Freitag, 17. Juli 2015

Gesund - Schrumpfende Kirche?

(c) aufblasbare-kirche.de
Entweltlichung! Mit diesem Stichwort gab Papst Benedikt den „Aufschlag“ zu einer Diskussion, die seither die katholische Welt in Deutschland bewegt. Entweltlichung? Was soll das bedeuten? Etwa eine Anspielung auf das Jesus – Wort „Mein Königtum ist nicht von dieser Welt.“?
Das wäre auf jeden Fall eine gute Richtschnur, erst recht in der weiterführenden Formulierung: „Wenn es von dieser Welt wäre, würden meine Leute kämpfen, damit ich den Juden nicht ausgeliefert würde. Aber mein Königtum ist nicht von hier.“

Entweltlichung! Wie das konkret aussehen könnte, das hat Benedikt XVI. wohlweislich den Deutschen nicht vorgeschrieben. 

Kurz zusammengefasst hat das, was einige Leute aus den päpstlichen Worten herauslesen, neulich jemand bei Facebook: „Die Katholische Kirche muss gesund schrumpfen. Solange sie mit Kirchensteuer-Einnahmen vollgepumpt wird und diverse staatliche Vergünstigungen genießt, wird sich in der Kirche gar nichts ändern. Sie ist und bleibt ein Großkonzern, der als Institution zumindest hier in Deutschland nur mehr wenig mit dem Grundgedanken der christlichen Kirche zu tun hat. Solange aber Berufskatholiken in den Ordinariaten sowie "liberale" (sprich: mit dem katholischen Glauben nur mehr wenig zu tun habende) Theologen und Geistliche den Kurs bestimmen, werden wir uns immer weiter vom Ausgangspunkt entfernen und bald Gefahr laufen, nur mehr ein spirituelles Wellness-Angebot unter vielen zu sein oder gar völlig in der Bedeutungslosigkeit verschwinden.“ 

Dieser Text forderte mich heraus, die Möglichkeit, den Weg einer Kirchenreform in 11 Zeilen vorgeben zu wollen, grundsätzlich zu bestreiten. Daraufhin entwickelte sich eine kurze Diskussion, die in der Aufforderung mündete, es doch einfach besser zu machen. Da mir die zitierte Haltung exemplarisch für die Meinung mancher Kirchenkreise erscheint und zudem in einzelnen Halbsätzen sicher auch von kirchenkritischen oder atheistischen Kreisen Zustimmung erfährt, will ich heute mal nach dem Stöckchen schnappen. Zumal just heute die Bischofskonferenz die aktuelle kirchliche Statistik vorlegt mit bedrückenden Austrittszahlen. 

Schrumpfen wir uns also gesund! Wir brauchen ja gar nichts dazu zu tun!?!? Allzu einfache „Lösungen“ machen mich eher skeptisch. Sehr bedenkenswert finde ich den Satz von Henry Louis Mencken: „Für jedes Problem gibt es eine einfache Lösung – klar, einleuchtend und falsch." Das gilt auch für manche kirchenpolitische Diskussion.  
Die Kirche muss „gesund schrumpfen“. Hm, hier kommt mir die mittelalterliche Praxis des Schröpfens in den Sinn, diese wesentliche Heilmethode damaliger Ärzte und Baader, die sowohl Besserung wie auch Schwächung mit sich bringen konnte. Ob Gesundschrumpfen hier so gemeint ist, dass die Kirche quasi nur noch aus überzeugten, engagierten, lehramtstreuen Personen besteht? Die Frage stellt sich, ob eine solche Kirche nicht zur Sekte verkäme und neben den Zeugen Jehovas, den Neuapostolen und den Evangelikalen ein Nischendasein am Stadtrand führen würde. Ob darin dann eine Keimzelle für eine Kirche läge, die zu allen Völkern und zu allen Menschen gesandt wird? Ich bin das skeptisch. Sektierer gibt es in der modernen, säkularen, pluralen Welt in großer Zahl. 

