Mittwoch, 17. Februar 2016

Ein Paukenschlag aus Münster!

Es war ein „Paukenschlag“, als am Valentinstag einer der profiliertesten Münsteraner Pfarrer seinen Rücktritt vom Pfarramt und eine Auszeit in einem Kloster ankündigte. Er tat das mit einer Erklärung, die mich (und manche andere) sehr beschäftigt. Dass ausgerechnet dieser, kunstsinnige, kluge, nachdenkliche, engagierte Pfarrer, der mit vielen Ideen und Projekten sicher zur Avantgarde der kath. Kirche im Bistum Münster gehört, für sich selbst keine Perspektive mehr im „klassischen Pfarramt“ sieht, diese Tatsache stellt ja auch die Frage an mich (und alle Kollegen): „Warum machst Du eigentlich noch weiter?“ 

Doch zunächst einmal die Zitate aus der langen Erklärung von Pfarrer Frings, die mich besonders angerührt haben: 

„...an diesem Wochenende habe ich den Gemeindemitgliedern mitgeteilt, dass ich auf meinen Wunsch hin … als Pfarrer entpflichtet und als Priester beurlaubt werde. Ich werde weiterhin Priester bleiben... 
An allen Orten, an denen ich als Priester wirken konnte, war ich so, dass ich auf nichts anderes gewartet habe. Innere und äußere Umstände führten zu einer hohen Zufriedenheit. … Aber es stellt sich mir verstärkt die Frage: Wofür lebe ich?
... Solange ich lebe, kenne ich nur eine schwindende Zahl bei den in der Kirche Aktiven und eine wachsende bei den Kirchenaustritten. Die Reaktionen auf dieses Phänomen sind bei Kirchenleitung, Gemeindeleitung und in den Gemeindegremien sehr ähnlich. Gemeinden, Seminare und Klöster werden geschlossen oder zusammengelegt, um dann meist das Bisherige weiterzumachen. 
Als ich 1980 mit dem Studium begann hieß es, die Nachwuchszahlen gehen bergauf. ... Inzwischen steuern die Eintrittszahlen in den Seminaren mancherorts auf eine Null-Linie zu. Wir gestalten die Zukunft von Kirche in den Gemeinden immer noch nach dem Modell der Vergangenheit. ...
Es besteht bei den Antworten auf die Fragen, die sich uns in dieser Umbruchszeit stellen, kein Konsens. Hinsichtlich des Pastoralplans für unsere Gemeinde kam auf die Frage „Was wünschen sie sich für die Zukunft?“ auch die Antwort „Das alles wieder so ist wie vor 30 Jahren“. Diese Antwort halte ich für die ehrlichste, die mehrheitsfähigste und eine, die ich sogar nachvollziehen kann. Und doch ist es diejenige, deren Wunsch am unwahrscheinlichsten in Erfüllung gehen wird. In was für einem Dilemma befinden wir uns, wenn Wunsch und Wirklichkeit so eklatant im Widerspruch stehen?
Unsere zahlreichen Kindergärten und Schulen werden als Chance der Glaubensverkündigung gesehen. Ist diese Hoffnung in den letzten Jahrzehnten in Erfüllung gegangen? ... Wurden die Erwartungen der letzten Jahrzehnte erfüllt, als wir auf noch mehr Erzieher/innen zurückgreifen konnten, die eine Glaubenspraxis kannten und lebten?
Was sich unter dem Begriff ´Caritas´ herausgebildet hat, ließ der Kirche lange Zeit höchsten Respekt zukommen. Das soziale Engagement war eine gute Begründung für eine Kirchenmitgliedschaft. Die letzten Umfragen haben gezeigt, dass die Menschen Caritas und Kirche kaum mehr zusammen sehen. ...
... Entwickelten sich die Modelle der begleitenden Katechese in einer Zeit, in der sie als Ergänzung zum Besuch der Sonntagsmesse verstanden wurden, so stehen sie heute an ihrer Stelle. Begründet wird das Festhalten an diesem Modell mit der Hoffnung, dass die Saat eines Tages aufgehen werde. Die erste Generation, von der man das erhoffte, kommt ins Rentenalter und tritt vermehrt aus der Kirche aus, wie die letzten Austrittszahlen zeigten. 
Die Glaubenspraxis der Menschen hat sich geändert, aber das Kirche sich an dieser Stelle nicht verändern darf, da sind sich Fernstehende und Verantwortliche einig wie selten. Die Einen wollen nicht die Tradition und die Anderen nicht die Hoffnung aufgeben. 
Wir haben den Satz ´Die Menschen da abzuholen wo sie stehen´ gelernt umzusetzen. Jetzt müssten wir noch den Umstand akzeptieren, dass immer mehr Menschen gar nicht dahin wollen, wo wir sie hinführen möchten, nämlich zur Mitfeier dieser Sakramente. 
...Ich bin kein Verfechter des ´heiligen Restes´, wohl aber eines mutigen Abschiednehmens vom Gewohnten, auch wenn es Ärger gibt. Ermöglichen wir allen alles, aber sagen wir auch, was das kostet, und zwar nicht nur an Kirchensteuern, sondern auch im Leben, am Werktag wie am Sonntag. Uns kann das Mitglieder kosten, aber das tut die jetzige Praxis auch. Vielleicht gewinnen wir aber auch Menschen und an Glaubwürdigkeit. Das Risiko ist es mir wert.
Ich feiere mit Freude die Messe, am Sonntag wie am Werktag. … Dennoch wächst der Spagat zwischen den immer seltener im Leben der Menschen stattfindenden Gottesdienste (Hochzeit, Taufe, Erstkommunion, Firmung, Beerdigung, Jubiläum, Weihnachten) und der inneren Gestimmtheit dafür, dem Grundgerüst, das man zum Mitfeiern vielleicht braucht. ...
Foren, Synoden, Umfragen, Erhebungen, Untersuchungen, Dialoge, Beratungen, Pläne – all das sind notwendige Aktionen angesichts der aktuellen Probleme. Viele Gespräche und Überlegungen bringen Erkenntnisgewinn. Dennoch fällt die Bilanz ernüchternd aus, hat sich doch am Bedeutungsverlust vom in der Kirche gelebten Glauben nichts geändert...
Wir sind Teil einer gesellschaftlichen Entwicklung, auf die wir nur einen marginalen Einfluss haben. ...
Seit der Gemeinschaft der Apostel hat es nie eine ideale Gemeinschaft in der Nachfolge Jesu gegeben. Es ist jedoch ein Unterschied, ob diese Gemeinschaft sich ausbreitet, Gemeinden gründet, Kirchen baut und Gesellschaft beeinflusst oder ob man Zeit seines Lebens einen Konsolidierungsprozess erfährt, in dem gleichzeitig die Servicementalität wächst. Ich erlebe einen ununterbrochenen Rückzug. Alle Korrekturen sind schon mit einem Verfallsdatum oder Fragezeichen versehen und mir fällt es zunehmend schwer, mich in diesem Kontext zu engagieren. ...
Alles bisher Gesagte klingt nach Veränderung und Entschiedenheit. Dies ist aber etwas, das man nicht von Anderen erwarten sollte - vielleicht nicht einmal von einer so alten und noch immer in Zahlen großen Kirche wie der Unsrigen. Erwarten darf man das letztlich nur von sich selber!
Mir ist die Perspektive abhanden gekommen, angesichts der Entwicklung und der Aussichten. ... Die Strukturveränderungen habe ich aus Überzeugung mitgetragen. Eine Erneuerung habe ich davon nicht erwartet und würde ich auch von Veränderungen wie z.B. bei der Zulassung zum Priesteramt nicht erwarten.
Es ist auch nicht so, als ob ich wüsste, wie der Weg in die Zukunft für Kirche und Gemeinden auszusehen hat. ... Ich werde gehen und suchen. 
Mit aller Klarheit und Deutlichkeit sage ich am Ende dieser Stellungnahme, dass ich niemandem einen Vorwurf mache. ...
Meine Bewunderung gilt allen, die in den Gemeinden in dieser Zeit aktiv bleiben. ...“

Diese Worte gehen mir in dieser Woche nach und sie werden auch den Priesterrat im Bistum Münster aktuell beschäftigt haben, das Gremium, dessen Sprecher Pfr. Frings ist (war). Wenn ich die Reaktionen richtig mitbekomme: Die Erklärung ist weitgehend mit Respekt aufgenommen worden und zwar quer durch das Spektrum der Kirche. Kaum eine hämische oder spöttische Reaktion (mal abgesehen von der dämlichen Zuspitzung auf Helene Fischer in Focus und BILD). Etwas schmunzeln musste ich über einige unentwegte Tradis, die natürlich gleich die richtige Antwort parat hatten: nicht 30 Jahre zurück ist der richtige Schritt, nein es müssen mindestens 60 sein, also zurück zur „Tridentinischen Messe“ und zur alten Kirchenzucht! Aber so einfach kann die Antwort nicht sein, denn dann sähe man durchaus blühende Kircheninseln dort, wo die Vergangenheit konserviert wird. Ja, liebe Tradi's – ich sehe wohl, dass es durchaus muntere altrituelle Gemeinden und Aktivitäten gibt. Aber um den Preis eines Aderlasses der Feld-/Wald- und Wiesengemeinden. Es gibt auch andernorts beachtenswerte Aufbrüche, aber von einem Weg für die ganze Kirche, von einem Aufbruch in diese oder jene Richtung ist noch weit und breit nichts zu sehen. Aber kann dieses „zurück“ zur „guten alten Zeit“ ein Weg in die Zukunft sein, auch wenn er hier und da Erfolge zeitigt?

Alles klingt nach „Veränderung und Entschiedenheit“, wie Pfr. Frings zu Recht feststellt! Doch selbst in seiner eigenen Gemeinde, mit mutigen Aufbrüchen (z.B. in der Erstkommunionvorbereitung) kommt manches Ermunternde und manches Enttäuschende dabei rum. Die Vision, das Aufblühen einer neuen Glaubenskultur ist kaum erkennbar. Es wächst noch manches Unkraut unter den Getreidehalmen. Und ich fürchte, wir können nicht viel mehr tun, als dieses Durcheinander geduldig zu ertragen, denn wer das Unkraut ausrauft, wird auch die Ähren schädigen. 

Es stellt sich die Frage nach einer Kirchenvision. Derer gibt es sicher die ein oder andere. Aber bis heute keine gemeinsame Vision, eine, die Getaufte, Gefirmte, Beauftragte und Geweihte zu einer Jüngerschaft zusammenschweißt. Kardinal Woelki schreibt in seinem aktuellen Hirtenwort zur Fastenzeit 2016: „Doch ohne eine gemeinsame Vision sind weder Aufbruch noch Weitergehen möglich. Neue Wege entwickeln nur dann eine Überzeugungskraft, wenn sie von einer Vision geleitet sind, die möglichst viele Menschen teilen.“ Der Kölner Kardinal verweist auf Abraham, der auf Gottes Ruf hin ins Ungewisse aufbricht, und stellt fest: „Auch heute spüren wir, dass die augenblickliche Form unseres Kirche-Seins vielerorts nicht mehr passt. Wir sehen das unter anderem daran, dass von ihr nur noch eher selten eine wirklich prophetische Kraft ausgeht, dass sie unseren eigenen Glauben nicht mehr ausreichend nährt und uns darum kaum noch missionarisch und evangelisierend sein lässt.“ Eine bemerkenswerte und schonungslose Analyse. 

Spannend ist, dass ein nicht unwesentlicher Teil dieses lesenswerten Hirtenwortes sich dem Einsatz für das Priestertum widmet. „Grundlegend ist dabei die Rückbesinnung auf die je eigene Berufung. Denn es erfordert tiefes Gottvertrauen, gewohnte Dinge zu lassen oder Ungewohntes zu tun.“ Bei aller Sympathie für die an und für sich völlig richtigen Gedanken; doch hier möchte ich widersprechen. Grundlegend ist die Besinnung auf die gemeinsame Berufung, Jünger Jesu Christi zu sein, in unterschiedlichen Diensten, Ämtern und Verantwortlichkeiten. Vermutlich mühen wir uns heute noch allzu sehr um Struktur und Hierarchie der Kirche.  

Ich bin keinesfalls dafür, das Priesteramt zu nivellieren. Wir brauchen Priester, unbedingt! Aber zur Zeit ist das priesterliche Charisma der Leitung mir zu stark ein „Charisma“ der Bestimmung und der Allverantwortlichkeit. Das frisst an der priesterlichen Berufung. Ein Priester muss nicht die Strippen ziehen beim Bau eines Pfarrheims. Er muss auch nicht Chef von Hunderten von Mitarbeitern sein. Es baut die Kirche nicht auf, wenn Priester und Bischöfe für jedes noch so weltliche Detail „Letztverantwortung“ übernehmen. Der Priester sollte dagegen derjenige sein, der durch Verkündigung und Sakramentenspendung eine innere Struktur in seine Gemeinde bringt, eine Struktur, die die Gemeinde zusammenhält und ihr ein Rückrat verleiht. Priester sollten – gemeinsam mit anderen Getauften ein spirituelles Netzwerk aufbauen, an das sich zahlreiche christliche Initiativen anknüpfen können und das pastorales Handeln durch die Getauften ermöglicht. 

