homosexualität (und andere moralische „Verfehlungen“) von Kirchenleuten systematisch ausgenutzt werden, um die kleinen Rädchen im Getriebe gefügig zu machen. Auch wenn er solche persönlichen Erfahrungen schildert. Dennoch darf man auch sein Buch getrost als Gewissenserforschung lesen. Im Beichspiegel trifft mich auch nicht jede einzelne Frage. Aber wo sie mich trifft, da sollte ich nicht schnell weiter blättern, sondern genauer hinschauen. Daher wäre Bergers Buch auch den kirchlichen Verantwortungsträgern empfohlen, um hier die notwendigen Hinweise zwischen den Zeilen zu lesen.

Wenn sich die Heiligkeit der Kirche zu einem heiligen Schein entwickelt, dann fehlt nur wenig, dass sich ihre Scheinheiligkeit offenbart. Daher ist es so wichtig, dass sich die Kirche nicht nur an der philosophia perennis orientiert, sondern wirkliche Antworten findet, die sich in Bibel und Tradition verankert wissen, aber auch im Leben der Menschen hilfreich sind, weil sie ihre Erfahrungen, Kämpfe, Sorgen und ihr Versagen mit berücksichtigen. Der Weg, den die Kirche weisen will, er muss gangbar sein. Ein jeder Mensch trägt seine eigene, individuelle Last. Jesus sagt dazu: „Nehmt euer Kreuz auf euch und folgt mir nach.“ Das ist Kirche! Und: „Kommt alle zu mir, die ihr mühselig und beladen seid! Ich will euch erquicken. Nehmt mein Joch auf euch und lernt von mir; denn ich bin gütig und von Herzen demütig; und ihr werdet Ruhe finden für eure Seele. Denn mein Joch ist sanft und meine Last ist leicht.“

Das putzige Bild von David Berger mit Alice Weidel findet sich hier:
https://philosophia-perennis.com/2017/09/14/david-berger-afd/

David Berger war 2013 schon einmal Thema in diesem Blog:
http://kreuzzeichen.blogspot.de/2013/02/wie-macht-man-in-der-kirche-karriere.html 
Kreuzzeichen-Blog 2013

Freitag, 4. Mai 2018

Nichts wissen außer Jesus Christus, den Gekreuzigten!

Immer wieder kommen Leute zu uns ins Pfarrhaus, die ein sehr spezielles Anliegen haben. Sie haben aus dem Nachlass eines Verstorbenen ein Kreuz geerbt, möchten dies aber nicht bei sich zu Hause aufhängen, entweder weil sie selbst nicht glauben oder das Stück einfach nicht zur Wohnungseinrichtung passt. Befreundete Seelsorger berichten mir, dass sie das Phänomen ebenfalls kennen. Auch der Kunsthistoriker, der die in der Barbarakirche in Möllen eingelagerten Kunstwerke betreut, hat eine Sammlung solcher Kreuze angelegt, obwohl diese eigentlich aus künstlerischer Hinsicht nicht unbedingt erhaltenswert sind. 

Von einer Gemeinde aus Rheine habe ich sogar gehört, dass sie derartige Kreuz-Spenden sammeln und in einem besonderen Raum im Keller würdig aufbewahren. Eine andere Gemeinde hat eine Wand mit Kreuzen zu einem Gesamtkunstwerk gestaltet.

Offenbar gibt es in unserer Gesellschaft ein tief verwurzeltes Gespür dafür, dass das Kreuz etwas ganz Besonderes ist, dass man es auf gar keinen Fall zerstören oder gar entsorgen darf.

Der Streit um die Deutung und Bedeutung des Kreuzes ist alt. Vermutlich sogar so alt wie der Glaube an den Gekreuzigten, den Christus selbst. Davon zeugt u.a. einer der ältesten neutestamentlichen Texte, der 1. Brief des Paulus an die Korinther. „Denn das Wort vom Kreuz ist denen, die verloren gehen, Torheit; uns aber, die gerettet werden, ist es Gottes Kraft. In der Schrift steht nämlich: Ich werde die Weisheit der Weisen vernichten und die Klugheit der Klugen verwerfen. Wo ist ein Weiser? Wo ein Schriftgelehrter? Wo ein Wortführer in dieser Weltzeit? Hat Gott nicht die Weisheit der Welt als Torheit entlarvt? Denn da die Welt angesichts der Weisheit Gottes auf dem Weg ihrer Weisheit Gott nicht erkannte, beschloss Gott, alle, die glauben, durch die Torheit der Verkündigung zu retten. Die Juden fordern Zeichen, die Griechen suchen Weisheit. Wir dagegen verkünden Christus als den Gekreuzigten: für Juden ein Ärgernis, für Heiden eine Torheit, für die Berufenen aber, Juden wie Griechen, Christus, Gottes Kraft und Gottes Weisheit.“