Wir sollen eher „Stadt auf dem Berge“ „Salz in der Speise“ oder Sauerteig sein. Kann dieses Bild nicht auch so gelesen werden, dass es eine gestufte Anhänglichkeit an die Kirche Christi geben kann, dass der christliche Gedanke die Gesellschaft eher langsam und manchmal unvollständig durchdringt? Viele humane Ideale unserer Gesellschaft verdankt diese dem Christentum. Sie prägen unsere Gesellschaft auch dann noch, wenn diese die Christentümlichkeit längst hinter sich gelassen hat. Zu einem geflügelten Wort weitergeführt hat dies Wolfgang Böckenförde: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“

Wer garantiert uns, dass das „Schrumpfen“ der Kirche in irgendeiner Weise zu ihrer Gesundung beiträgt? Kann es nicht im Gegenteil auch ein Krank-Schrumpfen oder gar ein in die Bedeutungslosigkeit – Schrumpfen geben? Natürlich ist es bequemer – und das macht den Gedanken vielleicht verlockend – in einer Kirche zu sein, wo die Welt noch „in Ordnung ist“ und wo theologische Streitigkeiten nicht über derartige Zerklüftungen gehen, wie wir das heute beobachten. Aber die Zukunft einer solchen – gesund – geschrumpften Kirche ließe sich ja durchaus auch heute schon beobachten, am Leben und Gedeihen beispielsweise der Piusbruderschaft. Ist es das wirklich, was uns letztlich zu einem Neuaufbruch führt?

Ein zweiter Punkt der Argumentation betrifft die zur Zeit reichlich sprudelnden Kirchensteuern und die zahlreichen Einrichtungen, die das Wort „katholisch“ „christlich“ oder „kirchlich“ im Namen tragen. Kardinal Meisner hat die Situation – sicher zutreffend – so beschrieben, dass die Karosserie des kirchlichen Gefährts viel zu groß für den allzu schwach gewordenen Motor ist. Wir können all dies nicht mehr „ziehen“. Einige Beispiele mögen die Szenerie beleuchten: 
  • Für den Bau eines einfachen Bischofshauses finden sich in mehr oder minder verborgenen Kassen des bischöflichen Stuhls zu Limburg über 30 Mio. Eine Summe, mit der sich locker 100 komfortable Einfamilienhäuser rund um Limburg errichten ließen. 
  • Im Krankenhausbereich beschäftigen die kirchlichen Träger heute manchmal mehr Menschen als sie sonntägliche Kirchenbesucher zählen. Vor einigen Jahren war ich Zeuge, wie bei einer Pfarreinführung der Chef des Krankenhauses den Pfarrer im Namen der 2.000 Mitarbeiter der Pfarre begrüßte. In vielen Städten ist heute die Kirche der größte Arbeitgeber. 
  • Auf Kritik stößt bei vielen Menschen, dass kirchliche Einrichtungen zu einem weit überwiegenden Teil, wenn nicht gar zu 100 Prozent aus öffentlichen Mitteln finanziert werden. Der Caritasverband bewegt sich heute wie jeder andere große Träger am „Markt“. Was ist das unterscheidend „christliche“ oder gar „katholische“. Inwieweit ist die Caritasarbeit auch „missionarische“ Arbeit?
  • Die komplexe Struktur kirchlicher Organisationen, Verbände und Vereine ist historisch gewachsen. Es fällt heute oft schwer, alle Gremien mit geeigneten Personen zu besetzen. Viele Organisationen erweisen sich nicht als 100prozentig lehramtstreu oder entwickeln eine beachtliche Eigenständigkeit. Katholische Laienorganisationen betreiben z.B die Beratungsorganisation Donum Vitae. gegen den Widerstand der Bischöfe. Im Kreis Steinfurt liefern sich gerade zwei katholische Trägergesellschaften ein Ringen um die Einrichtungen eines dritten – inzwischen insolventen – Träger. 
  • Trotz nochmals gestiegener Austrittszahlen (fast ein Prozent der Katholiken haben dennoch in diesem Jahr der Kirche den Rücken gekehrt)  steigen  die Einnahmen der Kath. Kirche aus der Kirchensteuer auch in 2014 noch einmal. Wie paradox!