Wie kommt es eigentlich, dass bei allen „Reformüberlegungen“ die Sorge um das rechte Verständnis des Priestertums sofort oben auf der Agenda steht? Als Kirche haben wir Zeiten überlebt, in denen ein greiser Papst seine Amtsführung einem „Kardinalnepoten“ überließ und wo Bischöfe, die nicht einmal eine Weihe empfangen hatten, gleich mehreren Bistümern vorstanden. Beispiele dieser Art, wo die Amtsführung der Priester sich sehr weit von seinen Idealen und Grundlagen entfernte, finden sich in der Geschichte zu Hauf. Da ist mir unter den Bedingungen der heutigen Zeit um die Zukunft des „besonderen Priestertums“ nicht bange. Auch der Kartäusermönch in seiner Zelle ist Priester. Es mangelt ihm nichts! Das „Priestertum des Dienstes“, wie Kardinal Woelki ein Wort des 2. Vat. Konzils zitiert, trägt ein stabiles Identitätspotential in sich. Was Priester heute „verunsichert“ ist nicht ein bröselndes Priesterbild, es sind die Umstände, unter denen sie Dienst tun müssen. 

Aber zurück zur „Strukturvision“. In dieses Netzwerk eingewoben sollten Klöster und geistliche Gemeinschaften sein, die nicht nur für sich leben und beten, sondern je nach ihrem Charisma auch die Gemeinde aufbauen und die Christen untereinander vernetzen. Dazu tragen auch streng kontemplative Gemeinschaften in bemerkenswertem Maße bei. 
(Es scheint mir bezeichnend, dass Pfr. Frings ausgerechnet ein Kloster für seine (vorübergehende) Auszeit wählt und mit den Worten schließt: „Ich möchte an anderer Stelle für sie und alle Menschen glauben, beten und leben.“)
In ein solches Netzwerk eingebunden, sollte auch eine Gemeinde der Petrusbruderschaft, eine charismatische Gruppe oder eine Gemeinde des Neokatechumenats als Teil eine Ganzen bereit sein zum selbstlosen Dienst im Auftrag Jesu Christi. Damit meine ich u.a. die Bereitschaft, die Menschen nicht für sich zu gewinnen, sondern auszusenden und auch weiterzuschicken, bis sie die Quelle finden, aus der das reine Wasser des Evangeliums sprudelt. Allzu sehr wollen wir noch alles für uns festhalten. Unseren „tollen“ Pastor (der nicht wechseln darf), unsere Jugendgruppe, meine KAB, unsere Pfarrbüroöffnungszeit, ... Welcher Schaden da manchmal angerichtet wird, wenn so viele Kräfte in Kampf und Streit investiert werden, davon können manche (Bistums-)Verantwortliche ein Liedchen singen.

Unsere Priester müssen „Geistliche“ im wahren Sinne sein können. Sie müssen die Chance bekommen, eine Lebensform für sich zu entwickeln, wo sie auch Zeit zum Auftanken, zum Gebet für die ihnen anvertrauten Menschen, zur festlichen und feierlichen Liturgie haben. Sie brauchen die Eingebundenheit in Gemeinschaften von Menschen, die sie tragen. Da kann ich mir Ordensleute vorstellen, Alleinstehende und Verheiratete. Das wird neue Schwierigkeiten und Konflikte mit sich bringen, wie immer, wenn Menschen miteinander leben. Aber das wird auch glaubwürdig in die Welt ausstrahlen, denn die Getauften kennen all dies aus dem eigenen Leben. 

Wir müssen als Christen Formen des intensiven Gemeinschaftslebens entwickeln, die aber nicht exklusiv sind. Sie müssen Raum lassen für Andere, Raum und Offenheit für neue christliche, pastorale Initiativen, Raum für Menschen, die auftanken wollen oder einfach nur Obdach für Leib und Seele brauchen. Und diese kleinen Gemeinschaften, die auf unterschiedliche Weise Leben und Glauben teilen (auch unterschiedlich eng und intensiv) brauchen eine spirituelle Vernetzung untereinander. Sicher kann man hierfür ein Konzept und Ideen entwickeln, wie ein Miteinander über „Pfarreigrenzen“ hinweg möglich sein kann. Natürlich braucht all das auch Verbindlichkeit und „Visitation“. Vom Ordensleben können wir auch für die allgemeine Seelsorge manches lernen. 

Natürlich sind auch Priester denkbar, die allein, zölibatär in ihrer Gemeinde leben und arbeiten und auch auf diese Weise inspirierende Kraftquelle sind. Die Menschen, auch die Priester, sind verschieden. 

Um die zahlreichen, nicht priesterlichen Arbeitsfelder kümmern sich demnächst vielleicht unterschiedliche Leute, die im Team organisatorische Aufgaben übernehmen, sich um Kirchen, Kindergärten und Versammlungsräume bemühen. Es ist wichtig, dass die Kultur der Mitverantwortung gestärkt wird, die u.a. auch durch die bequeme Kirchensteuerfinanzierung abgenommen hatte. So konnte man bisher alle Verantwortlichkeit an die abgeben, die auch die finanzielle „Macht“ in den Generalvikariaten an sich gezogen hatten. 

Bei den weiter sinkenden Priesterzahlen (die ja mit sinkenden Zahlen bei den Ordensleuten, den pastoralen Mitarbeitern und bei den Gläubigen einher gehen), werden wir eine ganz neu Organisationsform kirchlichen Lebens entwickeln müssen. Wir brauchen eine tragfähige „Alltagsstruktur“ in der kath. Kirche, die sie Säulen des Gemeindelebens in Gemeinschaft und Liturgie, Verkündigung und Caritas sichert, notfalls auch ohne die Mitwirkung von Priestern. Und wir brauchen so etwas wie eine „Sonntagsstruktur“, die es den Menschen ermöglicht, mit den Priestern und notfalls mit Gottesdienstbeauftragten den Herrentag zu feiern in der Eucharistie, damit diese Quelle und Höhepunkt kirchlichen Lebens sein kann. Wie kann das gehen, wenn die Zahl der Priester schneller sinkt als die Zahl der Gemeinden und Gottesdienstorte? Welche liturgischen Formen sind möglich und nötig, wenn an einem Sonntag einmal keine Eucharistie gefeiert werden kann? 

Aber selbst wenn das gelänge: Keine Kirchenreform wird die Gesellschaft in Europa umkrempeln. Besonders zwei Aspekte machen mir große Sorge: das scheinbare "Verschwinden" Gottes und die Individualisierung.

Gerade las ich einen Text von Pastor Wilhelm Kolks aus Spellen über die Gemeinden in Ghana. Dort heißt es: „Das einzige, was die Christen in Ghana nicht verstehen ist, wenn jemand nicht an Gott glaubt.“ Auf dieser Voraussetzung beruhte die mehr oder minder glorreiche und erfolgreiche Kirchengeschichte bis in unsere Zeit. Darauf baut auch die große Chance der Kirche in Afrika und Asien. Aber diese Voraussetzung schwindet in Europa mehr und mehr. Es gibt bei uns eine spürbare Gotteskrise. Zahlreichen Menschen fehlt nichts, wenn ihnen Gott fehlt. Doch damit fehlt uns der fruchtbare Boden, fehlen uns die Möglichkeiten, mit unserer Botschaft bei den Menschen anzuknüpfen. Alle Reformen, Millionen kreativer Ideen und menschennahe Gottesdienste haben es nicht vermocht, den schleichenden Auszug Gottes aus dem Leben der Menschen aufzuhalten. Auf die Verkündigung des Evangeliums erfolgt kein kraftvolles Echo mehr. 

Über die Gründe kann man vielfältig spekulieren. Und es ist wirklich zum Verzweifeln. 

Ich glaube auch nicht, dass der Heilsweg darin liegen kann, uns an Sprache und Stil „der Welt“ anzupassen, aus den Gottesdiensten Events zu machen, mit hohem Aufwand an Technik und Kreativität unsere Verkündigung auf die Höhe des medialen Zeitalters zu hieven. 

Wir brauchen eine Verkündigung und eine Kirche, die mit einfachen aber ehrlichen Mitteln und Worten auskommt. Wir müssen liturgische Formen für den Alltag finden, wo die Menschen sich aufgehoben und daheim fühlen. Wo sie ihr Versagen eingestehen dürfen, ohne „verprügelt“ zu werden, wo sie ihre Dankbarkeit lassen können; wo sie ihre Sorgen und Bitten abladen und Trost erfahren. Wo sie sich in Gemeinschaft geborgen fühlen oder einen Raum für Stille und Gebet eröffnet bekommen. Ich fürchte, es hilft nicht, wenn man sie mit einem hohen Ideal konfrontiert und einem unerreichbar reinem, christlichen Leben. Da spricht mich das Bild von Papst Franziskus an, die Kirche sei ein „Feldlazarett“. Was sicher nicht bedeutet, dass nur lauter Verwundete und vom Leben Zerschlagene dort „auftanken“ dürfen. Diejenigen, die vom Leben beschenkt wurden (weil vieles „glatt“ lief) stärken in solchen Gemeinden diejenigen, die es schwer hatten. 

Wir brauchen eine lebendige Vielfalt an Gottesdiensten und rituellen Formen. Und wir müssen für die Sakramente einen Weg finden, sie an diejenigen zu spenden, die ihrer bedürfen und die aus ihnen Kraft empfangen. Das Potential der Sakramente könnte gewaltig sein. Das spüren wir doch durchaus auch dann, wenn die Menschen heute kommen, um aus Traditionsbewußtsein die Kinder zu taufen, sie zur Kommunion zu führen; die Firmung zu empfangen oder den Bund für's Leben schließen. Wann immer wir die Suche nach Gott in ihnen entdecken, sollten wir durch Verkündigung, Ritual und Sakrament einen weiteren Schritt nach vorn auf diesem Glaubensweg ermöglichen. Was spricht dagegen, auch diejenigen liebevoll zu begleiten, die im Glauben den „guten alten Zeiten“ verbunden sind, ob diese nun 30 oder 60 Jahre zurück liegen? Dass heute noch Leute zu uns kommen, weil man halt den kirchlichen „Service“ beanspruchen möchte, dafür tragen wir mindestens so viel Mitverantwortung wie die Menschen selbst. 

Auch wenn ich hier einige Linien einer Kirchenvision entwickelt habe, bleibe ich skeptisch mit Blick auf offensichtliche Erfolge „neuer Modelle“ der Gemeindewerdung und Organisation. Die Großpfarreien sind ein Versuch, auf schwindende Recourcen zu reagieren, ein Mangel, der sich vor allem im Mangel an überzeugten und engagierten Christen äußert, vom Kind als Messdiener über das Kirchenvorstandsmitglied, den Pastoralreferenten und die Ordensfrau bis hin zum Priester. Natürlich sind diese Strukturveränderungen notwendig, aber trotz aller Mühen noch lange kein Aufbruch. 

Das aus Afrika und Asien inspirierte und vielversprechende Modell der kleinen geistlichen Gemeinschaften hakt für mich in Europa an den oben genannten Problemen; zunächst am Schwinden des Gottesglaubens an sich;  am geringeren Stellenwert Gottes im Leben der Menschen heute (Gott ist eine Randerscheinung geworden, gefragt in positiven wie negativen Extremsituationen, er ist nicht mehr Begleiter in allen Lebenslagen des Alltags), kaum jemand stützt seinen Lebensentwurf auf die Existenz Gottes. Mag das in dieser Schärfe auch lange nicht bei allen Zeitgenossen zutreffen, so ist es doch eine erfahrbare Tendenz. Vielleicht liegt unsere Aufgabe darin, Zweifel an der Abwesenheit Gottes zu wecken, die allzu Satten und Beruhigten zu verunsichern und das „Gottesgerücht“ wach zu halten. Dass wir selbst – trotz aller Zweifel – glauben, dass es Menschen gibt, die ihr Leben auf die „Karte“ Gottes setzen und trotzdem mitten im Leben stehen, das könnte ja durchaus dazu beitragen.

Ein zweites großes Hindernis dürfte in der Tatsache liegen, dass unser „modernes“ Leben sehr stark auf Unabhängigkeit und Autonomie, auf Freiheit des Einzelnen setzt. Das wirkt dem kirchlichen Wunsch nach Gemeinschaftsbildung diametral entgegen. Die Verbundenheit in größere Gemeinschaften hinein schwindet und schwindet. Davon kann jeder Vereinsvorsitzende ein Liedchen singen. Die grassierende „Politikverdrossenheit“ ist auch ein Symptom dieser Entwicklung. Die Identifikation mit dem Stadtteil, dem Dorf, einem Verein, einer „Schulgemeinde“ und letztlich auch einer Kirche und einer Gemeinde sinkt bzw. wird im Konfliktfall leichter aufgegeben.  Niemand möchte sich binden, wobei Ausnahmen die Regel bestätigen. 