Wen wundert es, dass auch heute, fast zweitausend Jahre später, der Streit noch immer tobt. Diesmal stehen – so erscheint es wenigstens – zwei Protagonisten auf der Bühne. Auf der einen Seite der bayrische Ministerpräsident Markus Söder, auf der anderen Seite der bayrische Kardinal Reinhard Marx. Zwei wahre bayrische Alphatiere – selbst wenn der eine ein Franke und der andere ein Westfale ist. Soweit ich das beobachten konnte, sind die beiden auch schon in der Vergangenheit nicht gerade Freunde gewesen. Während Kardinal Marx schon mal gerne quer zum bayerischen politischen Mainstream steht (als Westfale kann er vermutlich gar nicht anders), meint der Ministerpräsident schon mal provokativ, die Kirche solle sich lieber darum kümmern, dass die Leute wieder richtig katholisch werden, da hätte sie genug zu tun, anstatt sich unter Zuhilfenahme des christsozialen großen C - in deren Angelegenheiten einzumischen. Das waren vermutlich keine guten Vorbedingungen für den Wunsch des Münchener Kardinals, dass die Bayrische Landesregierung vor dem Erlaß in allen Behörden Kreuze aufzuhängen, mit der Kirche Kontakt aufzunehmen habe.

„Vor einem solchen Schritt sollte man eine Debatte mit Kirchen und gesellschaftlichen Gruppen führen - auch mit denen, die keine Christen sind. Was bedeutet uns die Botschaft dieses Mannes am Kreuz? Was wollen wir umsetzen? Wie? Was bedeutet es, wenn wir von christlichen Werten sprechen? Eine solche Debatte wäre anspruchsvoll, aber notwendig für den Zusammenhalt in unserem Land. Keine Partei, kein Staat, auch ich als Kardinal kann einfach selbst bestimmen, was christlich ist. Das ist vorgegeben durch den, der an diesem Kreuz gestorben ist. Das Evangelium kann man nicht einfach für sich uminterpretieren.“

Bei allem Respekt vor Kardinal Reinhard Marx: Was sollte bei einer solche Debatte (im Vorfeld) herauskommen? Haben wir nicht schon endlos debattiert, ob Kreuze in Krankenhäusern, Gerichtssäälen oder Schulen für Atheisten oder Muslime zumutbar seien? Da kann man nur herausbekommen: die einen meinen es so, die anderen meinen es anders. Und wie wird am Ende entschieden? Per Mehrheitsbeschluss? Oder durch ein Votum des Bundesverfassungsgerichts?

Gerade Muslimen wird man die tiefe Bedeutung des Kreuzes für die europäische Kultur und den Glauben kaum vermitteln können. Ähnlich wie zur Zeit des Paulus in Korinth den Juden und Griechen, fehlen auch ihnen die Voraussetzungen hierfür. Insbesondere, da der Koran ihnen offenbart, dass Christus selbst gar nicht am Kreuz gestorben ist, sondern unmittelbar von Gott in den Himmel aufgenommen wurde. Das Kreuz widerspricht daher geradewegs ihrem Glauben. Zudem war und ist das Kreuz für viele Jahrhunderte das Zeichen der Kreuzritter, was sich dem kollektiven Gedächtnis der arabischen Völker tief eingegraben hat. Darüber hinaus habe ich an der Dialog- und Kompromissbereitschaft der heutigen "Heiden", beispielsweise der Aktivisten der Giordano-Bruno-Stiftung, gewisse Zweifel.

Mich persönlich hat das Interview, das Kardinal Marx der Süddeutschen Zeitung gab, wenig erregt. Der Mann sagt ja im Grunde nichts Verkehrtes. Den richtigen Drive bekamen seine Aussagen nicht mal aus den eigentlichen Formulierungen heraus, sondern vor allem durch die Überschrift des begleitenden Artikels: „Kardinal Marx wirft Söder Spaltung vor“. Streng genommen hat der Kardinal ja nur bemängelt, dass „Spaltung entstanden“ sei, „Unruhe, Gegeneinander. Ich spüre das bis in die Familien und Pfarreien hinein.“ In der Tat hat er sich ja einige Tage mit einer Reaktion Zeit gelassen. Aber wenn er in diesen Tagen „Gegeneinander … bis in die Familien und Pfarreien hinein“ wahrgenommen haben will, dann wüßte ich gern wie er jetzt die Reaktionen auf sein Interview beschreiben würde. Zur Beruhigung hat es offensichtlich nicht beigetragen.