Die hohe Zahl an Einrichtungen, die das „katholisch“ im Namen oder im Leitbild stehen haben, verdanken wir im Grunde zwei Entwicklungslinien. Die Erste ist, dass es eine lange Tradition in der Kirche gibt, sich um Arme, Kranke und Schwache zu kümmern. Die Kirche hat Hospize, Krankenpflegedienste, Schulen und Kindergärten erfunden. Mit dem Boom der tätigen Ordensgemeinschaften entstanden zahlreiche weitere Einrichtungen, die zunächst ausschließlich aus der Arbeits- und Organisationsleistung der Ordensleute basierten. Während der nationalsozialistischen Diktatur enteignete der Staat fast alle dieser Einrichtungen und überführte sie in staatliche Trägerschaft. 
Nach dem Krieg schlug dann das Pendel in die andere Richtung aus. Man wollte nach den traumatischen Erfahrungen verhindern, dass der Staat alle Lebensbereiche in die Hand bekommt und auf diese Weise die Bürger umfassend indoktrinieren kann. Daher erdachten die Väter der Bundesrepublik ein Konzept, das zu einer starken Vielfalt unter den Anbietern von Gesundheits- und Pflegeleistungen und im Feld von Schule und Erziehung beitragen sollte. Durch ihre finanzielle Kraft und weil sie von großen Bevölkerungsmehrheiten getragen waren, übernahmen die Kirchen viele Einrichtungen wieder in ihre Obhut und übernahmen noch weitere Trägerschaften. Oft galt der Grundsatz: freie Trägerschaft vor kommunaler Trägerschaft. Und in Zeiten knapper Kassen war es und ist es für kommunale und staatliche Stellen oft günstiger, einen Kindergarten in kirchliche Trägerschaft zu geben, statt ihn selbst zu betreiben. Da alle diese Einrichtungen jedoch auch in Konkurrenz zueinander standen und ohne eine staatliche Refinanzierung nicht überleben konnten wurde das „katholisch“ manchmal eher zu einem (mehr oder minder) sympathischen Label statt zum eindeutigen „Markenkern“. Selbst Katholiken wählen heute ein Krankenhaus nicht mehr, weil dort Sonntags noch die Messe gefeiert wird oder die Kommunion ins Krankenzimmer gebracht wird, sondern weil dort ein besonders guter, manchmal dann gar muslimischer Arzt das Skalpell führt.

Wie könnte ein „Gesundschrumpfen“ bzw. eine "Entweltlichung" in diesen Bereichen von Kirche und Caritas aussehen? Kann es wirklich aus kirchlicher Perspektive sinnvoll sein, die Einrichtungen in öffentliche Trägerschaft zu überführen, bzw. an Konzerne zu verkaufen? Nicht nur, dass solche Einrichtungen auch „Werte“ darstellen, ich halte es nicht für ausgeschlossen, dass die Menschen kommender Generationen das spezifisch „katholische“ einer Einrichtung wieder wert schätzen, beispielsweise, wenn es zu einer immer weiteren Öffnung für aktive Sterbehilfe käme. Vielleicht muss man sich erst einmal eingestehen, dass es einen Wandel gegeben hat, dass es Einrichtungen gibt, die nur noch eine Art katholisches Qualitätslabel tragen, weil sie in ihre Unternehmensphilosophie einige katholische Überzeugungen eingepflanzt haben, die im Alltag in dieser Einrichtung hier und da zum Tragen kommen. (Manchmal prangen ja an einem Hotel fünf Sterne, wo es allenfalls zwei verdient hat.) Und daneben könnte es katholisch profilierte Einrichtungen geben, die sich an Menschen wenden, die ausdrücklich ein echtes, tiefes, katholisches Profil wünschen. Im Schulbereich beispielsweise oder in Pflegeheimen und Hospizen. Vielleicht muss man sich von dem Druck befreien, jede Einrichtung mit dem Stempel „katholisch“ auch mit der ganzen Fülle des Lehramtes zu beseelen. Vielleicht reicht auch ein katholisches Qualitätssigel und ein Seelsorger, der sich der Menschen im Haus annimmt, ob es nun Mitarbeiterinnen oder Schüler, Kindergartenkinder, Eltern, Alte, Kranke oder Sterbende sind. Die wirtschaftliche Seite kann man dann vielleicht getrost in die Hände eines Pietisten oder eines muslimischen Betriebswirtes legen. 