Gleichzeitig stelle ich durchaus eine Sehnsucht nach Gemeinschaft fest, die dem Menschen eingeschrieben scheint. Ziel dieser Sehnsucht ist heute stark die Kernfamilie und evtl. noch der engste Freundeskreis. Es ist interessant, was hier für durchaus kluge Sehnsuchtstexte in den sozialen Netzwerken geteilt werden. Allzu oft aber blenden diese aus, dass der Wunsch nach tragfähiger Gemeinschaft auch einen Preis hat, dass es eigenes Engagement erfordert, Investitionen ... und dennoch keine Garantie bietet, dass die Gemeinschaft auch trägt. Daher bekommen verwandschaftliche Bande heute wieder eine starke Bedeutung, weil diese nicht so leicht gekappt werden können. Wird es uns als Kirche gelingen, um die Botschaft Jesu herum, zweckfreie und tragfähige Gemeinschaften aufzubauen? Und das inmitten einer Dienstleistungsgesellschaft, wo sich alles kaufen lässt, auch der „kirchliche Dienst“? Dennoch: uns ist der Hl. Geist verheißen, die göttliche Kraft die Menschen zu einer Gemeinschaft zusammenführt. Viele Menschen heute vermissen tragfähige Gemeinschaft, vielleicht gelingt es tatsächlich, diese unter der Führung des Hl. Geistes neu zu begründen. 

Ich bin zwar skeptisch, aber nicht hoffnungslos! 

Wesentlich dürfte für die Zukunft sein, dass die Evangelisierung und Mission, die Weitergabe der Botschaft Jesu Vorrang bekommt vor dem Erhalt von Strukturen und Traditionen der Kirche. Wir verkündigen in erster Linie Jesus Christus, nicht eine bestimmte Kirchengestalt. Da „Tradition“ ein Reizwort darstellt, möchte ich auf die Unterscheidung Yves Congars hinweisen, es gibt die „kirchliche Tradition“ und „zeitgebundene Traditionen“.  Das macht natürlich die Gestalt der Kirche nicht willkürlich, im Gegenteil. 

Kardinal Woelki hat schon recht; es bleibt uns Christen nichts Anderes, als „Volles Risiko“, ein Aufbruch im Nebel in eine ungewisse Zukunft, wie es auch – mit Blick auf Abraham – im Hebräerbrief beschrieben wird. „Aufgrund des Glaubens gehorchte Abraham dem Ruf, wegzuziehen in ein Land … und er zog weg, ohne zu wissen, wohin der kommen würde...“

Beim Lesen des Textes von Thomas Frings, kam mir sofort ein Lied von Hannes Wader in den Sinn, dass ich hier zitieren möchte, auch wenn es aus einer anderen Kultur als der Christlichen stammt. Die ursprünglichste Version lehnt sich an ein Gedicht von Ferdinand Freiligrath an: 

Das war ´ne heiße Märzenzeit, 
Trotz Regen, Schnee und alledem! 
Nun aber, da es Blüten schneit, 
Nun ist es kalt, trotz alledem! 
Trotz alledem und alledem- 
Trotz Wien, Berlin und alledem, 
Ein schnöder scharfer Winterwind 
Durchfröstelt uns trotz alledem! 

Die Waffen, die der Sieg uns gab, 
Der Sieg des Rechts trotz alledem, 
Die nimmt man uns sacht wieder ab, 
Samt Pulver, Blei und alledem! 
Trotz alledem und alledem- 
Trotz Parlament und alledem, 
Wir werden unsre Büchsen los, 
Soldatenwild, trotz alledem! 

Heißt gnädiger Herr, das Bürschlein dort, 
Man sieht´s am Stolz und alledem! 
Und lenkt auch Hunderte sein Wort, 
Es bleibt ein Tropf, trotz alledem! 
Trotz alledem und alledem- 
Trotz Band und Stern und alledem, 
Ein Mann von unabhäng´m Sinn, 
Schaut zu und lacht trotz alledem! 

Und wenn der Reichstag sich blamiert, 
Professorhaft trotz alledem! 
Und wenn der Teufel reagiert, 
Mit Huf und Horn und alledem! 
Trotz alledem und alledem- 
Es kommt dazu trotz alledem, 
Daß rings der Mensch die Bruderhand 
Dem Menschen reicht trotz alledem!“

Trotz alledem und alledem... Ich denke, es wäre jemandem – der lyrisch mehr drauf hat als ich – leicht möglich die Situation der Kirche in Europa heute in diesem Versmaß und zu dieser Melodie zu besingen...

Trotz alledem und alledem, 
geb ich nicht auf, trotz alledem. 
Der Herr steht immer wieder auf, 
in seiner Kirch', trotz alledem.

Für die Freunde der Dicht- und Sangeskunst zur Inspiration hier drei Fassungen des "Trotz alledem" gesungen von dem wunderbaren Hannes Wader: www.youtube.com/watch?v=mRWkvQEmspg

Eine alternative Fassung desselben Sängers (keineswegs altersmilde): www.youtube.com/watch?v=icQM1zhwuaE

Diese Fassung fällt ausgerechnet in die Zeit des 2. Vaticanums: 

Hier der vollständige Text von Pfr. Frings: 

Hier das Hirtenwort zur Fastenzeit von Kardinal Woelki: 

Samstag, 9. Januar 2016

Zerreißt der „dünne Firnis der Zivilisation“ oder bröselt „der Kitt, der unsere Gesellschaft zusammenhält“?

Man braucht schon ein „hartes Herz“ und eine „dicke Haut“, um auszuhalten und anzuschauen, was in Syrien, im Irak und kürzlich auch mitten in Europa, mitten in Paris geschah und weiterhin geschieht. Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber eigentlich ist es kaum auszuhalten: das Leiden der Opfer und die Brutalität und Bestialität der Täter.

Wer ist stark genug, wirklich mit den Opfern zu leiden? Ihr Leid an uns herankommen zu lassen und oft genug hilflos zu bleiben, weil man, weil ich so wenig tun kann. „Euer Herz verhärte sich nicht...“ sagt die Bibel, aber jede(r) von uns entwickelt doch solche Strategien, um sich inmitten einer unheilen Welt gegen die vielen Bilder des Leidens abzuschotten. Ob ein Stück der „vergangenen heilen Welt“ vielleicht auch im Mangel an Bildern, Filmen, Informationen begründet liegt?

Was macht das eigentlich mit uns?

(Vielleicht ist hier eine Entschuldigung angebracht, dass ich dem Gequatsche und Gefasel dieser Tage zum Thema Silvesternacht und die Folgen noch welche hinzufüge. Zur allgemeinen Einordnung: Ich bin Blogger und damit vermutlich "Rechtskatholik" und Gutmensch und damit hoffnungslos naiv. Irgendwo dazwischen wird die Wahrheit liegen, vielleicht bin auch auch einfach Beides. Wie auch immer, es hat mir geholfen eine Sammlung von Gedanken aufzuschreiben. Vielleicht lohnt sich die Lektüre ja für den ein oder anderen, dann wäre ich schon zufrieden.)

Und was macht das eigentlich mit denen, die unmittelbar betroffen waren, die selbst Opfer der Gewalt wurden – und heute zu uns fliehen. Eine Million von ihnen lebt heute mitten unter uns. Wie gehen sie um mit den Erfahrungen einer Welt, in der über lange Zeit das Gesetz des Terrors und des Krieges herrschte? Kann man – dem entkommen, einigermaßen unbeschadet in Europa neu anfangen? Oder wie sehr hat die zerrüttete Gesellschaftsordnung zu Hause auch die innere Orientierung selbst zerrüttet? Und wer trägt dann eigentlich die Schuld und die Verantwortung?

In Köln – aber auch in anderen Städten - hat es in diesen Tagen unerträgliche Übergriffe gegenüber jüngeren und älteren Frauen gegeben. Verbunden wurden diese sexuellen Übergriffe mit Diebstählen. Dass jemand klaut, das kann man ja noch verstehen, aber die Menschen- und Frauenverachtung von Taten dieser Art schockiert. Beteiligt – und wenn nur durch Herum- und Dabeistehen, wegsehen und unterlassene Hilfe waren zahlreiche (mancher spricht von 1.000, mancher spricht von 2.000 Personen) Männer, viele von Ihnen (aber nicht alle) Zuwanderer aus Nordafrika und dem nahen und mittleren Osten. Besonders verstörend: offensichtlich waren es nicht nur Mitglieder krimineller Jugendbanden, sondern u.a. auch frisch eingereiste Asylbewerber aus verschiedenen Flüchtlingsunterkünften.

Mancher von Ihnen wird vor einigen Wochen noch mit einem „Willkommen“ - Schild am Bahnhof begrüßt worden sein. Viele der Anwesenden sollen – entgegen den Weisungen ihres Propheten – stark alkoholisiert gewesen sein. Angesichts dessen kann es niemanden beruhigen, wenn „nur“ 100 Leute wirklich strafbare und strafwürdige Handlungen begangen haben.

Unglaublich viel ist in diesen Tagen zu diesen Ereignissen und Verbrechen gesagt worden. Leider aber viel zu wenige Worte der Anteilnahme und des Bedauerns. Ich hätte eigentlich erwartet, dass die Polizeiverantwortlichen und die politisch Verantwortlichen, die Vertreter der Stadt, der Bahn, der Politik und der Sicherheitskräfte überzeugend die betroffenen Frauen um Vergebung bitten und jede Hilfe anbieten, mit den traumatisierenden Erlebnissen fertig zu werden. Noch ist nicht klar, wer außer den Tätern alles Verantwortung trägt und Schuld auf sich geladen hat. Aber Gesten der Anteilnahme und des Bedauerns, dass es nicht gelungen ist, die Übergriffe zu verhindern hätte ich viel klarer erhofft. Die (eher etwas unverdienten) Prügel für ein verunglücktes Wort der Kölner Oberbürgermeisterin ist für mich ein Ausdruck davon, dass vielen Menschen die Solidarität mit den Opfern zu kurz kam.

Bricht sich eigentlich ein Polizeipräsident einen Zacken aus der Krone, wenn er – ohne in Rechtfertigungen zu verfallen – zunächst bekennt: „Es tut mir persönlich in der Seele weh, dass es mir und meinen Kollegen nicht möglich war, sie in dieser Nacht vor diesen Männern zu schützen.? Bitte verzeihen Sie uns! Wir werden uns in den nächsten Tagen absolut auf die Hinterbeine setzen, um die Täter zur Verantwortung zu ziehen!“

Viel wird in diesen Tagen darüber spekuliert, was Menschen, die in unserem Land Schutz suchen oder zu Gast sind, zu einem derartigen Verhalten gebracht hat.

Da wird der Alkohol bemüht, der Islam muss herhalten, das „Frauenbild“ der jeweiligen Länder und manches mehr. Aber, welche Erklärung wir auch finden, keine wird die gesamte Motivationslage angemessen darstellen. Vermutlich bekommt man nur dann Antworten, wenn man die einzelnen Personen und ihre Schicksal in den Blick nimmt. Aber, im Grunde interessiert mich viel eher, wie man die Personen dazu bringt, sich angemessen und sozial verträglich zu verhalten. Wie sie zu Verbrechern geworden sind, möchte ich gar nicht wissen. Und wenn es eine Möglichkeit gibt, sie loszuwerden, würde ich dem nicht im Wege stehen wollen.

Ein Unwohlsein aber bleibt auch dann, denn das Verbrechen, das Böse geht davon nicht weg. Ein Taschendieb weniger in Köln könnte ein Taschendieb mehr in Algier oder Tunis sein. Die Welt wird hierdurch kein besserer Ort; allenfalls halten wir uns die böse Welt vom Leibe. So wie es viele tun, die von „geschlossenen Grenzen“ träumen und meinen, alle Freuden und Vorteile der Globalisierung genießen – aber ihre Schattenseiten exportieren oder „außen vor halten“ zu können.

Viele Zuwanderer, auch solche, die längst Deutsche sind, ahnen in diesen Tagen, wie sehr die Ereignisse der Silvesternacht das Miteinander in diesem Lande beeinträchtigen wird. Die Verbrechern weniger, die leider als Menschenmasse auftraten, werden nachhaltige Folgen für die Mehrheit derer haben, die froh und glücklich sind, dass sie hier leben und arbeiten dürfen, dass sie hier Schutz und Sicherheit genießen. Ich fürchte sogar, die Vorfälle werden Menschenleben kosten, denn sie werden bewirken, dass eine Flucht nach Deutschland gerade für die Armen und Schwachen unter den Opfern von Diktatur, Terror und Gewalt immer weniger möglich sein wird.

Für die Ausländerfeinde und Flüchtlingsskeptiker in unserem Land hätte es nicht besser laufen können. Mit zunehmender Freude schreiben sie ihre widerliche Genugtuung „RECHT GEHABT zu haben“ ihren Kritikern und allen sogenannten Gutmenschen ins Stammbuch. Als wenn es nicht nach wie vor noch die Mehrheit der Flüchtlinge ist, die sich besser verhalten, als jeder Knigge es fordern würde. Selbst derjenige, der die Problematik der großen Flüchtlingszahlen immer mit dem Realismus gesehen hat, dass auch Flüchtlinge nicht alles gute Menschen sind, kann sich der Flut selbstgerechter Angriffe nur mit Mühe erwehren. Hier wird ein Gift in unsere Gesellschaftsordnung injiziert, dessen Wirkung erst in einigen Jahren zu Tage treten dürfte.