Ja, ich habe ihn in den letzten Tagen an verschiedenen Stellen verteidigt, da seine Aussagen im Original ja gar nicht falsch wären und wesentlich zurückhaltender als in der Presselandschaft dargestellt. Aber wenn ein doch medienerfahrener und gut beratener Kardinal ausgerechnet in einer eher linken und der CSU und Markus Söder kritisch gegenüberstehenden Zeitung wie der SZ zu dieser Angelegenheit Stellung nimmt, dann muss er sich nicht beklagen (hat er soweit ich weiß auch nicht), wenn die Zeitung die Steilvorlage nutzt. Und den Subtext seiner Aussagen hat die Überschriftenredaktion wohl auch nicht ganz verkehrt wahrgenommen, doch das Interview selbst sicherheitshalber hinter einer Bezahlschranke verborgen. So ließen auch die Stimmen der Mäßigung etwas auf sich warten.

Kein Wunder, dass sich der Kardinal einige Tage später veranlaßt sah, seine Grundüberzeugungen in Sachen Kreuz im öffentlichen Raum noch einmal und klarer zu widerholen, nachdem auch der Schweizer Nuntius Bischof Peter Zurbriggen ausgerechnet in Heiligenkreuz einige sehr undiplomatische (und wie ich finde auch etwas überzogene) Worte in dieser Angelegenheit gesprochen hatte.

Zumal Kardinal Marx in Sachen Symbolgehalt des Kreuzes ja eigentlich „gebranntes Kind“ sein müsste, da er für die abgelegten Kreuze auf dem Tempelberg in Jerusalem und an der Klagemauer heftigst kritisiert wurde. Eine alte Wunde, in der auch der päpstliche Nuntius beinahe genüßlich herumstocherte. Wobei ich ausdrücklich nicht die Meinung teile, man müsse um jeden Preis sein Kreuz und noch dazu ein besonders großes Kreuz präsentieren, wenn man es als Bischof (oder einfacher Christ) golden oder silbern um den Hals trägt. Der Meinung war nämlich auch Jean-Louis Kardinal Tauran bei seinem Besuch in Saudi Arabien nicht, denn bei seiner Begegnung mit dem Hüter der heiligsten Stätten des Islam, dem saudischen König Salman trägt er mit seinem bischöflichen Begleiter zwar sein Brustkreuz, allerdings kaschiert durch das breite Zingulum. Ich denke, dass ich die entsprechenden Filmaufnahmen damit nicht falsch interpretiere. Und ich hätte dagegen auch keine Einwände, wenn das Hofzeremoniell das hergibt. Möchte ich doch auch, dass sich der saudische Herrscher beim Staatsbesuch im Vatikan an die dort geltenden Regeln hält. Vor allem hat Kardinal Tauran durch seinen klugen Auftritt dort wohl auch konkrete Fortschritte für die Christen im Lande erzielt, wenn die Meldungen über einen möglichen Kirchenbau nicht Fake-News sein sollten.

Aber zurück zu Kardinal Marx. Auf einige wichtige Sätze dieses Interviews wäre nämlich noch einzugehen:

„Der Staat kann nicht von sich aus das Zeichen des Kreuzes definieren. Das geschieht durch die Botschaft des Evangeliums und das Zeugnis der Christen.“
„Keine Partei, kein Staat, auch ich als Kardinal kann einfach selbst bestimmen, was christlich ist. Das ist vorgegeben durch den, der an diesem Kreuz gestorben ist.“
„Das Kreuz kann man nicht haben ohne den Mann, der daran gehangen hat. Es ist ein Zeichen des Widerspruchs gegen Gewalt, Ungerechtigkeit, Sünde und Tod, aber kein Zeichen gegen andere Menschen.“
Was bedeutet uns das Kreuz überhaupt? Was heißt es, in einem christlich geprägten Land zu leben? Man muss aber auch alle einbeziehen: die Christen, Muslime, Juden, jene, die gar nicht gläubig sind.“
„Gott gibt alles, auch sich selbst - weil keine Träne, keine Gewalt, kein Krieg, kein Sterben, kein Leiden ihm gleichgültig ist. Mir bleibt da immer wieder der Atem stocken. Deswegen darf man das Kreuz nicht verharmlosen.“
„Wenn das Kreuz nur als kulturelles Symbol gesehen wird, hat man es nicht verstanden. Dann würde das Kreuz im Namen des Staates enteignet.“
„Nein, aber es steht doch dem Staat nicht zu, zu erklären, was das Kreuz bedeutet.“
„Aus christlicher Sicht sollte es aber ein Leitbild für die Politik sein, die Würde jedes Menschen zu achten, besonders der Schwachen. Wer ein Kreuz aufhängt, muss sich an diesen Maßstäben messen lassen.“