Gesundschrumpfen! Wer das fordert, wird ja mit Freude sehen: wir schrumpfen ja, wir schrumpfen sogar stetig: die Zahl der Austritte steigt, die Zahl der Gottesdienstbesucher nimmt ab, die Zahl der Taufen, Trauungen, Firmungen, Erstkommunionen sowieso. Wer eine ganz normale Kirche besucht und aufmerksam ist, wird merken, dass wir eine alte Kirche geworden sind. Ich tue mich sehr schwer, die „Schuld“ dafür den Seelsorgern, Lehrerinnen, Priestern, Bischöfen, Eltern oder gar dem 2. Vatikanischen Konzil in die Schuhe zu schieben. 
„Der Grundwasserspiegel des Glaubens“ sinkt stetig. Aber parallel steigt bei diesen – noch – gläubigen Menschen der allgemeine Pegel an Wissen, Müssen, Können. In seiner Bedeutsamkeit für das persönliche Leben ist der Glaube und das Leben in der Kirche aus der Mitte immer mehr an den Rand gerückt. Vielen reicht eine lockere Verbindung mit „der Kirche“ zwischen Taufe und Erstkommunion, Kinderkrippenfeier und Beerdigung völlig aus. Die Gründe für diese Entwicklung sind vielseitig und komplex. Der Versuch der Kirchenleute, dieser Entwicklung hinterher zu laufen, hat in den letzten fünfzig Jahren teils skurrile Blüten getrieben. „Verweltlichung“ haben daraufhin zahlreiche Beobachter den allzu zeitgeistigen Verantwortlichen vorgeworfen. Wo bleibt das Geheimnisvolle, das Mysterium? Ist das kein Ausverkauf kirchlicher Werte?

Vielleicht ist die spezielle Art der kirchlichen Organisation und Finanzierung auch ein guter Hinweis auf ein besonderes Problem, mit dem die Kirchen in Deutschland zu kämpfen haben. Mir ging das neu auf bei der Predigt von Papst Benedikt XVI. im Olympiastadion in Berlin. Die Kirche ist hierzulande halt mehr als der „mystische Leib Christi“, mehr als die „Braut Christi“ oder wie auch immer sie in ihrer geistlichen Wirklichkeit umschrieben ist. Sie ist auch eine Institution, mit zahlreichen Einrichtungen und Gemeinden, die durchaus auch soziologischen Gesetzen unterworfen ist. Darin intendiert ist schon, dass Ideal und Wirklichkeit auseinanderfallen können und dies auch oft deutlich sichtbar geschieht. Die Wirklichkeit hinkt dem Ideal hinterher. Aus dieser Glaubwürdigkeitsschere, die sowohl von sehr konservativen Katholiken beklagt wird (das Gesundschrumpfen soll ja gerade diese „Schere“ schließen), wie auch von eher liberalen oder der Kirche entfremdeten Kirchenmitgliedern, ergibt sich häufig ein Grund, dieser Institution den Rücken zu kehren. 

Der Kölner Generalvikar Meiering erklärt sich diese Abkehr von der Institution damit, dass diesen Menschen, die Kirche immer fremder geworden sei, der Austritt der letzte Schritt auf einem langen Weg. Andere nennen in Gesprächen Erlebnisse mit der real existierenden Kirche als Grund, gläubige Menschen wären sie auch weiterhin. Konservative Katholiken ja allemal!

Die Last der Institution tragen viele andere Religionen nicht so, wie die christlichen Kirchen, insbesondere die katholische. Das macht einen gewissen Reiz z.B. des Islam oder des Buddhismus aus. Man kann den Glauben rundheraus gut finden, ohne die Schwächen der Institution vorgehalten zu bekommen. Wenn eine Moschee nicht mehr „passt“ wandert man weiter – allerdings auch mit der Gefahr in die Hände dubioser Sekten zu geraten. Wenn ich als Katholik über den Glauben schwärme stopft mir mancher erst mal mit den institutionellen Schwächen den Mund. 

Ich höre häufig, dass Leute mir erklären, sie seien ja nicht wegen mir (oder meinem Pastor) ausgetreten, sondern nur „wegen des Geldes“ oder weil sie sich über dies und das geärgert hätten. Was dann geschildert wird, entspricht allerdings oft einem Zerrbild selbst der real existenten Kirche, ein diffuses Gemisch aus Missbrauch, Reichtum, Mittelalter, Sexualmoral, Limburg, Vatikan und persönlichen Enttäuschungen, weil „die Kirche“ anders handelte als man selbst es erwartete. 