Besonders ärgerlich ist, dass es diesen Leuten nicht reicht, bei der Wahrheit zu bleiben und bei der durchaus traurigen Realität. Nein, es wird aufgebauscht und gepushed was das Zeug hält. Selbst gestandene Politiker zücken das Wörterbuch des AFD- und Pegida-Sprechs und reden von Schweigekartellen und Vertuschung, wo allenfalls Unsicherheit, Unbeholfenheit oder Fehler zu konstatieren wären.

Die Kölner Medien hatten umfassend und unmittelbar nach den Vorfällen berichtet, schon am 1. Januar war mir klar, dass da etwas geschehen war, was uns noch lange beschäftigen und verstören würde. Ich erinnere mich deshalb so gut, weil meine eigene Tochter an dem Tag noch am Hauptbahnhof in Köln gewesen war. Gut, ich hatte auch den Vorteil im Verbreitungsgebiet von KSTA und Express Urlaub zu machen! Als dann Schritt für Schritt klarer wurde, dass Verbrechen begangen wurden, die bis dato unvorstellbar waren sprangen auch die überregionalen Medien an. Das war sicher keine Sternstunde des Journalismus (aber ehrlich gesagt ist die Qualität mancher Berichterstattung und die vieler Schlagzeilen auch bis heute noch keine solche).

Interessant ist sicher die Frage: Was muss nun geschehen? Vorschläge gibt es ja genug und je länger ich darüber nachdenke, desto mehr Projekte fallen mir ein, die man anpacken könnte, ohne die detaillierte Aufklärung der Silvesternächte in Köln und Düsseldorf, Helsinki und Stuttgart, Frankfurt und Weil am Rhein abzuwarten:

  • Wir brauchen eine breite Debatte – gerade auch mit Menschen aus anderen Kulturen und Religionen – bezüglich des Frauenbildes. Wobei dieses Stichwort irgendwie falsch ist, das „Frauenbild“ bestimmt jede einzelne Frau für sich und es ist keine gesellschaftliche Vereinbarung. Es geht um unseren Umgang mit diesen Frauen. Welche Signale setzen wir in Deutschland durch Werbung, Medien, Pornografie, u.a. auch gegenüber Kindern und Flüchtlingen? Es soll doch niemand glauben, ohne Flüchtlinge wäre hier alles in bester Ordnung! Unsere Gesellschaft ist in Sachen Frauen/Gleichberechtigung und Feminismus sicher auf dem Weg, aber noch lange nicht am Ziel.
  • Speziell die Verfechter eines traditionell – islamischen „Frauenbildes“ sollten sich die Frage stellen, ob das (vielleicht gut gemeinte) Konzept, ihren Frauen und Mädchen einen Schutzraum (durch die Familie, durch Kopftuch, durch Verhaltensregeln für Frauen) zu schaffen wirklich zum Schutz der Frauen beiträgt. Ob es nicht vielmehr notwendiger wäre, den Jungen und Männern Respekt gegenüber jeder (auch noch so „verführerischen“ Frau) beizubringen und das natürliche, respektvolle Miteinander von Mann und Frau, von Jungen und Mädchen zu fördern. Dazu gehört durchaus auch, gerade bei Heranwachsenden, Achtsamkeit bei den verantwortlichen Eltern und Erziehungspersonen und der Respekt von Grenzen zwischeneinander (nicht nur in der Frage der Sexualität).

  • Wir brauchen auch eine Debatte über den Umgang mit Sexualität und mit unseren sexuellen Triebkräften. Auch wenn es scheint, dass wir eine aufgeklärte und abgeklärte Gesellschaft sind. Die Liste von Problemen in diesem Bereich ist in unserem Land auch ohne die Silvestervorfälle lang, wenn man auf die Problemfelder: Mißbrauch, Vergewaltigung, Grenzverletzungen, Pornografie, Prostitution etc. schaut. Ich frage mich, ob nicht gerade auch die Kirchen in diese Diskussionen Wesentliches beizutragen hätten. Und dies auch mit ihren Erfahrungen des Versagens angesichts allzu hoher Idealvorstellungen.
  • Wir brauchen in unserer Gesellschaft mehr Respekt. Nicht den „preussischen“ und sklavischen Respekt vor „Respektspersonen“, sondern den Respekt vor jedem Einzelnen, der ein Bild und Gleichnis Gottes ist. Selbst dann noch, wenn er dieses Bild und Gleichnis durch sein Handeln schlimm verunstaltet. Auch der weit verbreitete respektlose Umgang mit Politikern, Polizisten oder anderen kritikwürdigen Menschen sendet neben den eigentlichen Inhalten auch andere Botschaften. Wer sich derart abfällig z.B: über unsere Kanzlerin äußert, wie es z. T. „honorige“ Bürger bei fb tun, der sendet auch ein Signal z.B. an den pubertierenden Jugendlichen für den Umgang mit seinem Lehrer und an unbegleitete Zuwandererkind, das mit der Polizei konfrontiert ist. Wenn es ernst wird, wie in dieser Situation, dann erwarte ich von Politikern aller Couleur auf allfällige politische Spielchen zu verzichten und hart zu diskutieren, aber die „Gegner“ nicht zu entwürdigen oder der Lächerlichkeit preiszugeben.

  • Wir müssen uns ehrlich machen! Es nützt nichts, die Situationen zu beschönigen. Noch weniger nützt es Situationen zu dramatisieren. Wenn Politik, Polizei, Medien Dinge und Informationen unter der Decke oder zurück halten möchten, dient das in den seltensten Fällen dem angestrebten Ziel. Wohlfeil können dann die Kritiker nachher sagen: Seht ihr, was man uns verschweigen wollte. Je klarer die Wahrheit kommuniziert wird, desto weniger bauscht sich eine Angelegenheit künstlich auf. Wenn die verantwortlichen und „wissenden“ Stellen ihre Informationen erst kommunizieren, wenn sie längst durchgesickert sind und als „Gerüchte“ die Runde machen, verlieren diese Leute ihre Glaubwürdigkeit. Krisenkommunikation will gelernt sein. Henriette Reker musste hier gerade schmerzhaft Lehrgeld zahlen. Auf der anderen Seite wird offensichtlich zur Untermauerung der eigenen Position gerne mal ein Schweigekartell oder Geheimnistuerei konstatiert, wo die wesentlichen Fakten längst bekannt, die Verantwortlichen aber nicht mit unausgegorenen Informationen in die Öffentlichkeit wollen. Manchmal gilt nach wie vor „Gründlichkeit vor Schnellligkeit“, wobei man auch mal schnell gründlich sein kann.
  • Zur Ehrlichkeit gehört auch die Erkenntnis: Integration ist ein Kraftakt, der von beiden Seiten Anstrengungen erfordert. Und Integration verändert auch die aufnehmenden Gesellschaften. Das kann doch gar nicht anders sein. Selbst ein Ostfriese in Westfalen und ein Westfale im Rheinland vermag hiervon ein Lied zu singen. Wie viel mehr erst, wenn Menschen aus Kulturen kommen, deren innerer Kompass in der neuen Umwelt erst einmal verrückt spielt. Ich werde nicht vergessen, wie Menschen aus einer Gruppe katholischer Ugander nach einem Partnerschaftsbesuch durch das Erleben unserer Kultur und unseres Reichtums völlig aus der Bahn geworfen waren – und lange für die Re-Integration in Uganda brauchten.
  • Es wird auch notwendig sein, die vielen Debattenbeiträge darauf abzuklopfen, welche Ziele der jeweilige Redner oder Schreiber eigentlich verfolgt. Sind seine Beiträge von der Sache, vom Mitgefühl mit den Opfern und von echter Sorge geprägt? Zeigt der Sprecher Lösungswege auf oder geht es ihm oder ihr eigentlich um andere Dinge und Anliegen. Wer allzu schnell Lösungen präsentiert … dem ist durchaus mit Misstrauen zu begegnen. Wer im konkreten Fall mehr weiß als die Polizei, der sollte dort eine Aussage machen und nicht die sozialen Netzwerke verstopfen. Es gibt viel zu viele Leute, die vor Lügen, Unterstellungen und Fälschungen nicht zurückschrecken, um eigene Ziele zu verfolgen. Auch manche Ablenkungsmanöver unter den Stichworten: Oktoberfest; #einearmlänge und Willkommenskultur zähle ich zu den Indizien für solche Stellungnahmen, ganz zu schweigen vom grassierenden Zynismus.
  • Als Deutsche sollten wir sehr aufmerksam sein, wenn Diskurse von Rassismus geprägt sind. Aufmerksam, nicht empfindlich. Der Rassismusvorwurf wird durchaus auch als „Keule“ verwendet, interessanterweise auch schon mal von „Ausländern“ selbst. Gerade als Christen kann die Frage: „Ist meine Meinung von rassistischem Denken geprägt?“ - im Sinne der schönen Geschichte von den drei Sieben des Sokrates (http://www.k-l-j.de/KGeschichte_7.htm) ein Stück innerer Beichtspiegel sein.
  • Wir brauchen einen Diskurs über angemessene und hilfreiche Strafen. Bei Bagatelldelikten oder z.B. bei Diebstählen oder Körperverletzungen sollte auch der Kontext der Tat und das Leid der Opfer stärker einbezogen werden. Wir brauchen gut ausgestattete Justiz, die schnell reagieren, aufklären und strafen kann. Es sollte einen Unterschied machen, ob eine Prügelei die Folge eines Streits war oder ob Menschen aus Lust an der Gewalt und Machtausübung andere Menschen verletzen. Sexuelle Übergriffe sollten mindestens so schmerzhaft bestraft werden, wie sie die Opfer belasten. Strafen müssen dazu beitragen, dass Menschen sich in den Griff bekommen und von ihrem gesetzlosen Tun ablassen. Das ist ein ganz schwieriges Feld und nicht billig zu haben!
  • Wir brauchen weniger Gleichgültigkeit. Wir müssen uns wieder mehr betreffen lassen von der Not und Hilfsbedürftigkeit eines anderen Menschen. Wir brauchen in unserer Gesellschaft wieder mehr Miteinander. Nach dem Vorbild des barmherzigen Samariters oder der Hl. Martin und Hl. Nikolaus müssen wir lernen, dass die Not des Anderen uns unbedingt angeht. Wir müssen uns darauf verlassen können, Hilfe zu finden, wo wir in Gefahr geraten. Dass dies nicht mehr selbstverständlich ist, ist ein Alarmsignal. Und das hat auch mit dem eingangs geschilderten Phänomen zu tun. Diese Gedanken berühren durchaus auch unser Gesellschaftsmodell, das darauf setzt, dass jeder in größter Eigenständigkeit und Eigenverantwortlichkeit seinen Lebensweg geht. „Ich will auf niemanden angewiesen sein!“ - das klingt oberflächlich nach einer guten Lebensmaxime und viele leben auch so. Es sorgt aber für ein zunehmendes Auseinanderfallen der sozialen Strukturen unserer Gesellschaft. Die Förderung des Dienstleistungsgedankens und die wirtschaftskompatible Gestaltung unseres Zusammenlebens verstärken dies. (Mobilität, Kleinfamilien, Aufgliederung der Produktions- und Dienstleistungsprozesse). Das hat in den Jahrzehnten zu einer Entsolidarisierung geführt, die in großen Städten besonders spürbar ist. Hier sehe ich eine bedeutsame Aufgabe für organisierte Kirchen und Glaubensgemeinschaften. Aber auch für Vereine und Initiativen und für das Ehrenamt. All dies zu fördern sollte vornehmste Aufgabe der politisch Verantwortlichen sein.
  • In einer Gesellschaft, die zunehmend auf Individualität setzt, wird die Vermittlung gemeinsamer Werte schwieriger. Erst recht, wenn diese Gesellschaft keine gemeinsamen religiösen Wurzeln mehr teilt. Daher wird es notwendig sein, an dieser Stelle mehr zu investieren. Die Entwicklung von Werten muss begleitet sein. Lebensnaher Unterricht in Religion, Ethik, Politik und Philosopie leistet da einen wertvollen Beitrag. Öffentliche Debatten, Medien, soziale Netzwerke leisten auch einen – heute leider manchmal auch negativen – Beitrag. Und zu guter Letzt werden wir nicht umhin kommen, gewisse Werte und Gesetze auch entschieden umzusetzen und einzufordern. Wir haben in Deutschland gute Gesetze und für alle Lücken darin ein beispielhaftes Gesetzgebungsverfahren. Wir müssen Polizei und Justiz so ausstatten, dass sie in der Lage sind, der Gesellschaft einen Rahmen zu bieten, in dem sie sich entfalten kann und in dem die Sicherheit und Unversehrtheit des Einzelnen gewährleistet ist. Natürlich wird es immer wieder Vorfälle wie in der Silvesternacht geben. Verbrechen ist durch reine polizeiliche Maßnahmen nicht zu besiegen. Aber die Polizei sollte in der Lage sein, eine solche Situation in kürzester Zeit in den Griff zu bekommen. Das müssen wir uns auch etwas kosten lassen.
  • Was auf uns zukommt ist kein leichter Weg. Und gerade deshalb halte ich alle, die schnelle Lösungen versprechen, für große Scharlatane. Wer sagt eigentlich, dass all die lautstarken Kritiker aus dem Pegida / AFD / NPD – Lager auch nur irgendetwas besser hin bekämen als die Menschen, die heute an verschiedenen Stellen Verantwortung tragen? Mögen sie sich noch so aufspielen, ja selbst wenn sie mit der ein oder anderen Bemerkung Recht haben sollten... Sie sind doch allesamt genauso schwache und fehlerhafte Menschen wie diejenigen, die heute unser Land durch die Klippen und Stromschnellen, durch die Krisen unserer Zeit zu steuern versuchen. Die Extremisten von Rechts und Links hatten in den letzten Jahrzehnten überall in Europa und darüber hinaus ihre Chancen. Bisher hat noch keine derartige Regierung bessere Ergebnisse abgeliefert als die offene, demokratische Gesellschaft, deren Segnungen wir in Deutschland seit vielen Jahrzehnten genießen. Selbst dann, wenn wir inzwischen etwas übersättigt sind: bitte, keine solchen Experimente.
Wohin ich auch schaue, bei allen kritikwürdigen Umständen und bei allem, was noch besser laufen müsste. Ich bin froh und glücklich über das Privileg, hier in Deutschland leben zu dürfen.