Offenbar ist es dem Kardinal besonders wichtig, zu erklären, dass das Kreuz nicht dem Staat gehört. Er wiederholt das immer wieder. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren: etwas knatschig ist er doch, dass hier Markus Söder „aus den Büschen springt“ und „Ich bin schon hier!“ ruft, wie in der Fabel vom Hasen und vom Igel. Aber auf der anderen Seite hat er schon recht. Es ist doch nicht zu leugnen, dass der Kreuzerlass ein politischer Akt ist, eine Zeichenhandlung, mit der die CSU ihr „Revier“ gegenüber Kritikern von ganz Rechts verteidigen wollte. Aber, wie ich die politische Haltung des Kardinals kenne, kann er auch dagegen im Grunde nicht haben. Trotzdem, der klügste Kommentar in der Sache kam für mich vom Augsburger Bischof Konrad Zdarsa, der seine Pressestelle verlauten ließ, dass der Bischof parteipolitische Entscheidungen grundsätzlich nicht kommentiere.

Ich bin sicher, Bischof Konrad spürte dasselbe Unbehagen wie es viele Katholiken und Christen mit dem bayrischen Kreuzerlass verbinden, aber ihm war auch klar, dass eine kirchliche Stellungnahme, und sei sie noch so klug, automatisch in den parteipolitischen Disput hineingezogen würde. 

Nur, können sich die Kirchen wirklich vor dieser Debatte drücken? Letztlich, wie man es macht, macht man es verkehrt.

Nein, ich bin nicht glücklich mit dem Kreuzerlass. Noch unglücklicher bin ich jedoch mit der aktuellen Diskussion. Als Christ kann ich eigentlich nicht gegen das Aufhängen von Kreuzen sein. Das wäre ein innerer Widerspruch. Markus Söder ist mit seiner Aktion und auch mit den nachfolgenden Begründungen sicher zu kurz gesprungen. Ich weiß aber nicht, ob das nicht letztlich doch besser ist, als gar nicht zu springen. Es tut unserer gottvergessenen Gesellschaft nämlich gut, mal wieder mit unseren religiösen Wurzeln konfrontiert und mit dem Zeichen des Kreuzes in Kontakt zu kommen. Und das sollte - aus bekannten, traurigen Gründen - auch außerhalb der kirchlichen Räume geschehen.

Mir ist überhaupt nicht recht, wenn das Kreuz in zwei oder drei Sätzen (oder auch einer ganzen Predigt oder einer ganzen Rede) als dies oder jenes definiert wird. Auch bei langen und allzu überzeugten Predigten über die Bedeutung des Kreuzes ist mir eher unwohl. Da höre ich lieber die Passionsberichte selbst oder betrachte den Kreuzweg. Im Zeichen des Kreuzes zogen Soldaten in den Krieg. Allzu oft auch gegeneinander. Im Zeichen des Kreuzes verfolgte und ermordete man Ketzer, Hexen und Juden. Den von meist staatlichen Folterknechten Gequälten hielten Kirchenleute das Kreuz vor. Es gab so viel grauenhaften Mißbrauch des Kreuzes.

Wie verständlich, dass Marx' Vorgänger Kardinal Julius Döpfner unmittelbar nach dem Krieg in seinem ersten Hirtenbrief ausrief: „Um des Gekreuzigten willen beschwöre ich Euch: Lasst den Herrn in den notleidenden Brüdern nicht vergeblich rufen. Sonst entfernt das Kreuz von allen Wänden, holt es von allen Türmen; denn es ruft das Gericht über ein Land, das sich christlich nennt und das Gesetz der Selbstsucht und des Hasses erfüllt.“

Kardinal Marx mahnt zu Recht: „Mir bleibt da immer wieder der Atem stocken. Deswegen darf man das Kreuz nicht verharmlosen.“

Ich bin nicht sicher, ob nicht auch die Argumente der Gegner des Kreuzerlasses letztlich genau das tun; das Kreuz verharmlosen, wenn sie es in erster Linie ein Zeichen der Nächstenliebe, des Mitleids, der Solidarität mit den Gequälten und Gefolterten machen und es zu einem Winkelmaß gerechter und menschenfreundlicher Politik stilisieren. Das ist ja alles richtig. Aber es ist noch lange nicht alles.