Dennoch erfahre ich den Glauben dieser Menschen häufig von durchaus christlichen Überzeugungen geprägt. Wollen wir diese Menschen einfach aufgeben? Oder sollten wir doch versuchen, sie für die Kirche und ihr positives Umfeld wieder zu gewinnen oder zu halten. Es ist doch nicht wertlos, wenn berühmte Kirchen von zahlreichen Touristen aufgesucht werden, die dort mehr suchen als bedeutsame Kunstwerke. Es ist doch nicht ohne Bedeutung, wenn Menschen in schwierigen Lebenssituationen in die Kirche kommen oder an einem Kreuz ein Gebet sprechen, oder anläßlich von Geburt oder Eheschließung auf den Segen Gottes setzen. Auch Klöster verzeichnen ein steigendes Interesse neugieriger Menschen. Kann man hier erwarten, dass sie erst wieder 100prozentige Katholiken werden oder müssen wir eher nach der Maßgabe Jesu handeln: „wer nicht gegen uns ist – ist für uns“? Das erfordert von den kirchentreuen Katholiken, den Überzeugten unter uns, eine gewisse Toleranz und von den „Anderen“ eine Offenheit für katholische Vielfalt. Es kann nicht sein, dass der kleinste gemeinsame Nenner das spirituelle Leben prägt, es muss möglich sein, spezifisch katholische Frömmigkeiten zu pflegen, und wenn es die Messe des Jahres 1962 ist. Dieser Weg ist für „überzeugte“ Katholiken sicher nicht leicht, weil es ja auch bedeutet, sich selbst an Regeln zu halten, die andere Mitchristen getrost ignorieren. Das macht es um so notwendiger die Menschenfreundlichkeit und den Wesenskern der kirchlichen Lehre aufzudecken und zu vermitteln. Und gleichzeitig braucht es kirchliche Angebote die neugierig machen, für "religiös und katholisch unmusikalische Zeitgenossen". Und Leute, die auf charmante Weise auch unvollständiges Glaubenswissen vermitteln mögen und auf dumme Fragen geduldig und freundlich antworten. Toleranz ist gefragt, denn der Herr lässt das Getreide und das Unkraut zusammen wachsen … und ER weiß am Ende besser als wir zu unterscheiden, was er als Unkraut ansieht oder ob unter dem Weizen nicht auch das ein oder andere heilsame Kraut herangewachsen ist. Und mit einem anderen Wort gesprochen: Er löscht den glimmenden Docht nicht aus und bricht nicht das geknickte Rohr.

Ich denke zu den Stichworten Berufskatholiken, „liberale“ Theologen und Geistliche und Wellness-Christentum ist damit auch genug gesagt, oder?

Es hilft nichts zu jammern, dass die Kirche schrumpft und schrumpft oder zu beklagen, dass man selbst in der Kirche immer weniger Glauben findet. Als kirchentreue Katholiken sollten wir schauen, dass das „Fenster der Kirche“ - durch das das Licht Christi in die Welt hinein leuchtet, dass dieses „Fenster“ für das wir (für das ich persönlich) Verantwortung tragen, unserem Kirchenideal auch entspricht. Wir sollten mithelfen, die Institution immer mehr der Kirche ähnlich zu machen, die dem Willen Jesu entspricht. Eine Kirche, die Gottesbegegnung möglich macht, die Räume öffnet zum Gebet, die Menschen in Not zur Seite steht und zum Sauerteig wird in der Gesellschaft, in der wir Christen leben. Mit „Gesundschrumpfen“ hat dieser Weg allerdings wenig zu tun.

Oder um es mit den Worten meines Bischofs Felix zu sagen: „wir wollen eine einladende und keine ausschließende und selbstbezogene Kirche sein; wir wollen eine Kirche sein, die die Beziehung zu den Menschen sucht statt sich abzugrenzen, wir wollen eine Kirche sein, die die Charismen und Begabungen aller Gläubigen aufsucht und fördert; wir wollen eine Kirche sein, die für die Menschen da ist – gerade für die Armen und Schwachen in unserer Gesellschaft.“