Dienstag, 8. Dezember 2015

Eine Lanze für den Weihnachtsmann! (ausgerechnet...)

Alle Jahre wieder … kommt mit untrüglicher Sicherheit eine Kampagne gegen den Weihnachtsmann! Seit Jahren besetzt das Bonifatiuswerk diese kirchliche Nische erfolgreich mit seiner „weihnachtsmannfreien“ Zone. Gegen den fetten Typen mit Bömmelmütze und plüschbesetztem Bademantel setzt das katholische Diaspora-Hilfswerk den Hl. Bischof Nikolaus. Mehr aus dem evangelischen Raum kommt dagegen die Initiative „Wir glauben ans Christkind – Gebt dem Weihnachtsmann keine Chance“. Jahr für Jahr werden solche Grafiken unter Christen gern geteilt und weiter gereicht. 

Hochinteressant ist im wirklichen Leben das Gespräch mit Kindern darüber, wer eigentlich zu Weihnachten die Geschenke bringt, vor allem, was für Gedanken und Phantasien rund um diese geheimnisvollen Gestalten in Kinderköpfen herumgeistern. 

Quelle: Wikipedia
Ich sehe mich selbst als bekennenden Katholiken, bin wohl sogar etwas „konservativ“ angehaucht. Und trotzdem möchte ich heute eine „Lanze“ für den Weihnachtsmann brechen. Ich sehe „das Christkind“ als Gegenfigur durchaus skeptisch. (Danke an Sr. Barbara Offermann, die mich unfreiwillig auf diese Spur brachte.)

Gemeinhin gilt Martin Luther als „Erfinder“ des Christkindes. Um das Jahr 1535 soll dieser für seine Anhänger die Bescherung am Nikolaustag abgeschafft haben. Aber schon bald wurde er mit der Tatsache konfrontiert, dass sich die Leute liebgewordene Bräuche ungern nehmen lassen. Selbst wenn die geistliche oder religiöse Grundlage hierfür längst weggefallen ist. Eine Erfahrung, die schon die frühchristlichen Missionare machen mussten, die sich zumeist damit aus der Bredouille brachten, den jeweiligen Brauch zu „taufen“, ihm also einen neuen, christlichen Sinngehalt zu geben. Es ist ja kein Zufall, dass wir heute Weihnachten am Fest der Wintersonnenwende feiern. 

So sah sich Luther genötigt, den Geschenkebrauch auf das Weihnachtsfest zu verlegen (datiert wird das schon auf 1531). Als "kyndisch ding" lehnte Martin Luther auch das Brauchtum um den Hl. Bischof Nikolaus in einer Predigt zu dessen Fest 1527 entschieden ab. Die Geschenke brachte, so der erste Prediger der Reformation, daher „der Heilige Christ“, also Christus selbst, der ja der eigentliche Grund der Weihnachtsfreude sei. Daher wurden alle Schenkbräuche (auch vom Fest der unschuldigen Kinder ist ein solcher überliefert) auf den Weihnachtstag gelegt. Besonders erfolgreich war Luther mit seiner Initiative jedenfalls nicht. Selbst im eigenen Haushalt wurden noch lange Nikolausgeschenke eingekauft, wie u.a. durch Abrechnungen von 1535 belegt ist. In einem Kernland der Reformation hat sich „Sinterklaas“ bis heute erhalten und aus dem seiner Bischofstradition beraubten Nikolaus entwickelte sich als weihnachtlicher Geschenkebringer der Weihnachtsmann. Aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang die Darstellung des „Nikolaus“ im Struwwelpeter von 1845, schon fast 100 Jahre vor der legendären Coca-Cola-Reclame. Der wenig später aufblühende Postkartendruck brachte ebenfalls zahlreiche Weihnachtsmanndarstellungen in die europäische Welt. Im multikonfessionellen Amerika trat der Weihnachtsmann seinen Siegeszug an, konnte seine Wurzeln im Heiligen Klaus – Santa Claus aber nicht ganz abstreifen, während die Engländer diese Gestalt heute konsequent Father Christmas nennen. 

Ich glaube, wir Christen geben uns einer gefährlichen Illusion hin, wenn wir allzu arglos das „Christkind“ zur zentralen Figur des weihnachtlichen Festbrauchs machen. Natürlich verbinden wir Christen (das Christkind ist inzwischen ja interkonfessionell und hat seine lutherischen Wurzeln verloren) mit dem Christkind unmittelbar das Christus-Kind in der Krippe. Aber eine Bildrecherche bei Google mit dem Stichwort „Christkind“ sollte uns schnell die Augen öffnen, dass das Christkind mitnichten mit dem göttlichen Erlöser gleichzusetzen ist. Zwei Drittel aller Bilder zeigen nämlich eine Art Engelwesen, meist ein Mädchen in weißen Kleidern. Die einsame Spitze dieser Christkind-Kultur ist das Nürnberger Christkindl, eine junge Frau mit Krone im faltenreichen Goldglitterkostüm. Das ist ohne Zweifel stimmungsvoll und schön, aber ist es auch christlich? Das Christkind ist nicht weniger in der Gefahr zu einer Phantasiefigur zu werden wie der Weihnachtsmann eine ist. Ich frage mich ernsthaft: Wo ist der Fortschritt mit Blick auf die christliche Verkündigung? Wollen wir ernsthaft unseren Kindern erzählen, dass ein neu geborener Säugling der Geschenkebringer ist? Wo ist der "Mehrwert", wenn wir versuchen sollten, das Christkind gegenüber dem Weihnachtsmann zu betonen? Mir scheint es durchaus vertretbar, wenn am Weihnachtstag erzählt wird, dass die Geburt Jesu Christi ein so großes Geschenk für uns ist, dass wir das auch ganz leibhaftig erfahren möchten, dass wir "Beschenkte" sind... Oder, dass die Weihnachtsfreude uns dazu bringt, unsere Mitmenschen zu beschenken. Wenn man den Kindern schon Geschenke geben möchte ohne selbst als Schenkender im Mittelpunkt zu stehen, warum sollte nicht ein Weihnachtsmann diese bringen? Mir erscheint das nicht schädlicher, als wenn die Kinder sich eine Art Rauschegoldengel vorstellen, den man "Christkind" nennt. Die Frage ist letztlich nur, wie viel Raum wir dieser Phantasiefigur lassen.

Raum auch in dem Sinne, dass wir diese Gestalt „klein“ halten. Daher sollten wir schön weiter unsere katholischen Feste feiern und die Bräuche dazu pflegen, St. Barbara, St. Nikolaus, St. Lucia. Den Advent in seiner kargen Schönheit. Und den Weihnachtsmann, der sich wie alle Neophyten kaum ausrotten lassen wird, den sollten wir liebevoll vereinnahmen. Er hat ja schon so manchen Wandel mitgemacht und im Grunde schon ein ehrwürdiges Alter. 

Denken wir einmal an die volkstümlichen Begleiter des Hl. Nikolaus. Aus christlicher Perspektive kommt der natürlich ohne Krampus oder Knecht Ruprecht aus. Und viele christliche Nikoläuse lehnen einen solchen Begleiter ganz ab, bzw. haben ihn von der angsteinflößenden Gestalt zu einem Helfer und Diener weiterentwickelt. 

So etwas bietet sich doch auch für den Weihnachtsmann an. Warum sollte er nicht einfach ein Helfer, ein Diener Jesu Christi sein. Im „Väterchen Frost“ oder „Jultomte“ gibt es ja auch einige Wurzeln des Weihnachtsmannes, die man etwas wiederbeleben könnte. Wichtig ist, dass diese Figur eindeutig als Märchenfigur gestaltet und dargestellt wird. Und noch viel wichtiger ist, dass die wahre Weihnachtsgeschichte, in alle ihren Facetten den Kindern (und Erwachsenen) erzählt und verkündigt wird. 

(Ein nicht zu unterschätzender Vorteil solcher Märchenfiguren ist doch, dass sie den unvermeidlichen Kitsch und Kommerz anziehen, wie das Licht die Motten. Auch diese Eigenschaft sollten wir zu schätzen lernen. Es ist besser, eine Phantasiefigur verkommt, als dass ein Heiliger mißbraucht oder die Botschaft Christi verbogen wird.)

Ich glaube, der Weihnachtsmann ist nur deshalb so erfolgreich gewesen, weil er ein Bedürfnis von Kindern und Erwachsenen aufgreift. Ein Bedürfnis, das auch in zahlreichen Märchen seinen Ausdruck findet, ein Bedürfnis, das auch im grassierenden Engelglauben und in der Faszination von Mythen über Elfen, Feen, Zwerge, Heinzelmännchen und Trolle Gestalt gewinnt. Welches kleine Kind „glaubt“ heute nicht an die Zahnfee, ohne dass sich christliche Missionare bemüßigt fühlen, den Kindern diesen Irrglauben auszutreiben. Warum meinen wir dann, es sei für die christliche Verkündigung in irgendeiner Weise schädlich, wenn an Weihnachten ein Weihnachtsmann heimlich Geschenke unter dem Weihnachtsbaum plaziert? Das scheint mir weniger gefährlich, als wenn aus dem „Christkind“ etwas wird, was mit dem menschgewordenen Gottessohn allenfalls noch den Namen gemeinsam hat und von dem sich Kinder dann im etwas höheren Alter verabschieden. Wenn es völlig schief läuft, flattert möglicherweise das Christkind in trauter Eintracht mit der Zahnfee ab in das Reich ungestörter kindlicher Phantasien und Kindheitserinnerungen. 

Das dicke Ende einer solchen Entwicklung ist dann der Pfarrer, der in der weihnachtlichen Festpredigt den Andächtigen erläutert, dass der Weihnachtsbericht der Evangelien doch eher ein Märchen, denn die Schilderung einer Wirklichkeit sei. 

Ich glaube, wer ernsthaft der grassierenden Weihnachtsmannvermehrung etwas entgegen setzen möchte, der muss die tiefen christlichen Bräuche ausdauernd und liebevoll pflegen. Er muss die Botschaft Christi dem Evangelium treu verkünden und vielleicht die irrlichternde Gestalt des Weihnachtsmannes liebevoll und christlich wieder an die Hand nehmen. Niemand braucht einen Weihnachtsmann einzuführen, wenn niemand ihn vermisst. Wenn er aber auftaucht darf er sein, so wie die Zahnfee sein darf und der Osterhase... Kinder wissen und spüren meist sehr genau, dass die Realität solcher Märchenfiguren eine sehr Spezielle ist. 

Als Christen haben wir doch einen Sisyphuskampf gegen diese Phantasiegestalt gar nicht nötig. Wir können sie humorvoll und spielerisch stehenlassen und getrost warten, bis sie sich von selbst auflöst. Bis dahin: „Sei gegrüßt, lieber Nikolaus...“ und „O Heiland reiß die Himmel auf“ und wenn es sein muss auch „Stille Nacht, heilige Nacht...“. 

P.S.: Ein kleiner Hinweise für alle, die sich nicht die Mühe machen, den gesamten Text zu lesen. Er ist nicht so bierernst gemeint. Aber als engagierter Nikolausverehrer macht mir der Weihnachtsmann keine Angst. Ich glaube, wir Christen sollten gut nachdenken, wo wir unsere Energie investieren. Dazu soll dieser Adventskalendertext Anregungen bieten.

P.P.S.: Hier geht es zum Adventskalender der katholischen Blogger:
http://katholon.de/adventskalender-2015/
http://heikesanders.blogspot.de/2015/11/adventskalender-der-blogoezese-2015.html

Hier findet sich das Türchen für den 10. Dezember 2015: http://brotundglanz.blogspot.de/2015/12/das-leuchten-der-anderen.html

Freitag, 4. Dezember 2015

Die "Pastis" und Gottes Richter!

(c) Bischöfliches Offizialat, Münster
Zu der am Montag (30.11.15) in der ARD ausgestrahlten Sendung: „Richter Gottes – Die geheimen Prozesse der Kirche“ ist eigentlich schon alles gesagt worden. Die Fernsehkritik hierzu von Regina Einig in der Tagespost - Ausgabe vom 3.2.2015 veranlasst mich dennoch dazu, einige spezifische Gedanken hinzuzufügen.