Ja, das Kreuz zeigt einen gefolterten Menschen. Doch als Christen kennen wir die tiefste Glaubensüberzeugung der zwei Naturen Jesu Christi. Ja er ist „der Mann am Kreuz“, wie er für einen frommen Katholiken seltsam flapsig – vom Münchener Kardinal bezeichnet wird. Er ist der gequälte, geschlagene, getretene, gefolterte, gekreuzigte, mit Dornen gekrönte Jesus von Nazareth. Aber der „Mann am Kreuz“ ist auch der Erlöser, der Messias, der Christus. Gestorben und begraben, hinabgestiegen in das Reich des Todes, am dritten Tage aber auferstanden von den Toten. Das Kreuz ist, was in der Eucharistie gefeiert wird: „Deinen Tod o Herr verkünden wir, Deine Auferstehung preisen wir, bis Du kommst in Herrlichkeit.“

Darin liegt doch der tiefste Grund für die Ehrfurcht, mit der sogar gänzlich unfromme Zeitgenossen dem Kreuz begegnen. Zumal in den Kreuzen, die sie im Pfarrhaus abgeben, nicht nur die ganze Lebens- und Leidensgeschichte Jesu Christi gegenwärtig ist, sondern auch die Lebens- und Leidensgeschichte ihrer Angehörigen, auf die der Gekreuzigte über viele Jahre hinabgeschaut hat.

In unserem Wohnzimmer hängen zwei Kreuze, eines davon gehörte meiner Großmutter. Ein Geschenk zu ihrer Hochzeit (soweit ich es weiß), das immer ihr Schlafzimmer schmückte. Manches Mal wird sie nach 1944 mit Tränen in den Augen zu IHM aufgeschaut haben, nachdem sie die Nachricht erhielt, dass mein Großvater nach einer grässlichen Panzerschlacht in der Ukraine durch einen verspäteten Granatsplitter zu Tode kam. Bis heute weiß keiner, wo sein Grab ist.

Das zweite Kreuz ist eine Makonde – Schnitzerei. Jesus aus schwarzem Ebenholz mit afrikanischen Gesichtszügen. Das Holzkreuz dazu habe ich selbst angefertigt. Darauf befestigt habe ich einen Glassplitter aus einer Gefangenenbaracke in Bergen-Belsen, einen Holzsplitter aus Groß-Rosen, einen Stein von den Trümmern der Gaskammern in Auschwitz und von der Rampe dort sowie einige zerbrochene Isolatoren, die ich von dort mitnehmen durfte, mit denen die Stromzäune um Birkenau gesichert waren. Was für entsetzliche Dinge mögen diese unbelebten Gegenstände „gesehen“ haben. Mich erinnert dieses Kreuz jeden Tag daran, dass „es ein Zeichen des Widerspruchs gegen Gewalt, Ungerechtigkeit, Sünde und Tod...“ ist und ein Zeichen der Solidarität Gottes mit den leidenden Menschen.

Von daher ist es meine tiefe Überzeugung, dass ich mit dem Kreuz nicht einfach irgendwie umgehen kann. Ich darf darüber nicht verfügen, das darf auch kein (wie er selbst sagt) Kardinal, nicht einmal der Papst. Das Kreuz ist nicht nur Eigentum der Kirche. Es ragt über sie heraus. Es ist DAS SYMBOL der christlichen Religion, nein der Erlösung durch Gott überhaupt und als solches in seinem Sinngehalt unverfügbar.
Im Grunde müßten uns die Hände zittern, wenn wir einen Nagel in die Wand schlagen und ein Kreuz daran aufhängen und wir müssten Tränen in den Augen haben. Tränen des Mitleids, Tränen der Trauer und Tränen der Freude.

Ich weiß nicht, was d(ies)er Glaube im Leben von Markus Söder bedeutet. Ich hoffe dass er mit seinem Handeln als Politiker und auch mit dem „Kreuzerlass“ dem Anspruch des Kreuzes gerecht wird. Ich möchte mir darüber kein abschließendes Urteil erlauben. Und ich bin überzeugt, dass der Tag kommt, wo er es selbst Jesus Christus erklären wird. Und in dem Moment wird er unter den liebenden Augen des Herrn sagen und sehen können, was gut daran war und was ihm alles nicht gelungen ist.