Donnerstag, 9. Juli 2015

Zerbrochene Gefäße in der Hand des Schöpfers

Am vergangenen Sonntag mussten wir von Wolfgang Abschied nehmen. Ich hatte ihn in den frühen 90er Jahren in Senden i. Westfalen kennen gelernt. Dr. Wolfgang Reuter hatte 1966 mit seinen „Studien über blaue Vogeleier“ promoviert, aber sein Lebensweg war vielfältig und bunt. Ich habe ihn als Menschen und Künstler schätzen gelernt. Er war ein kluger, vielleicht gar weiser Mann, mit dem man – trotz seiner späteren Demenzerkrankung – tiefe Gespräche führen konnte. Wolfgang hatte die Fähigkeit, in einem Gespräch die richtigen Fragen zu stellen. Ein Zeugnis einer solchen Begegnung hat der ehemalige Pastor der Hallig Hooge in einem Buch aufgeschrieben, während der Trauerfeier wurde ich darauf aufmerksam gemacht. Der Text scheint es mir wert, hier geteilt zu werden. Das Bild zeigt zwei kleine Arbeiten von Wolfgang in der Raku- Technik. Besonders beeindruckten mich seine unglaublichen Landschaftsbilder aus Keramik, von denen ich leider keines besitze.
„Haltet mich nicht auf, denn der Herr hat Gnade zu meiner Reise gegeben. Lass mich, das ich zu meinem Herrn ziehe.“ Diesen Vers aus dem Buch Genesis hat er uns zum Abschied mitgegeben. 
Aber nun zur Geschichte: 

Im Sommer 1919 besuchte Emil Nolde Hallig Hooge. Er liebte, wie er später in seiner Autobiografie schrieb, „den atmenden Wechsel von Ebbe und Flut und das Wattenmeer mit dem Lauf seiner Priele und die Geschichte der verschlammten Ruinen von Rungholt und all der anderen von Sturmfluten zerstörten Dörfer und Gehöfte“. Seither haben Maler und Bildhauer immer wieder mit Vorliebe die Halligwelt aufgesucht, um sich von ihr inspirieren zu lassen. Juli 1986 kam aus Münster mit Wolfgang Reuter ein Künstler nach Hooge, der die Halliglandschaft mit Bildern aus Ton interpretierte. 
Die Begegnung mit ihm wurde mir bedeutungsvoll. Warum? Als ich seine Arbeiten sah, war ich erstaunt, wie komplex und eigenwillig die Ausdrucksmöglichkeiten von Keramik sind. Da war nicht nur die reliefartige Gestaltung der Bildoberfläche, die meine Phantasie beflügelte. Und nicht nur der Farb-Ton mit seinen vielen feinsinnigen Zwischentönen, die mich überraschten. Noch etwas anderes beschäftigte mich. 
Dem kam ich auf die Spur, als Wolfgang Reuter mir erklärte, er müsse sich in seinem Arbeitsprozess auf das Unberechenbare einlassen. Ich horchte auf und fragte ihn, was er damit denn meine?
Wer kreativ mit Ton arbeite, erklärte er, der stoße fortlaufend auf die Grenzen dessen, was berechenbar ist: „Du musst die Grenze des Kalkulierbaren überschreiten. Denn in dem Augenblick, wo der vorbereitete und glasierte Ton in den Ofen kommt und bei 900 bis 1180 Grad gebrannt wird, gestalten Feuer und Hitze in einer menschlich nicht mehr berechenbaren Eigendynamik mit“, meinte er. Darum sei jedes Stück einmalig, jedes eine eigene, nicht wiederholbare Arbeit.
Auch äußere sich das Unberechenbare darin, dass Gefäße und Platten in der hohen Brenntemperatur leicht Sprünge bekämen und reißen. Es sei eben nichts berechenbar, nichts vorhersehbar.
Wie im Leben – oder? Als er dies sagte, umspielte ein bitteres Lächeln seine Lippen. 
„Es ist so“, erwiderte ich. „Wir Menschen gleichen dem Ton, der großartig ist in seinen Möglichkeiten und vielseitig verwendbar, doch leicht Risse bekommt und ...“
„Es hat für mich Augenblicke gegeben“, fiel er mir ins Wort, „da habe ich bis ins Mark hinein meine Zerbrechlichkeit gespürt. Man muss nicht erst am Tode, man kann schon am Leben zerbrechen. Aber sag, muss nicht da, wo Menschen sind, auch ein Töpfer sein, der selbst mit zerbrochenen Gefäßen etwas anfangen kann und will?“
„Nicht auszudenken“, erklärte ich, „was Gott aus den Rissen und Trümmern unseres Lebens machen kann, wenn wir uns ihm ganz überlassen. Denn: „Nahe ist der Ewige denen, die zerbrochenen Herzens sind und den Niedergeschlagenen hilft er“.“

(Aus dem Buch: „Eine Handvoll Erde im Meer“ - Halliggeschichten des ehemaligen Halligpastors Dietrich Heyde.