Ja, ich habe mich auch darüber geärgert, wie die zumeist segensreiche Arbeit kirchlicher Gerichte in der sogenannten Dokumentation „Richter Gottes“ dargestellt wurde. Also, weitgehend Zustimmung zur kritischen Sichtweise aus dem Raum der Kirche, auch zu dem Artikel von Regina Einig. 

Der Hals schwoll mir allerdings ein wenig bei der Formulierung, die mir jemand auf anderem Wege, durchaus nicht ohne Häme übermittelte: „Indirekt stellt die Sendung die Qualität des Theologiestudiums hierzulande in Frage. Wenn ein Pastoralreferent kirchliche Gerichte als "Kontrollinstrument" über das Privatleben kirchlicher Mitarbeiter einschätzt und für ihre Existenz "obskure Machtgründe" ins Feld führt, weckt das Zweifel am Sinn seiner theologischen Studien. In Zeiten, in denen afrikanische Gläubige in deutschen Kirchenkreisen abenteuerlichen Unterstellungen ausgesetzt sind, ermutigte diese Sendung Afrikaner zur Gelassenheit und setzte ein dickes Fragezeichen hinter die Kompetenz der "Pastis".“

Mir waren schon während der Sendung ebenfalls die beinahe unglaubliche Ungereimtheit aufgefallen, dass die Partnerin des angeblichen Pastoralreferenten Peter sich scheut, ihren Namen am Klingelschild anzubringen, während das Paar aber offenbar glaubt, nach deutschlandweiter Ausstrahlung einer Fernsehsendung anonym bleiben zu können, obwohl beide deutlich zu erkennen waren, offensichtlich aus der Region um Köln kommen und auch noch mit Vornamen benannt wurden. Ein Pastoralreferent ist im Regelfall im Ort und in seiner Gemeinde bekannt wie ein „bunter Hund“. Da wäre es sicher deutlich weniger problematisch, ein Klingelschild zu beschriften als sich derart zu exponieren. Natürlich weiß auch der „Kollege“, dass er im kirchlichen Dienst nicht mit einer Frau unverheiratet zusammenleben sollte, bzw. wenn er dies tut, dies nach Rücksprache mit seinen Vorgesetzten, sofern es sich um eine platonische oder geistliche Lebensgemeinschaft handelt. Das hat zunächst auch nichts damit zu tun, dass die Frau noch mit einem sakramentalen Eheband an einen anderen Partner gebunden sein könnte. Natürlich weiß er auch, dass zu seinem Zeugnis auch das Lebenszeugnis gehört und dass der „Dienstgeber“ Kirche erwarten darf, dass er die Konsequenzen zieht, wenn seine private Lebensführung und seine Liebe „Priorität“ erfordert. Zunächst einmal sehe ich nichts Ehrenrühriges darin, sich in eine Frau zu verlieben, die bereits in einer anderen Beziehung gelebt hat. Manches im Leben entscheidet nun mal nicht der Verstand allein!

Ich bin ebenfalls Pastoralreferent (eigentlich Gemeindereferent) und ich kann es gut nachvollziehen, in welch schwieriger Situation ein solches Paar stecken wird. Ich zitiere in diesem Zusammenhang einmal einen Abschnitt aus dem Hohen Lied. Auch wenn dieser Text vermutlich eine etwas andere Liebe im Blick hat, wenn dort geschrieben steht: „Stark wie der Tod ist die Liebe, / die Leidenschaft ist hart wie die Unterwelt. Ihre Gluten sind Feuergluten, / gewaltige Flammen. / Auch mächtige Wasser können die Liebe nicht löschen; / auch Ströme schwemmen sie nicht weg. Böte einer für die Liebe den ganzen Reichtum seines Hauses, / nur verachten würde man ihn.“ Vermutlich spricht der Autor auch von der Liebe zwischen zwei Menschen als Erfahrungshintergrund zur Poesie der Liebe zwischen Gott und Mensch. 

Wenn die Liebe also stark ist, muss sie im Zweifel auch den Vorrang vor sonstigen Lebensplanungen bekommen. Diese Entscheidung habe ich vor vielen Jahren auch schon einmal getroffen und zwar noch bevor ich vom Ausgang eines Ehenichtigkeitsverfahrens erfuhr, das mich mittelbar auch betreffen würde. Ich habe selbst „einschlägige Erfahrung“, weil meine Frau, mit der ich inzwischen seit fast 20 Jahren sakramental verheiratet bin (und vier Kinder erziehe), ebenfalls bereits eine – wenn auch sehr kurze – Ehe hinter sich hatte, als wir die im Hohen Lied besungene „Stärke“ der Liebe erfuhren.

Natürlich kennt und akzeptiert man den Rahmen, in dem man sich im kirchlichen Dienst bewegt. Es muss einem natürlich nicht gefallen und es wird einem auch nicht gefallen, wenn man in einer persönlichen Situation steckt, die klare Entscheidungen fordert. So etwas ist schwierig und menschlich. Meine spätere Frau hat die Gültigkeit ihrer ersten Ehe prüfen lassen, mit dem Ergebnis, dass diese durch zwei Kirchengerichte als ungültig erkannt wurde. Ich kann weder über das Ehegerichtsverfahren noch über das Bistum etwas Negatives aus dieser Zeit erzählen. Auch meine Frau hat sich nur positiv über die am Verfahren beteiligten Personen geäußert, die ihr eine tiefe Reflexion der gescheiterten Beziehung ermöglichten. 

Warum Frau Einig sich bemüßigt fühlt, einen im fortgeschrittenen Alter offenbar erstmals so richtig verliebten Kollegen als "pars pro toto" vorzuführen und warum seine negative Grundhaltung bzw. aus der Emotion heraus gegebenen Antworten in dieser Frage Hinweise auf seine theologische Kompetenz geben soll erschließt sich mir nicht. Ich möchte ungern in „einen Sack gesteckt“ werden mit einem Kollegen, der sich - möglicherweise aus persönlicher Betroffenheit - unsauber äußert.

Ich kann auch nicht erkennen, warum diese doch eher privaten Äußerungen (ich bin auch gespannt, ob der Betroffene sich noch selbst hierzu zu Wort meldet) irgendeinen Hinweis auf die Qualität der theologischen Ausbildung geben sollen, weder auf die Qualität der Lehre an der Universität Bonn (wo der Kollege ja möglicherweise studiert hat) noch auf die an anderen Universitäten, Fachhochschulen und Hochschulen in unserem Land. 

Inwieweit dort neben dem allgemeinen Kirchenrecht und dem Eherecht auch Einblicke in die konkrete Arbeit eines kirchlichen Ehegerichts vermittelt werden, entzieht sich meiner Kenntnis. Woran Sie möglicherweise merken, dass meine Ausbildung einen anderen Weg als den an einer theologischen Fakultät einer deutschen Universität genommen hat. Persönlich betrachte ich die Einrichtung Ehegericht keinesfalls als „Kontrollinstrument“ und wähne auch keine „obskuren Machtgründe“ dahinter. Mit Kirchenrecht und kirchlicher Gerichtsbarkeit habe ich mich natürlich auch über die reinen Ausbildungsinhalte hinaus auseinandergesetzt, zumal man immer wieder in seelsorglichen Gesprächen entsprechend Rat zu geben hat. Und das ein oder andere Paar konnte ich auch auf den Weg zum kirchlichen Ehegericht begleiten. 

Soweit zum Inhalt, nun zum Grundsätzlichen: 
Ich habe überhaupt keine Probleme damit, wenn „unser“ Berufsstand kritisch gesehen wird, wobei ich mich schon frage, ob „wir“ Pastoral- und Gemeindereferenten nicht allzu allgemein in Haftung genommen werden für die von Manchem als negativ empfundenen Veränderungen in der Kirche nach dem 2. Vaticanum. Schließlich wird allgemein angenommen, dass der Berufsstand der Pastoral- und Gemeindereferenten eine „Frucht“ dieses Konzils sei. Manchmal wird er ja auch ebenso gewürdigt und gefeiert. Möglicherweise stimmt das auch, man sollte aber nicht vergessen, dass es auch schon in den 1920er und 1930er Jahren die Seesorgehelferinnen gab, die auch eine „Wurzel“ des hauptamtlichen Laiendienstes in der Pastoral darstellen. 

Interessanterweise begegnet mir der Begriff „Pasti(s)“ nur in Kreisen, die den Berufsstand als Solchen kritisch sehen. Hier wird er in der Regel zur negativen Abstempelung benutzt, die den Berufsträgern in keiner Weise gerecht wird. Nach meiner Wahrnehmung ist das, was hierunter in zahlreichen Onlineforen und Diskussionen verstanden wird, allenfalls eine Chimäre, ein Zerrbild, das den Einzelnen verunglimpft. Ich finde das unfair und würde erwarten, dass man sich die Mühe macht, Menschen die im kirchlichen Dienst, mit bischöflicher Beauftragung und zumeist mit vollem Einsatz tätig ist, nach ihrem Handeln und nach ihren Überzeugungen und Einstellungen zu bewerten und sich mit ihnen entsprechend auseinander zu setzen. 

Als Vater von vier, teils pubertierenden Kindern bin ich Kummer und Auseinandersetzungen gewohnt. Trotzdem ärgert mich, wenn ich oder meine Kollegen in eher traditionstreuen und kirchentreuen Kreisen derart negativ dargestellt werden. Nach meiner Erfahrung sind zahlreiche engagierte und treue Katholiken unter uns Pastoral- und Gemeindereferenten, die es schmerzt, wenn sie pauschal abgewatscht werden. Auch das ist ein Puzzelstück in der allgemein beklagten Krise der Berufungen.

Eine größere Offenheit der traditions- und kirchenverbundenen Kreise für die Persönlichkeiten hinter der Abstempelung „Pastis“ würde sicher auch diesen gut tun und zu einer stärkeren Verbundenheit unter uns Katholiken insgesamt beitragen. Vielleicht auch dazu, dass der ein oder andere Kollege seine möglicherweise problematischen Auffassungen noch einmal bedenkt und in einem weiteren kirchlichen Horizont betrachten kann.

Da es von Regina Einig in diesem Kontext gesetzt wird, möchte ich auch noch eine Bemerkung machen zu dem inhaltlichen Schlenker über Pastis und die Qualität der deutschen/europäischen Theologie hin nach Afrika. Staunend habe ich in den vergangenen Wochen beobachtet, wie eine missglückte Bemerkung eines Journalisten im kirchlichen Dienst (ich habe ihm das auch persönlich gesagt) mehr und mehr zu einem Skandal aufgeblasen wurde. 

Fakt ist doch, dass Afrika kein Land, sondern ein Kontinent mit einer gewaltigen Vielfalt ist. Fakt ist, dass man über Afrika alles – und nichts behaupten kann und für alles Belege finden wird. Fakt ist auch, dass die Menschen in Afrika in einer weniger säkularisierten, anderen Gesellschaftsordnung leben, die durchaus mehr Raum für persönliche Gläubigkeit bietet. Die Menschen in Afrika dürften sich in den Erzählungen, Berichten und Geschichten der Bibel viel unmittelbarer wiederfinden, als uns das in Europa heute gelingt. Sie sind – das kann man bei aller Unterschiedlichkeit sagen – anders gebildet und sozialisiert als wir im Westen. Weis keinesfalls mit „minder...“ zu übersetzen ist. Bisher ist die spezifisch afrikanische Lebensart (bei aller Unterschiedlichkeit) offenbar für den christlichen Glauben ein „Saatfeld“ und ein „Weinberg“, der viel Arbeit erfordert aber auch reiche Frucht bringt. Aber auf der anderen Seite gibt es in Afrika durchaus Problemfelder für den Glauben, die nicht weniger Schwierigkeiten aufwerfen, als die Diskussion z.B. um den Kommunionempfang für Menschen in einer zweiten Ehe hierzulande.

Ich pflege einige Kontakte nach Uganda, kenne dort Ordensleute, Priester und Katechisten. Gerade letztere tragen und organisieren dort in weit höherem Maße als hierzulande die Pastoral- und Gemeindereferenten das Gemeindeleben mit. Sie halten Katechesen, predigen, feiern Gottesdienste, bereiten diese vor, beerdigen die Verstorbenen... 

Ich bin froh, dass gerade meine afrikanischen Schwestern und Brüder, die als Katechisten, unter widrigsten Umständen und meist mit geringer finanzieller Unterstützung der Kirche hingebungsvoll tätig sind, nicht erfahren, wie wenig ihre „Katechisten“-Kolleginnen und Kollegen hier in Deutschland von frommen Katholiken geschätzt werden. Ich denke, dass jede und jeder, der sich für die Verkündigung des Wortes Gottes und für eine lebendige Kirche engagiert zunächst einmal unsere Unterstützung und unser Gebet verdient. Sicher auch ab und an einmal ein offenes, aber von Wertschätzung getragenes Wort!

Ich denke, für unsere gemeinsame Mission wäre es durchaus nicht abträglich, wenn Menschen die uns sehen und erleben anschließend sagen könnten: Seht, wie sie einander lieben!


Mittwoch, 2. Dezember 2015

Weihnachten, ganz ohne Weihnachten...

Es ist Advent, endlich! Der frisch duftende Adventkranz mit der ersten brennenden Kerze darauf bringt heimelige, vorweihnachtliche Stimmung in unsere Häuser und in unsere Kirchen. Wie schön, wenn man bei Kerzenschein zusammen ist – und nicht auszudenken, wenn diese Geborgenheit jäh zerstört würde. Wie so oft in diesen Tagen, dort wo Terroristen zuschlagen... Erbarmungslos!
Bei uns ist es friedlich – und doch wohnen auch in unseren Herzen manchmal Ärger, Zorn, Neid und Hass... Und doch keimt manchmal der Unfriede, das Unvermögen den Anderen – als Nächsten anzunehmen, die Ungerechtigkeit mitten in uns?

Wenn wir nach „draußen“ schauen, in die Welt um uns herum, dann vergehen allzu heimelige Gefühle. Rundherum gibt es genug Anlass zu Sorge – und Angst.
Da kommen die Lesungen des ersten Adventssonntags wie gerufen! Sie greifen die uralten Ängste der Menschheit auf; Ängste, die uns mit den Menschen der Bibel, mit den Menschen des Mittelalters, mit unseren Groß- und Urgroßeltern verbinden - durch alle Zeiten und Generationen hindurch. Diese Texte wollen die Ur-Ängste der Menschen in eine neue Richtung wenden, sie wollen nicht Ängste schüren, sondern Wege der Hoffnung zeigen. 

Sie weisen auf Jesus Christus, der kommen wird, um uns eine gute Zukunft zu eröffnen. Doch spielt das eigentlich noch irgendeine Rolle im Advent, in der (Vor-)weihnachtszeit?

Ich war in den letzten Tagen in einigen Supermärkten und habe mir dort die Adventskalender genau angesehen. Zusammen genommen waren das bestimmt 60 – 70 unterschiedlichste Modelle, mal preiswert für einen Euro, mal gediegen für den Preis eines soliden Weihnachtsgeschenks. Alles geschmückt mit „weihnachtlichen Motiven“. Ich entdeckte darunter aber keinen einzigen Kalender mit einem christlichen Symbol. (Wenn man mal von niedlichen Putten absieht oder irgendwelchen Sternen).

Einmal aufmerksam geworden, erkundete ich das weitere Warenangebot, auch ein großer IKEA – Markt mit riesiger Weihnachtsabteilung war dabei, doch so „weihnachtlich“ viele Märkte geschmückt sind … all das kommt vollständig ohne die Botschaft vom Gottessohn im Stall, in der Hirtenhöhle zu Bethlehem aus. Nicht mal ein einziges, kitschiges Krippenbild, nichts.

Ich fürchte, dass es wohl inzwischen ein Zeichen unserer Zeit ist, dass der Dezember, dass Weihnachten gefeiert werden kann – ohne dass die weihnachtliche Botschaft dabei zitiert oder nur gestreift bzw. visualisiert wird. Und natürlich erst recht nicht die Texte die von einer anderen Welt, von Erlösung, von der Vollendung der Welt berichten. Wir sollten uns nicht wundern, wenn eines Tages der "Weihnachtsmann" zu einer Erlöserfigur wird. 

Dabei scheint es im Grunde so, als seien die liturgischen Texte der Adventszeit geradezu für die heutige Zeit geschrieben, in eine Welt hinein, die in Unruhe und Aufruhr ist; wo wir uns immer wieder fragen, wer all die Probleme zu lösen noch in der Lage ist. Nur will diese offenbar kaum noch jemand hören. Das viel zitierte „wir schaffen das...“ meint ja "nur" die Bewältigung einer Flüchtlingskrise und noch lange nicht eine Hoffnung auf die Lösung der weit größeren Krise, deren Symptome der Terrorismus, die Armut und Ungerechtigkeit und die Gefährdung unseres Planeten sind. 

Die Weihnachtszeit mit all ihrem Klimbin, kommt einem da manchmal sonderbar vor; wie aus der Wirklichkeit gefallen. Kann das sein, dass man ganz bewusst die Augen verschließt, vor all den Problemen und all der Not? Dass der Advent eine Flucht in eine rosa - glitzende Winterwunderweihnachtswelt darstellt?

Kann das sein, dass der Lichterschein der Kerzen gerade die Not, die Sorgen, das Elend unserer Zeit verschleiern, überstrahlen soll; so wie eine mit lauter Lichterketten beleuchtete Straße, die am hellichten Tag wahrscheinlich ziemlich grau und trostlos aussieht?

Der Papst soll kürzlich sogar davon gesprochen haben, dass die Feier der Weihnacht zur „Scharade“, zum Possenspiel verkommt. 

Selbst die familiäre Krippenszene, die in den vergangenen Jahren manchmal zu einem künstlichen Familienidyll aufgebrezelt wurde, hat im Supermarkt keinen Raum mehr. Weihnachten hat als Fest der "heilen" Familie ebenfalls weitgehend ausgedient. Haben Sie in den letzten Jahren noch einmal irgendwo eine Krippe im Regal entdeckt? Allenfalls als „Grippe“ ausgezeichnet im Billigbaumarkt zum Ramschpreis, möglicherweise noch vereinzelt als „Traditionsmotiv“ im Schwibbogen aus dem Erzgebirge. (Die Kurrendesänger haben schon lange ihre Liedtexte verlernt und die Seifener Kirche ist allenfalls noch Kulisse, nicht nur im Schwibbogen). Nein, heute müssen Weihnachts- und Schneemänner, Winteridylle und Rentiere ran; allenfalls noch niedliche Engel könnten dem Eingeweihten, bei etwas Phantasie vom Himmelreich künden, während sie vom Normalverbraucher in die Fächer mit den Feen und Elfen einsortiert werden, Fabelwesen halt! 

Ob das alles folgenlos bleibt? Was mag es wohl für unsere Lebenswelt, für unsere Gesellschaft bedeuten, dass die christliche Botschaft sich aus der Öffentlichkeit zurückzieht - in die Kirchen hinein?

Was bedeutet das, dass auch im Westen drei viertel der Bürger dieser Botschaft nicht mehr folgen und selbst zu Weihnachten keinen Blick mehr hinter diese Kirchentüren tun? Das Weihnachtsfest findet mehrheitlich ohne uns Christen statt.

Weihnachten wird so auf „das Eigentliche“ zugeführt … wird ein Vehikel zur ultimativen Steigerung des Konsums … und da soll nichts Kritisches stören, nichts die Kauflaune bremsen... Weihnachten, ein Teil einer Reihe von modernisierten Konsumfesten, ja im Grunde das Spitzenereignis im Jahr.

Sonderbar, die Texte, die wir am ersten Advent (und auch später) in der Kirche verkündet bekommen, diese Worte waren als Trosttexte gedacht, selbst wenn sie von großem Chaos, von einer Welt in Aufruhr, voller Angst und Unruhe erzählen. Brauchen wir den Trost nicht mehr?

Von „Bestürzung und Ratlosigkeit“ ist dort die Rede - wie wenn es ein Kommentar wäre, zu all dem, was heute morgen wieder in der Zeitung steht.

Im Evangelium lesen wir, wie wir Weihnachten erwarten sollten: 

Wenn (all) das beginnt, dann richtet euch auf, und erhebt eure Häupter; denn eure Erlösung ist nahe. 

Richtet euch auf... 

Das würde ich mir wünschen, dass es uns gelingt, aufrecht durch diese Zeit zu gehen, mit Freude auch die schönen, gemütlichen Seiten des Advent zu genießen, aber stets aufrecht zu gehen und dann nicht zu zaudern, sondern all das anzupacken, was sich uns an Problemen stellt. „Wir schaffen das, mit Gottes Hilfe, schaffen wir das...“ Nicht als billige Vertröstung, as politische Floskel, sondern als Ansporn den nächsten Schritt zu gehen, aufrecht!

Richtet euch auf, es gibt keinen Grund sich zu ducken, auch keinen Grund sich weg zu ducken, es gibt keinen Grund, nicht von der Hoffnung zu erzählen, die zumindest als kleine Flamme mitten in unserem Herzen brennt. 

Wir Christen sind eingeladen, Weihnachten wieder mehr christlichen Geist einzuhauchen. 
Wir Christen dürfen Menschen einzuladen, den Kopf nicht hängen zu lassen, sondern sich aufzurichten und den Blick auf Christus zu richten...

Auf Christus, 
der kommt … 
als hilfloses Kind; 

der kommt … 
als notleidender Mensch, 

der kommt … 
selbst noch in jedem Menschen, der denkt, 
die Kirche und den Glauben braucht keiner mehr. 

Der kommt … 
selbst wenn die ganze Welt im Dunkel zu versinken scheint. 

Am Anfang war es nur, 
ein hilfloses Kind in der Krippe. 

Am Ende ist es der, 
der die Tür des Himmelreiches öffnet 
und alles überwindet …
Angst und Sorge
Terror und Krieg
Ungerechtigkeit und Leid, 
ja sogar den Tod!

So richtet euch auf und erhebt euer Haupt!

Aus dem heiligen Evangelium nach Lukas:

In jener Zeit sprach Jesus zu seinen Jüngern:
Es werden Zeichen sichtbar werden an Sonne, Mond und Sternen, 
und auf der Erde werden die Völker bestürzt und ratlos sein 
über das Toben und Donnern des Meeres. 
Die Menschen werden vor Angst vergehen 
in der Erwartung der Dinge, die über die Erde kommen; 
denn die Kräfte des Himmels werden erschüttert werden. 
Dann wird man den Menschensohn 
mit großer Macht und Herrlichkeit 
auf einer Wolke kommen sehen. 
Wenn (all) das beginnt, 
dann richtet euch auf, und erhebt eure Häupter; 
denn eure Erlösung ist nahe. 
Nehmt euch in acht, 
daß Rausch und Trunkenheit 
und die Sorgen des Alltags euch nicht verwirren 
und daß jener Tag euch nicht plötzlich überrascht, 
so, wie man in eine Falle gerät; 
denn er wird über alle Bewohner der ganzen Erde hereinbrechen. 
Wacht und betet allezeit, 
damit ihr allem, was geschehen wird, 

entrinnen und vor den Menschensohn hintreten könnt.

Freitag, 23. Oktober 2015

Von unerträglichen und übergriffigen Gebeten

Bildquelle: wikipedia (c) lesekreis
Zuletzt machte das gemeinsame Gebet von Christen und Muslimen Furore, als Kardinal Meisner in einem Papier multireligiöse Gebete verbot (2006). Ein Aufschrei ging durch das Land. Einige sahen den Frieden zwischen den Religionen in Gefahr, andere betonten Engstirnigkeit und Intoleranz des Kölner Kardinals. Praktiker stellten hingegen fest: Ja, es gibt bedeutende Unterschiede zwischen den christlichen und muslimischen Gebetstraditionen. Gemeinsam und „öffentlich“ zu beten und Gottesdienst zu feiern, das ist gar nicht so leicht und locker wie sich das anhört. Die katholisch-konservativen Kommentatoren klopften dem Kardinal auf die Schultern. Beäugte man dort doch seit langem skeptisch, was sich nach Assisi 1.0 an entsprechenden Formen entwickelt hatte, schien es hier wieder erste Schritte zur Eindämmung von Wildwuchs zu geben.

Jetzt erregt wieder ein interreligiöses Beten die (einige) Gemüter. Obwohl dieses Beten nur ein knapper Moment am Ende einer großartigen Rede in der Frankfurter Paulskirche war. Manchen Kommentatoren war das angesichts des Inhalts der Rede des Friedenspreisträgers des Deutschen Buchhandels kaum einer Erwähnung wert. Aber, was war genau geschehen?

Der Schiit oder besser, der von der schiitischen Variante des Islam geprägte Muslim, Navid Kermani forderte in der Schlussphase seiner Rede dazu auf, am Ende nicht zu applaudieren, sondern gemeinsam zu beten. 

Er öffnete hierzu einen weiten Raum, erklärte das Gebet im Horizont von menschlichem Wünschen: „Und wenn Sie nicht religiös sind, dann seien Sie doch mit Ihren Wünschen bei den Entführten und auch bei Pater Jacques, der mit sich hadert, weil nur er befreit worden ist. Was sind denn Gebete anderes als Wünsche, die an Gott gerichtet sind? Ich glaube an Wünsche und dass sie mit oder ohne Gott in unserer Welt wirken.“

Eine interessante Initiative! Der Redner hätte auch „neutral“ bleiben können, wie viele andere Preisträger vor ihm, und um eine Schweigeminute bitten. Man hätte sich erhoben und gemeinsam geschwiegen. Das ist vertraut, neutral, das geht – immer und überall. Er hat das aber nicht getan, sondern zum Gebet eingeladen und selbst dabei Gesten des Gebetes gemacht. Diesmal hätte wohl auch Kardinal Meisner nichts dagegen einzuwenden gehabt, sondern sich gemeinsam mit Aiman Mazyek, dem Vorsitzenden des Zentralrats der Muslime und Josef Schuster, dem Vorsitzenden des Zentralrats der Juden, erhoben und gebetet. Jeder in seiner Wiese, nebeneinander und doch im Gebet verbunden. 

Die Süddeutsche Zeitung ließ nur einen Moment nach dieser bedeutenden Rede verstreichen, da brach sich ein gewisses Unbehagen aus der Mitte der Redaktion Bahn, das man folgendermaßen überschrieb: „Warum Kermanis Aufforderung zum Gebet ein unerträglicher Übergriff war“. Johan Schloemann sah (anders als im selben Blatt zuvor Franziska Augstein) den Friedenspreisträger schon gemeinsam mit dem IS marschieren: Mit seiner Gebetseinladung „droht er sich an das anzugleichen, was er dem radikalen Islam vorwirft.“ Starke Worte und man möchte unmittelbar nachschauen, was über diesen Autor eigentlich zu sagen wäre... 

Gebet als „unerträglicher Übergriff“, ganz ähnlich wie die SZ klang die erste Eintragung zu einer frühen youtube – Veröffentlichung der Kermani – Rede. „Keiner wagt es, ob dieser unerträglichen religiösen Provokation sitzenzubleiben.“ bemängelt ein User. Offensichtlich hatten hier die kämpferischen Atheisten diese Plattform für ihren Frust entdeckt, denn es folgte eine ganze Reihe solcher Formulierungen und Sprüche. Ich antwortete an dieser Stelle, diese Sichtweise sei kleingeistig und armselig, besonders vor dem Horizont des Inhalts der Rede, die sich mit dem Schicksal der Christen in Syrien und gleichzeitig dem Schicksal der Muslime und der überlieferten arabisch – islamischen Kultur (und ihrer Vorläuferkulturen) beschäftigte. 

Großartig stellte Kermani dar, dass in der Region mit der Unterdrückung und Ermordung der christlichen Gemeinschaften durch eine islamische Terrorsekte nur die Spitze eines Eisbergs sichtbar sei, dass dort Barbaren dafür kämpften nicht nur die nichtislamischen zivilisatorischen Wurzeln auszureißen, sondern gleichermaßen auch die nicht mehr erwünschten Aspekte der jahrhundertealten islamischen Tradition. Er wies darauf hin, dass gewisse Strömungen des Islam wie der Wahhabismus und der damit verbundene Salafismus auch in augenscheinlich friedlichen Regionen der islamischen Welt die kulturellen Wurzeln und Traditionen des Islam selbst zu vernichten bereit sind. Ein Aspekt mehr, der die praktizierenden Muslime in aller Welt mehr als unruhig machen sollte. Der Islam selbst ist in seinen Ursprungsländern in höchster Gefahr.

„Ein Friedenspreisträger soll nicht zum Krieg aufrufen. Doch darf er zum Gebet aufrufen.“ Die Spannung, die in diesen Worten lag (er ließ durchaus offen, ob er das nicht eigentlich gerne täte), traf bei mir (und vermutlich auch bei vielen anderen Menschen) einen Nerv. Wer wünscht sich nicht, dem menschenverachtenden Spuk der IS – Leute ein schnelles Ende zu bereiten! Wer wünscht sich nicht, dreinzuschlagen und hoffte so, die Unmenschlichkeit mit Gewalt und Drohung in den Griff zu bekommen. Wer ist nicht entsetzt und hilflos, dass sich ein Krieg nicht einfach und entschieden beenden lässt! Wen schüttelt es nicht, dass in unserer aufgeklärten Welt noch immer viele Menschen leben, die wirren Ideologen zuhören und ihnen nachlaufen; dass es Menschen gibt, die Trugbildern glauben, dem Trugbild eines Islamischen Staates oder dem Trugbild eines Deutschland, dass als Insel des Wohlstands - nur für echte Deutsche - inmitten einer Welt, die aus den Fugen gerät, Bestand haben kann. 

Anlässlich des unlösbaren Dilemmas vor unseren Augen, ist das Gebet zumindest ein Ausweg. Aber offensichtlich einer, der irritiert, ja der als „übergriffig“ und „unerträglich“ erfahren wird. 

Das sind starke Worte. Worin mag wohl der Übergriff konkret liegen? Glauben die atheistischen Aktivisten, dass dem Gebet eine Kraft innewohnt, gar eine missionarische Kraft? Haben Sie Sorgen, dass das Gebet der Anderen die eigenen Überzeugungen ins Wanken bringt? Trauen sie unserem Beten mehr Macht zu als wir Glaubenden das gemeinhin selbst tun?

Natürlich könnte man auf die Minderheitenbefindlichkeit der Atheisten mehr Rücksicht nehmen, als Kermani das tut. Man ist ja zunehmend in Gesellschaft und Politik sogar geneigt, dies zu tun, weil gerade die kämpferischen Atheisten immer wieder auf Benachteiligungen durch Privilegierung der Kirche und der Religionsgemeinschaften hinweisen. 

Oft sind dies nur gefühlte Einschränkungen, die nicht mit wirklichen Lasten verbunden sind. Sie werden aber mit Verve und Systematik vorgetragen. Manchmal, und in der Vergangenheit zumal, waren es ja durchaus spürbare, wirkliche Verfolgungen, wenn man zu den Wenigen gehörte, die den Gottesglauben ablehnten oder ganz anders glaubten. Und solche alten Geschichten wirken noch nach, wenn heute gefordert wird, Religion habe möglichst ganz aus der Öffentlichkeit zu verschwinden; wenn Kreuze abgehängt werden sollen und manches mehr. Diese atheistischen Grundströmungen und Forderungen tragen aber ganz konkret dazu bei, die öffentliche Religionsausübung mehr und mehr zu einem Tabu zu machen. Wo dies dann auch noch zusammen fällt mit einem zunehmenden Desinteresse an den christlichen Wurzeln unserer Gesellschaftsordung und Zivilisation, sind diese Strategien auch durchaus erfolgreich. 

Es wird inzwischen zum Skandal, wenn einer öffentlich betet, beispielsweise im Restaurant. In gewissen Kreisen wird man heute schon als fundamentalistisch und einer weitergehenden Diskussion unwert betrachtet, wenn man vor dem Essen ein Kreuzzeichen schlägt und so als Betender und Gläubiger einschlägig aufgefallen ist. So mussten es einige Blogger in Berlin erfahren. 

Diese Grundströmungen spielen auch mit, wenn mit Verweis auf nicht christliche Gläubige Weihnachten zum Geschenkefest der Liebe, Ostern zum Frühlingsfest, St. Martin zum Laternenfest und St. Nikolaus zum Weihnachtsmann transformiert wird. 

Ich halte all dies für falsch und fatal. Womöglich war es ein weises Prinzip des preußischen Königs, dass in dessen Reich jeder „nach seiner Façon selig werden“ möge. Soviel muss auch heute möglich sein. 

Ein gemeinsames Gebet ist kein Übergriff! Niemand wird gezwungen zum Gebet. Mir kommt da das Wort des Paulus in den Sinn: „Die Liebe ist langmütig und freundlich, die Liebe eifert nicht, die Liebe treibt nicht Mutwillen, sie bläht sich nicht auf, sie verhält sich nicht ungehörig, sie sucht nicht das Ihre, sie lässt sich nicht erbittern, sie rechnet das Böse nicht zu, sie freut sich nicht über die Ungerechtigkeit, sie freut sich aber an der Wahrheit; sie erträgt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles, sie duldet alles.“ Wo sollte dies mehr gelten als in der Kommunikation zwischen Mensch und Gott.

Wer nicht an Gott glaubt, der ist schlicht nicht fähig zum Gebet, nicht fähig zum Gespräch mit einem personalen Gott. Wer Wünsche an eine mysteriöse höchste Macht formulieren kann, der kann dieses tun, ohne einen bärtigen alten Mann als Gott aufgezwungen zu bekommen. Wer den Gottesglauben komplett ablehnt, von dem erwarte ich allerdings, dass er fähig ist, zu respektieren, dass der Sitznachbar dagegen zur Kommunikation über einen allzu engen Welthorizont hinaus in der Lage sein könnte. 

Es ist keinesfalls ein Übergriff, wenn jemand zum Gebet einlädt. Im Gegenteil, wegen eigener Glaubensschwierigkeiten das öffentliche Gebet zu tabuisieren oder das Gebet sogar zu verbieten, das wäre ein wahrhaft unerträglicher Übergriff. 

Die Frage, welchen Raum Religion in einer zunehmend religiös zerfaserten Gesellschaft einnimmt, einnehmen darf, ist sicher noch offen und harrt einer Klärung. Es ist aber sicher der falsche Weg, alle religiösen Regungen und die Religionsausübung in aller Öffentlichkeit auf ein minimalstes, eher atheistisches Niveau herunter zu regeln. 

Die Süddeutsche Zeitung zitiert in ihrer Kritik gar Jesus und das Evangelium selbst, um die steile These der Überschrift zu belegen. „Wenn du aber betest, so geh in dein Kämmerlein und schließ die Tür zu und bete zu deinem Vater, der im Verborgenen ist; und dein Vater, der in das Verborgene sieht, wird dir's vergelten."

Man übersieht dabei den Kontext der Jesusworte und liest die Bibel wie der Salafismus seinen Koran, ohne den Zusammenhang zu beachten. Man missbraucht so das Hl. Buch als Wort-Steinbruch zur Bekräftigung der eigenen Überzeugungen. 

Das Gebet ist, so sagt es Jesus in seiner Erzählung, das Gebet ist kein politisches Statement, es ist auch nichts, mit dem ich mich über andere erhebe: „seht, wie fromm ich bin“. Das Gebet ist auch keine Machtdemonstration in aller Öffentlichkeit, das würde Gebet und Gottesdienst pervertieren. Aber der Glaube an Gott bleibt dennoch etwas entschieden Öffentliches. Christus hat in aller Öffentlichkeit gewirkt, gepredigt, geheilt, Wunder getan. „Ich habe offen vor aller Welt gesprochen. Ich habe immer in der Synagoge und im Tempel gelehrt, wo alle Juden zusammenkommen. Nichts habe ich im geheimen gesprochen.“ Zu diesem, seinem Auftrag stand Jesus sogar im Angesicht seiner Scharfrichter. 

Dass er sich dennoch für ein Gebet im Verborgenen ausspricht, zeigt, dass Gebet und Leben eine Einheit sind, dass das ganz Leben von Gott umfangen ist. Glauben ist nicht, dass man am Sonntag in der Kirche betet und mit dem Schritt durch die Kirchentür die Welt der Religion hinter sich lässt. Im Gegenteil, die Kirchentür ist die Pforte in eine Welt, in der ich dann erst recht Gottes-Dienst und Nachfolge leben darf. 

Jesu Wort gilt, nicht nur im stillen Kämmerlein des privaten Hauses, sondern mehr noch im Kämmerlein des eigenen Herzens und aus diesem Herzen hinaus mitten in die Welt hinein. 

Mitfühlen, Mitleiden, Mitfreuen, Leben miteinander teilen, das st ein Schlüssel zur Lösung vieler Probleme dieser Welt. Ich bin fest überzeugt, dass dieser Schlüssel im Herzen vieler Gläubiger und in den Lehren der Religionen eher zu finden wäre, als in der Verdrängung des Gedankens an einen Gott durch die Thesen des Atheismus und der hierauf basierenden Philosophien.

Jedenfalls konnte mir bisher noch niemand stimmig erläutern, warum die Ablehnung Gottes zur Mitmenschlichkeit und Empathie mit Menschen, die meiner Hilfe bedürfen, mit Flüchtlingen, Armen, Kranken, Alten, behinderten Menschen führen sollte. 

Ich sehe dennoch ebenso klar, dass ein Missbrauch der Religion, vielleicht erst recht dort, wo ihre Vertreter Machtmittel in die Hand bekamen, sehr viel Leid über die Menschheit brachte und bringt. Der später abgesetzte katholische Bischof von Evreux, Jaques Gaillot hat einmal formuliert, dass eine neue Glaubwürdigkeit der Kirche in einem weitgehenden Machtverzicht begründet liegt, leider finde ich die konkrete Formulierung nicht. Im Koran heißt es „Es gibt keinen Zwang im Glauben“ und Papst Benedikt zitiert in seiner Regensburger Rede den byzantinischen Kaiser Manuel II mit den Worten „Der Glaube ist Frucht der Seele, nicht des Körpers. Wer also jemanden zum Glauben führen will, braucht die Fähigkeit zur guten Rede und ein rechtes Denken, nicht aber Gewalt und Drohung…“ (Leider hat ein anderes Zitat dieses Kaisers in dieser Rede allzu viel Aufmerksamkeit gefunden.) Aber bei aller Ablehnung einer „mächtigen“ Religion kann die Antwort auf einige Verirrungen der institutionalisierten Religion nicht lauten, die Religiosität und den Glauben der Menschen ins private Gefängnis einzusperren. 

Ich bin dem muslimischen Migranten Navid Kermani sehr sehr dankbar für seine Gedanken, seine Anregungen, für seine Texte und Bücher, für seine Reden, für seinen Einsatz für die durch den Terror der IS-Fundamentalisten bedrohten Christen, Muslime, all der Menschen in Syrien und anderswo und auch für seinen Anstoß zum gemeinsamen Gebet. Was wären wir heute in Deutschland ohne solche Menschen?!


Kritik in der SZ: