Dienstag, 22. Juni 2021

Schlag- und Knüppelworte der Kirchenkrise: "der Missbrauch des Missbrauchs"

Auf eine bunte und vitale Art anziehend müssen die christlichen Gemeinden auf die Menschen der Antike gewirkt haben, für „Juden und Proselyten, Kreter und Araber…“. Sie alle hörten, wie die Freunde Jesu Gottes große Taten verkündeten. „Seht, wie sie einander lieben…“ heißt es in der Apostelgeschichte über diese Gemeinschaft. 

Wie war das möglich? Vermutlich aus der verbindenden Botschaft, der Kraft des Hl. Geistes und der wirksamen Medizin der Vergebung, denn sieben mal siebzig mal möge man seinem Bruder und seiner Schwester vergeben – das hatte Jesus ihnen einst mit auf den Weg gegeben. Da kann man schon den Überblick verlieren, ob der Vorrat an Vergebungsbereitschaft bereits erschöpft ist. Leider ist von der fröhlichen Ausstrahlung von früher aktuell (zumindest in der Öffentlichkeit) wenig geblieben.

„Schlecht sieht er aus“, der Kölner Erzbischof in seiner neuesten Videobotschaft. Grau ist er geworden beim Versuch, seinen Zuhörern zu vermitteln, dass ein Verbleib im bischöflichen Amt, seine Weise sei, die Verantwortung für das Versagen seines Bistums gegenüber den Opfern und im Umgang mit den Tätern zu übernehmen und zu tragen. Er kommt dabei durchweg wahrhaftig rüber. Und der Preis ist hoch für ihn, schließlich schwindet bei vielen Verantwortungsträgern im Bistum das Vertrauen, dass diese Krise von der Bistumsleitung noch zu meistern ist. Die Signale kommen beileibe nicht nur aus dem Kreis der Reformer.

Wahrhaftig kam auch Reinhard Marx, Kardinal und Erzbischof zu München rüber, als er angesichts desselben Dilemmas dem Hl. Vater seinen Rücktritt anbot, um Verantwortung für das Versagen seiner Vorgänger und für eigene Fehler zu übernehmen. Das war ein Paukenschlag! Denn eine solche Konsequenz kannte man bis dato nur aus der Politik, wo offenbar werdendes Versagen und von der politischen Bühne gehen, oft nur wenige Tage auseinander liegen. 

Doch der Papst hat diese Pläne durchkreuzt. „So einfach kommst Du mir nicht davon!“ Reinhard Marx möge „sein Fleisch auf den Grill legen“. Ein ziemlich waghalsiges Bild, das nach Fege- und Höllenfeuer klingt und riecht. Der Münchner Kardinal ist nicht zu beneiden, denn es muss sich jetzt spürbar etwas verändern. Ob er dazu die Kraft hat? Die Herausforderung stellt sich für ihn aber nicht weniger als in Köln und Marx ist noch gar nicht da angekommen, wo Kardinal Woelki heute schon ist, nachdem dessen Veröffentlichung eines soliden Gutachtes von zahlreichen kommunikativen Pannen begleitet war. Die Fehler kann Marx zwar jetzt vermeiden, aber es ist nicht unwahrscheinlich, dass auch das dort erwartete Gutachten wenig erfreulich sein wird, für das Bistum und vermutlich auch für den vormaligen Trierer Bischof höchstselbst.

Die katholische Kirche befindet sich in einer tiefen Krise. Gibt es einen Ausweg? Weder der Verbleib im Amt noch die Flucht in den Vorruhestand scheint Erleichterung zu bringen. Es wird schwer werden und es gibt keine leichte Lösung. Die Missbrauchskrise ist eine Jahrhundertaufgabe, vermutlich die größte Krise nach dem Fiasko der Dogmatisierung der päpstlichen Unfehlbarkeit. Oder möglicherweise gar seit der Reformation Luthers, Calvins und Zwinglis.

Gibt es einen Ausweg? Einen Ausweg wohl nicht, aber einen Weg. Und den hat ausgerechnet der Hl. Papst Johannes Paul II. auf den Punkt gebracht. „Der Mensch ist der Weg der Kirche.“ (Redemptor hominis) Daraus kann sie lernen, dass sie sich ohne jedes Wenn und Aber hinter die Opfer zu stellen muss. Ich habe meine Zweifel ob das allen Verantwortlichen bereits klar ist.

Ein bedrückendes Foto fand ich kürzlich bei Markus Elstner (siehe oben), der als Kind von einem Priester des Bistums Essen missbraucht wurde. Jener verschwand aus Bottrop und war später in Bayern tätig, in den Gemeinden Garching und Engelsberg. Bei einem Vortrag entdeckte Elstner kürzlich mit verständlichem Entsetzen auf einer Ehrentafel an der Kirche in Engelsberg den Namen seines Täters. Ein irritierendes Bild, goldene Lettern auf schwarzem Grund. Der Täter lebt auf Anordnung von Bischof Overbeck heute wieder in Essen. Doch dieser Verbrecher scheint in der Gemeinde noch immer geachtet zu sein. Möglicherweise ist das rein katholisch-bayrische Ordnungsliebe, denn ein übermalter Name hinterließe eine Lücke auf der Ehrentafel, als sei in diesen Jahren kein Pfarrer dort gewesen. Aber, warum nicht, schon in der Antike wurden Namen und Bilder entfernt? "Damnatio memoriae - Verdammung des Andenkens" nannte man das. Auch hier wäre es gut, dies mit den Augen der Opfer zu sehen (Markus Elstner ist da nicht der Einzige.) Vielleicht sollte auf einer solchen Tafel demnächst stehen: "Von 1992 – 2008 amtierte ein Pfarrer, der als Missbrauchstäter verurteilt wurde. Aus Achtung und Rücksichtnahme vor seinen Opfern haben wir seinen Namen hier getilgt."  (An dieser Stelle möchte ich kurz etwas darauf hinweisen, dass der Begriff "Opfer" umstritten ist, wegen der vielschichtigen Bedeutung des Wortes. Ich bitte um Verständnis, dass ich ihn dennoch verwende, da auch die Begriffe "Betroffene" und "Überlebende" gewisse Schwächen haben.)

Rätselhaft, warum nach so vielen Jahren der Name immer noch dort steht, als sei nichts geschehen. Nach wie vor ein Baustein für den Eindruck, die Kirche habe ihre Lektion noch immer nicht gelernt. Es führt kein Weg daran vorbei, sich der Vergangenheit und den Opfern zu stellen. Dabei sollten die Verantwortlichen vermeiden, den Eindruck zu vermitteln, man sei von der Organisation der Täter nun zum Anwalt der Betroffenen mutiert. Der Platz in der Büßerecke bleibt auf absehbare Zeit angemessen. 

Der Umgang mit den Opfern ist nicht leicht, denn die Kirche hat sie über viele Jahrzehnte vergessen, hat versucht sie zum Schweigen zu bringen, unsichtbar zu machen. Manche von ihnen starben nach einem von den Missbrauchserfahrungen zerrütteten Leben, ohne jemals aus dem Mund der Täter oder eines Bischofs ein Wort des Bedauerns oder gar eine ehrliche Bitte um Vergebung gehört zu haben. Sie haben jedes Recht zornig zu sein. Und als Kirchenverantwortliche dürfen wir ihnen den Mund nicht verbieten. Auch wenn es schwer fällt und die Anklage ungerecht erscheinen mag: sie haben jedes Recht, ihre Empörung, ihren Schmerz, ihre Enttäuschung, ja sogar ihren Hass Ausdruck zu verleihen.

Wenn wir als Kirchenverantwortliche merken, dass uns das trifft, wenn wir es ungerecht finden, wenn wir den Impuls spüren, die Institution verteidigen zu wollen, dann sollten wir umso stiller werden und Herz und Ohr öffnen. Und sollte das helfen: auch das Portmonaie. Jeder Euro, der das Leben eines körperlich, geistig und seelisch missbrauchten Menschen leichter macht, ist gut investiertes Geld. Im Übrigen auch, wenn er aus aktuellen Kirchensteuereinnahmen genommen werden muss.

So wie es klingt, sind wir aber in unseren Diskussionen schon wieder über diesen Punkt hinaus. Das Aushalten und geduldig helfen ist einem gewissen Aktivismus gewichen. Bei den Opfern zu stehen, hintern ihnen zu stehen, ihre Geschichten zu hören, das ist schwer. Weit leichter ist es, gleich die Kirche umkrempeln zu wollen mit Reformen à la Maria 2.0 oder mit Restauration à la Maria 1.0 – um die beiden Bewegungen einmal als Synonym für die kirchenpolitischen Lager zu gebrauchen.

Soweit ich mich recht erinnere, war es der Regensburger Bischof Rudolf Voderholzer, der ein Schlagwort in die Diskussion eingebracht hat. Das Schlagwort, das da lautet „der Missbrauch mit dem Missbrauch“. Ich kann eine gewisse Abwehr verstehen, wenn Menschen auftreten und fordern, dass ein Identitätsmarker des Katholischen, das sakramentale zölibatäre Hirtenamt aufgrund der Missbräuche zu reformieren sei, wenn etwas, was mir als Bischof wahrhaft HEILIG ist, grundstürzend verändert werden soll. Es ist verständlich, dass einem das verkehrt vorkommt, dass man vielleicht gar empört ist und die Argumentation als falsch empfindet. Schließlich hat man selbst sein Leben darauf gebaut!Wer in der Diskussion um die richtigen Maßnahmen nicht zuerst das Wohl der Opfer im Auge hat, der missbraucht deren Schicksal für eigene Interessen. Das liegt doch eigentlich klar auf der Hand, oder?

Leider ist „Missbrauch“ ein vielschichtiges Wort, das zahlreiche Tatbestände umfasst. Die Rede vom „Missbrauch mit dem Missbrauch“ setzt allerdings unvergleichliche Dinge gleich. Der sogenannte „liturgische Missbrauch“, die Abänderung eines liturgischen Textes ist nichts gegen das sexuelle Verbrechen an einem Kind. Man darf so etwas nicht sprachlich auf eine Ebene ziehen. Auch unterstellt der Vorwurf des „Missbrauchs mit dem Missbrauch“ dem Gesprächspartner von vornherein Unwahrhaftigkeit und niedere Motive. Ist es etwa ausgeschlossen, dass jene, die wirklich auf der Seite der Opfer stehen, gerade deshalb aus voller Überzeugung und ohne jede Arglist systemische Veränderungen fordern? Selbst wenn die Ursache der Missbrauchstaten nicht im Zölibat allein liegen kann, könnten sie nicht durch die priesterliche Lebensform und die Haltung der Kirche zu Fragen der sexuellen Identität der Priester begünstigt worden sein? Lassen sich die vielen Indizien in diese Richtung so einfach vom Tisch wischen? Kann es sein, dass das zölibatäre Leben im Pfarrhaus eine Anziehungskraft für jene hat, die ihre sexuellen Präferenzen und Bedürfnisse nicht erkunden und erproben konnten und wollten und daher auch nie in Frieden damit leben konnten? Eine vergleichbare These wird mit Blick auf homosexuelle Männer im priesterlichen Dienst gerade unter Kirchentreuen gern vorgetragen. 

Ist möglicherweise das von Papst Benedikt (in seinem jüngsten Text im Klerusblatt) beklagte Verschwinden der besonderen geistlich-priesterlichen Atmosphäre in Priesterseminaren und Kollegien weit mehr ein Ausdruck des grundsätzlichen Problems als ein Teil der Lösung? Könnte die Art und Weise wie die Themen Sexualität und Zölibat in der Formation des Priester bearbeitet wurden und noch werden evtl. ein Risikofaktor sein? Könnten auf diesem Wege Menschen ins Priesteramt gelangen, die sich nicht gründlich und ehrlich mit der eigenen Sexualität auseinandergesetzt und die starken Triebkräfte in ihrem Innersten nicht genügend im Griff haben. Es ist ein Warnzeichen, wenn deutlich wird, dass viele Übergriffigkeiten erst nach über einem Jahrzehnt im Priesteramt stattfanden, in Zeiten einer ersten Lebens- und Berufungskrise. Wie gelänge es, Priester im Blick auf ihren Umgang mit Sexualität und anderen Fragen der Lebensführung gut zu begleiten? 

Auf der anderen Seite betonen die Diskutanten, dass die kirchliche Sexualmoral und das priesterliche Lebensideal jegliche sexuelle Betätigung streng verbieten. Hätten sich die Priester an die gegebenen heiligen Ordnungen gehalten gäbe es heute keine Krise! Hier wird der Weg in einer klaren Verkündigung gesehen. Die Kirche brauche keine Nachbesserungen. Auch diese Argumente haben ja Gewicht. Aber sie finden leider nicht zueinander. Lieber werden im Gerangel um den Zölibat bedeutsame Fakten zurechtgebogen und vom Tisch gewischt. 

Niemand kann bestreiten, dass die Krise der Kirche andauert und kein Silberstreif am Horizont in Sicht ist. Im Gegenteil, es scheint beinahe täglich schlimmer zu werden. Die Missbrauchsfälle gefährden die Glaubwürdigkeit der Institution und erschüttern sie bis auf den Grund. Manch einer hofft schon auf den endgültigen Zusammenbruch der Kirche(n).

Die Heftigkeit der Auseinandersetzungen dieser Tage erklärt sich sicher aus der Dramatik der Situation. Leider werden im Streit die christlichen Tugenden über Bord geworfen und zwar von allen Beteiligten. Manchmal klärt ja ein Gewitter die Fronten und es geht wieder voran. Doch davon scheint weit und breit nichts zu sehen. Die Gewitterzellen haben sich offenbar über der Kirche festgehängt. Auch der Synodale Weg ist heftigst umkämpft. Die Reformer drängen auf Entscheidungen. Die Bewahrer attackieren ihn und drängen die Glaubenskongregation, der Kirche in Deutschland die Spaltung, das Schisma zu attestieren. Man darf gespannt sein, ob die römischen Behörden jenen auf den Leim gehen, die für sich in Anspruch nehmen, die Reinheit der Kirche und deren Einheit wahren zu wollen. Kann es eine Lösung im Sinne Jesu sein, alle rauszuwerfen, die nicht jeden Abschnitt des Katechismus freudig unterschreiben? Kann es eine Lösung sein, die Kirche gesundzuschrumpfen? Das Problem ist, dass man es für die „Neuevangelisierung“ just mit der Kundschaft zu tun bekommt, die man gerade noch vor die Tür gesetzt hat. Wir können uns das Missionsgebiet ja nicht bei Amazon bestellen oder in ferne Länder ausziehen, wo die „edlen Wilden“ das Wort des Evangeliums in ihren Herzen schon lange ersehnten. Und auch eine Kirche, die überaus treu zu Lehramt und Katechismus steht, ist und bleibt eine Kirche der Sünder. Das Übel des geistlichen und des sexuellen Missbrauchs wird bleiben, denn solche Täter (die sich ja ihre eigene Sündhaftigkeit nicht eingestehen können), werden auch da dabei sein und ihre dunklen Seiten sorgfältig verbergen und im Geheimen ausleben.

Wir sind in der Kirche an einem toten Punkt angekommen. Es geht nicht voran. Nirgends. Die widerstreitenden Lager blockieren, was sie angeblich ersehnen: Evangelisierung, gar „Neu-Evangelisierung“. Wer sollte sich für das Wort des Herren interessieren, das eine Horde von „Kesselflickern“ im Streit sich gegenseitig um die Ohren hauen. Wir brauchen eine gänzlich erneuerte Diskussionskultur.

Über ein besonders bedrückendes Beispiel für das Scheitern der bisherigen Dialogkultur stolperte ich in diesen Tagen bei Facebook. Stellvertretend für die Front der „Bewahrer“ trat Martin Lohmann auf, ein langgedienter Publizist, zuletzt verantwortlich für den konservativ-katholischen Fernsehkanal „K-TV“. Der Bonner betont, seit vielen Jahren mit der amtierenden Vizevorsitzenden des ZdK Karin Kortmann befreundet zu sein. In einem „Zwischenruf“ auf seiner facebook-Seite (Ursprünglich wohl bei kath.net) las man etwas über „Gerüchte“ im Kontext der Visitiation im Erzbistum Köln: „Zu den Gerüchten gehört es auch, dass der ZdK-Präsident und seine Stellvertreterin, Thomas Sternberg und Karin Kortmann, reichlich daran interessiert sind, dass vor allem eines nach der Visitation folgt: Woelki muss weg. Ob das stimmen kann? Ob das vorstellbar wäre? Immerhin wäre (auch) das ein Hinweis darauf, dass es nun wirklich nicht um den Missbrauchsskandal und dessen Aufarbeitung geht und ging. Manche Beobachter und Fakten-Kenner hatten das - fast schon unter dem empörten Protest derer, die doch erklärtermaßen nichts als eine Aufklärung wollen - ja schon mehrfach angedeutet und gesagt. Und jetzt kommt für diejenigen, die sich so empört gaben und vermeintlich ausschließlich an der Aufarbeitung interessiert waren, das große „Ertappt“, „Erwischt“?“

Da ist er wieder, der „Knüppel aus dem Sack“, das Wort vom „Missbrauch mit dem Missbrauch“. Hier noch ein weiteres Mal gewendet, denn Lohmanns Fazit lautet: „Ja, es geht darum, diesen (Kardinal Woelki) als Störenfried für den „Suizidalen“ Weg weg zu mobben. Arglist? Falschheit? Missbrauch des Missbrauchs?“

Beim „Gerüchte-Geraune“ im „Zwischenruf“ geht also darum, dass Verantwortungsträgern des Zentralkomitee der Katholiken einen möglichen Rücktritt von Kardinal Woelki begrüßen würden. Die Überzeugung, dass Kardinal Woelki an der Aufgabe der Missbrauchsaufklärung gescheitert ist, ist ja in der Berichterstattung aus Köln häufiger zu hören. Lohmann sieht darin jedoch einen Beleg dafür, dass es in Köln nicht um Aufklärung ginge, sondern das wahre Ziel sei: „Woelki muss weg.“ Nicht wegen des Skandals, sondern weil er dem „Synodalen Weg“ im Wege sei. Sonst macht ja freilich das Name-Dropping der ZdK-Spitze in diesem Kontext auch keinen Sinn. Ist es zynisch, wenn Lohmann seinen Text mit der Frage beschließt, „wie viel Mut es noch gibt zur Ehrlichkeit und zur Fairness“? Es sei längst ein Kampf ausgebrochen zwischen „Gerechtigkeit und Lüge“ und zwischen „wirklicher und katholischer Reform“ und „offensichtlicher antikatholischer Deform“.  

Ist es wirklich notwendig, vor jedem Argument der Gegenseite Unehrlichkeit vorzuwerfen und ihr die Liebe zur Kirche abzusprechen? Kein Wunder, dass sich die so gescholtene Kortmann direkt auf diesen Post zu Wort meldet und bittet: „Lieber Martin, wer Gerüchte schürt ist unredlich und bezweckt Zwist. Behaupte keine Dinge von mir, die Du nicht belegen kannst.“ Dann verteidigt sie den synodalen Weg und betont: „Die Opfer stehen im Mittelpunkt und sind der Auslöser des Synodalen Wegs.“

Martin Lohmann antwortet ihr und der Öffentlichkeit daraufhin doppelt, einmal direkt auf seiner facebook-Seite und später mit einem Interview bei Kath.net. Er gibt sich, leicht ironisch „beruhigt, dass niemand von Euch gegen einen Kardinal vorgeht...“, hält aber dennoch diese Behauptung aufrecht, obwohl er sich so was eigentlich „nicht vorstellen kann“. Ausführlich legt er dar, dass Kardinal Woelki mehr als jeder andere Bischof aufgeklärt habe und dass die Sexuallehre der Kirche eine Schutzfunktion habe, die müsse: „wieder klarer erkannt, verkündet und aus gebotener Verantwortung gelebt werden.“ Es gehe eben nicht um strukturelle Veränderungen wie „Zölibat oder Frauenordination, liebe Karin!“ Denn es gelte „Opfer zu vermeiden, weil sich manche - und jeder einzelne ist einer zu viel - verbrecherisch nicht an das gehalten hat, was die Kirche lehrend anbietet.“

In einem Gespräch mit kath.net legt er nach: „Ich konnte und kann und will mir eigentlich nach wie vor nicht vorstellen, dass zwei von mir so geschätzte Personen wie Thomas Sternberg und Karin Kortmann hinter den Kulissen andere gegen den Kölner Kardinal munitioniert haben sollen. Das wäre nun wirklich schäbig – und letztlich auch verräterisch. Insofern bin ich angesichts der Reaktion von Karin Kortmann schon ein wenig verwundert.“

Lohmann betont, wie sehr er Karin Kortmann schätze, mit der er seit Jahrzehnten eine echte Streitkultur pflege. „Mit Fairness, mit Respekt, mit Wertschätzung.“

Er deutet dann deren Bemerkung, er solle nichts schreiben, was er nicht belegen könne in der Weise, dass diese Wortmeldung ja kein Dementi sei. „Was, wenn es eben – leider – kein Gerücht oder mehr als „nur“ ein „Gerücht“ ist?“ Auf die Nachfrage, ob er mehr wisse verweist er dann aber auf vertrauliche Quellen, die er zu schützen habe. Doch unter dem Strich fühlt sich Lohmann bestätigt: „Der Missbrauchsskandal und damit die Opfer werden genutzt für „strukturelle Veränderungen“ der Kirche.“

Dem folgt eine Reihe bekannter Vorwürfe gegenüber dem ZdK und abschließend fordert Martin Lohmann von diesem schlicht: „Dialog. Respekt. Toleranz. Miteinander. Christusförmigkeit. Bekenntnisbereitschaft. Empathie. Lebensschutz. Wir alle müssen neu lernen, das Verbindende zu suchen und Widerspruch auszuhalten. Ich behaupte nach wie vor, dass wir besser und enger zusammenwachsen, wenn wir uns besser und enger im Sinne der Geistführung, die ja nichts Beliebiges darstellt, am Gottessohn orientieren, ihm näher kommen und ihm treu folgen. Freiheit und Wahrheit haben einen Namen: Jesus Christus.“

Kurz gestreift werden noch „böswillige Cancel Culture“ und „Kontaktschuld“.

Es müsse: „wirklich alles getan werden, um den Opfern dieser schrecklichen Verbrechen derer, die sich an keine Regeln der Verantwortung und der Moral gehalten haben, zu helfen, sie zu schützen und die Täter zu bestrafen. Da gibt es für mich keinen Zweifel. Aber es muss eben, weil man nicht kurzsichtig und geblendet sein darf, auch alles getan werden, um künftige Opfer zu vermeiden. Da helfen dann nur Klarheit und Ordnung, nicht zuletzt gelehrte und gelernte Enthaltsamkeit, was zugegebenermaßen in einer sexualisierten Welt, die etwas ganz anderes laut und bunt predigt, nicht einfach ist.“

Das Interview schließt mit „Ich bin und bleibe ein Anhänger des Dialogs und der Fairness.“ „Ach ja, was mir noch wichtig ist: Ich freue mich auf das nächste Gespräch, die nächste Begegnung mit Karin Kortmann – in alter Freundschaft.“

Ich habe mir das dreimal durchgelesen und frage mich: muss das sein? Offenbar kennen sich die beiden Protagonisten seit Jahren. Aber wenn ich jemanden so schätze, wie ich das behaupte – warum rufe ich nicht an und frage: Was ist da dran, Karin? Und spiele nicht ein solches Spielchen mit ihr... Was mich betrifft, so wäre eine solche Freundschaft spätestens mit dem Schlusssatz des kath.net – Interviews beendet. Offenheit, Gradlinigkeit und Ehrlichkeit sind für mich Basis echter Freundschaft. Man kann nicht von Fairness reden und eine Freundin ohne wirklichen Erkenntnisgewinn öffentlich in die Pfanne hauen. Diese Gesprächs-Unkultur erscheint mir symptomatisch für viele Dialoge im Raum der Kirche. Dass sie inzwischen sogar Freundschaften dominiert und beschädigt macht mir ernsthaft Sorgen.

Warum ich das hier so ausführlich ventiliere? Weil es etwas ist, was ich inzwischen auch zunehmend erlebe. Ich komme aus einer klassischen lebendigen Kleinstadt-Volkskirche. Wir hatten einige sehr konservative Pastöre. Ich habe die Diskussionen mit ihnen immer genossen. Und auch später viele Kontakte mit Menschen gepflegt, die ihre christliche Berufung sehr ernst nehmen und traditionell kirchliche Formen und Inhalte vertraten. Die Tradition der Kirche ist reich, interessant, vielfältig und tief spirituell. Wir dürfen sie keineswegs über Bord werfen. Aber sie braucht auch Lebendigkeit und eine Verwurzelung im gesellschaftlichen Leben. Inzwischen wird man allerdings als Gesprächspartner sofort taxiert und in Schubladen einsortiert. Die Bereitschaft, Dialoge außerhalb der eigenen Bubble zu führen ist gering. Man bemüht sich nicht einmal mehr um Verständnis für die Argumente und Positionen der Anderen. Und gerade das war mir immer wichtig. Ich finde es spannend zu erfahren, was Menschen bewegt, die sich der außerordentlichen Form der Hl. Messe zuwenden oder sich zum Leben in einem Kartäuserkloster berufen fühlen. Deshalb muss ich weder Kartäuser werden noch regelmäßig zur Messe der Petrusbruderschaft fahren.

Die Fronten scheinen unüberbrückbar. Während die Einen die Lösung in einer Festigung der bestehenden Strukturen und energischer Verteidigung der Lehre sehen, erhoffen die Anderen die Erlösung durch die Veränderung der Strukturen und Weiterentwicklung oder Veränderung der Lehre.

Natürlich ist es grundfalsch, die Opfer sexuellen Missbrauchs heranzuziehen, wenn man sie als Hebel gebraucht, um gewisse Forderungen umzusetzen. Im Umgang mit ihnen sollte man ehrlich und wahrhaftig bleiben und ihr Schicksal keineswegs verzwecken. Aber es ist nicht weniger falsch die Gegenposition mit seinem Engagement für die Opfer zu begründen, die bei „echten und kirchentreuen Priestern“ nicht Opfer geworden wären. Denn es waren auch hochgelobte kirchentreue Priester unter den Tätern und Missbrauchern. Es ist sehr einfach zu sagen: „Weil dieser Mann übergriffig war, weil er zum Täter und Verbrecher wurde, haben wir als die helle und gute Seite der Kirche damit nichts zu tun.“ Ich verweise da mal auf die hoch gepriesenen neuen geistlichen Bewegungen, bei denen sich manche Lichtgestalt inzwischen als Dunkelmann entpuppte. Und dennoch verteidigt noch heute Mancher einzelne Täter, weil sie doch so fromm und so treu waren. Da müssen die Anklagen der Opfer unwahr sein.

Nein, die Verbrechen geschahen im Herzen der Kirche, auch durch Täter die als vorbildliche Priester galten und von ihrem Umfeld gegen jeden Verdacht verteidigt wurden. Der Missbrauch ist ein Krebsgeschwür und seine Therapie ist nicht einfach.

Mein Eindruck ist: Die normalen Gläubigen schauen relativ verstört und irritiert auf den immer schärferen Ton. Und wenden sich ab. Die relative Erfolglosigkeit öffentlicher Aktionen des einen oder anderen Lagers spricht da Bände. Gegen Kardinal Woelki demonstriert ein überschaubarer Kreis von 200 – 300 Leuten, für ein „Dubium“, das ein Schisma feststellen lassen will, interessieren sich bei Facebook nicht mal 200 Leute. Und das trotz engagierter Öffentlichkeitsarbeit. Für die breite Öffentlichkeit bietet die Kirche das Bild einer zerstrittenen Organisation, die ihre Probleme und Unglaubwürdigkeiten nicht in den Griff bekommt und deren Wortmeldungen man keinerlei Bedeutung mehr zuschreiben sollte. Nur ihre Finanzkraft und Gestaltungsmacht in Deutschland bremst ihren Weg in die gesellschaftliche Bedeutungslosigkeit noch ab. Der Stempel "Missbrauch" klebt so fest an der Kirche, dass die Details der Aufarbeitung und all die Bemühungen um Prävention und Wandel die Mehrheit der Deutschen kaum mehr erreichen.

Allein diese Beobachtung sollte die Kampfhähne wieder zusammen bringen. Zumal – weil sie doch im Grunde (wenn auch mit teils gegensätzlichen Mitteln), ein gemeinsames Ziel verfolgen, das man getrost „Evangelisierung“ nennen darf. Alle wollen doch, dass die Botschaft des Evangeliums weiter gesagt wird, dass die Gesellschaft zutiefst human bleibt und immer mehr wird, dass der Glaube in Gemeinden, Kirchen, Orden und geistlichen Gruppen und Gemeinschaften gelebt wird. Sollte es da nicht möglich sein, wieder mehr zusammenzurücken und in einem ersten Schritt eine halbwegs versöhnte Gemeinschaft in Vielfalt zu werden. Ich weiß, wie schwer das jenen fällt, die „die Sache Gottes“ zu ihrer Sache gemacht haben und die glauben, das Heiligste gegen Profanierung zu beschützen. Und wie schwer das aber auch jenen fällt, die unter den Schwächen und Verbrechen der real existierenden Kirche zu leiden hatten und sich eine ganz andere Kirche wünschen. Bringt die unterschiedliche Sicht auf die Bedeutung eines Segens für ein lesbisches Paar wirklich das Evangelium um seine Kraft? Oder besorgt dies weit mehr der verbissene Streit darum?

Ich fürchte, mit der Stärkung der Disziplin allein ist das Problem für die Kirche nicht gelöst. Natürlich braucht es Regeln, an die sich alle halten müssen. Gerade in der Missbrauchsprävention werden die allgemeinen Regeln oft in einen konkreten Verhaltenskodex übersetzt, Regeln, die auch unbeabsichtigte Grenzüberschreitungen verhindern sollen. Aber es gibt systemische Umstände, die Missbrauch begünstigt haben und die muss man in den Blick nehmen. Und warum sollte man in einer guten Diskussion nicht bewahren, was gut ist und sich von dem verabschieden, was Opfer produziert hat?

Es gibt nur einen Weg, Dialog und Vergebung, Vergebung und Dialog. Wir müssen raus aus den ideologischen Gräben und aufeinander zugehen. Wir müssen neu auf das Evangelium hören und offen sein, dass es uns verändern, ja wandeln kann. Wir müssen die Vorwürfe beiseite legen und die politischen und rhetorischen Tricks und Winkelzüge lassen. Wir müssen aufhören, die einen als Traditionalisten zu verunglimpfen und die anderen als Revoluzzer. Der andere ist und bleibt mein Bruder, die andere meine Schwester und idealerweise auch dann mein Freund, wenn wir unterschiedlicher Meinung sind.

Ut unum sint - „dass sie eins seien“. Dieser Auftrag des Hl. Johannes Paul II. bedeutet nicht, dass wir eine Schablone entwickeln, nach der die Einen der Einheit würdig sind und die Anderen draußen bleiben oder ins Schisma zu gehen haben. Einheit bedeutet Dialog, Liebe und Vergebungsbereitschaft. Ein anstrengender aber auch ein schöner Weg.

Wie auch immer wir ihn konkret gehen: wir nehmen die Schuld der Vergangenheit mit und wir gehen ihn in Verantwortung für jene, die im Raum der Kirche niederen Gelüsten und hehren Überzeugungen geopfert wurden und die unter ihr gelitten haben. Ihnen dürfen wir nie wieder den Rücken zukehren. Sie erinnern uns an die Verantwortung, die Zahl der Opfer in Gegenwart und Zukunft nicht noch zu erhöhen. Wir müssen wachsam sein und bleiben. Und letztlich auch demütig!

Sonntag, 28. Februar 2021

Wie kannst Du in dieser Kirche bleiben?

Diese Frage stellte mir vor gut 30 Jahren meine damalige Freundin, und ich erinnere mich mit erstaunlicher Frische an diese Situation. Ich hatte mich damals gerade von der Idee, Ordensmensch zu werden verabschiedet und war in die Ausbildung zum Pastoralreferenten eingestiegen. Wie ich damals geantwortet habe, das weiß ich nicht mehr. Aber sicher so etwas wie dass es in der Kirche viel Licht und Schatten gleichzeitig gibt und dass ich mich auf der hellen Seite engagieren möchte. 

Nach 30 Jahren hauptberuflicher Arbeit in der Kirche kann ich sagen, dass die Frage sich immer wieder neu und anders stellt und dass sie nicht verstummt ist. Aber heute fällt mir eine klare Antwort schwieriger denn je. Denn heute bekomme ich diese Frage auch von jenen gestellt, die wie ich auf der Sonnenseite des Lebens und der Kirche unterwegs sind. Und die Taktzahl dieser Frage steigt rapide. Meist höre ich sie mit der freundlichen Einleitung „Du bist ja eigentlich ein netter Kerl, aber...“. 

Nur einige Beispiele aus dieser Woche will ich schildern: 

Ein Bekannter, respektierter Handwerker im Heimatstädtchen, jemand aus der Mitte einer bürgerlich-katholischen Stadt postete gestern in etwa: „Liebe Freunde, ich verstehe, dass ihr aus der Kirche austreten wollt. Aber seht doch die Rolle, die Kirche für das Sozialwesen und den Zusammenhalt der Gesellschaft hat. Wenn ihr gehen wollt, verstehe ich das, aber geht doch nicht ganz, geht in eine andere Kirche und stärkt diese...“

Das hat mich gestern so berührt, dass ich aus meinem Herzen folgende Antwort gab: „Ich bin vor jetzt 30 Jahren aufgrund guter Erfahrungen mit der Kirche (Kaplan Roth, Kaplan Emmerich, Christel Terlinden, Kaplan Gehrmann, Schwester Almuth, Schwester Ermenhild, Schwester Georgis... und wer nicht noch alles... in den kirchlichen Dienst gegangen. Und habe seitdem mit Herz und Seele in vielen Gemeinden gearbeitet mit und für die Leute. Bestimmt sind nicht alle immer zufrieden mit meiner Arbeit. Aber ich versuche mein Bestes zu geben. Alles wertlos und umsonst...? Weil einige Leute in der Führung Bockmist gebaut haben im Umgang mit Verbrechern...?“

Bei Twitter postete gestern eine prominente Journalistin: „Wer wegen des Bodenpersonals aus der Kirche austreten will, solle sich vorher genauer umsehen. Sie kenne viele wunderbare und großartige Pfarrer*innen.“ Ich habe ihr darauf geantwortet, dass ich in der Kirche auch viele ganz normale Leute mit Engagement und mit Fehlern kennen würde, die ihr Bestes gäben. Und auch für sie lohnt es sich, in der Kirche zu bleiben. Es muss nicht immer alles großartig sein... 

Wenn ich an meine Zeiten als normales Gemeindemitglied zurückdenke, dann haben wir uns natürlich über gewisse Eigenheiten des Pastors geärgert. Und ganz bestimmt sind wir auch mal sauer aus einer Begegnung nach Hause gekommen. Aber das ist auch ein Stück Leben und gehört zum menschlichen Miteinander dazu. Natürlich muss man schauen, was ein Pfarrer (wie jeder, der ein Amt ausfüllt) mit seiner Macht anfängt und wie er sie einsetzt.

„Kirche ist meine Familie“ sagte kürzlich der Vorsitzende der Bischofskonferenz, Bischof Georg Bätzing. Da könne er nicht einfach weggehen... 

Das ist eine sehr persönliche Antwort, aus der man keine Regel machen kann. In mancher Familie ist es ja auch wirklich zum Weglaufen. Und auch in der Kirche menschelt es manchmal unerträglich. 

„Nichts Menschliches ist mir fremd.“ pflegte mein alter Pastor in Lohberg zu sagen. Und auch mit Blick in die Kirchengeschichte muss man feststellen, dass Kirche umso mehr eingebunden war in ungutes Geschehen, umso machtvoller sie war. Sie war immer auch der Raum, wo sich normales menschliches Leben ereignete. Manchmal hat sie die menschliche Fehler abgemildert, oft hat es Leute gegeben, die sich aus der Kraft des Evangeliums dem Bösen in ihr in den Weg stellten (Franziskus, Pater Alfred Delp, Friedrich von Spee), manchmal hat kirchliches Denken und Handeln die Katastrophen der Menschheit noch verstärkt. Die Kirchengeschichte erben wir als heutige Christen auch mit all ihren Schattenseiten (meinetwegen auch ihrer Kriminalgeschichte). Nicht anders wie das deutsche Volk, dass die Last der Shoah, der Verfolgung der Juden und die Schuld am furchtbaren Weltkrieg nach wie vor zu tragen hat. Mir persönlich wäre es zu billig, da zu sagen, „Ich bin Altkatholik, meine Kirche hat kein Problem mit den Frauen.“ oder „Ich bin ja evangelisch, mit den Kreuzzügen haben wir Protestanten nichts zu tun.“ Nicht anders als die Reformatoren früher wollen viele engagierte Menschen in der Kirche, wollen Laien, Priester, Bischöfe, Papst … eine bessere Kirche. Einen neue Spaltung wird die Kirche nicht verbessern und die Welt insgesamt schon gar nicht. Selbst wenn ich mich persönlich als Mitglied einer „einzig wahren“ - oder gar keiner Kirche dann besser fühle. 

Aktuell bewegt die Öffentlichkeit weiter die Frage, wie die Kirche mit den Missbrauchstätern in den eigenen Reihen umgegangen ist. Diese Frage stellt zur Zeit die Glaubwürdigkeit der ganzen Kirche in den Schatten oder ganz in Frage. Für zahlreiche Menschen ist sie der konkrete Auslöser, warum sie der Kirche den Rücken kehren oder erst gar nicht erst den Kontakt mit der Gemeinde vor Ort aufnehmen. Kein Wunder, die Kirche beansprucht eine bessere Welt zu sein – und präsentiert sich doch als unglaubwürdig. Die Kirche stellt Forderungen und hält sie selbst nicht ein. 

Aufgabe der Christen sei es, so sagte das Frère Roger von Taizé immer wieder, „Ferment der Versöhnung“ in der Gesellschaft zu sein, der Kitt, der die Menschen im Dorf, in einer Stadt immer wieder zusammenführt und zusammen hält. Aktuell erleben wir – bis in unsere persönlichen Kontakte hinein – dass alles auseinanderdriftet und dass Auseinandersetzungen zunehmend verbissener und giftiger werden. Dazu tragen die Möglichkeiten der (sozialen) Medien, des Internet und die politischen, gesellschaftlichen und gesundheitlichen Krisen einen guten Teil bei. 

Die Kirche, ja die Kirchen (auch aus der evangelischen Kirche treten die Menschen in Scharen aus), können ihre Aufgabe, die Menschen zu versöhnen, die Menschen zusammenzuführen immer weniger erfüllen. Größer noch als meine Sorge um die Kirche ist die Sorge, dass ich weit und breit nichts sehe, was/wer diese konkrete Rolle in der Zukunft übernehmen könnte. Auch Politik und Institutionen schaffen es nicht, Vereine finden nur noch schwer ehrenamtlich Engagierte, das Konzert der Meinungen wird immer vielstimmiger und der Rückzug ins Private und in die eigene kleine Lebenswelt nimmt zu. Zudem bräuchte es ja eine Grundlage und die können wir Menschen uns nicht einfach selbst erschaffen. Ob wir zu einer gemeinsamen Vorstellung von Humanität ohne eine Verwurzelung in Gott, in der Bibel finden können? Ich sehe das mit Skepsis.

Wer meine Texte und Wortmeldungen verfolgt, der weiß, dass ich eine sehr klare Meinung zum Umgang meiner Kirche mit klerikalen Missbrauchstätern habe. Und da auch deutliche Kritik äußere. Wem das bisher entgangen ist, er kann hier auf diesem Blog und auf www.wirnicht-missbrauch.de dazu etwas lesen. 

Aktuell fühlt sich all das an, als sei in den 10 Jahren nichts passiert in der Kirche. Und als müsse man z.B. Kardinal Woelki erst zum Handeln zwingen. In den Diskussionen auf der Straße und bei Twitter und Facebook, ja selbst vor der Kirchentür wird noch immer erschütternd wenig differenziert. Gerade noch las ich einen erbosten Beitrag wo eine Dame dem Erzbischof vorhielt, er solle endlich zu seinen Missbrauchstaten stehen.

Daher liegt mir daran, dass wir noch mal genau hinschauen, worum es im Einzelnen geht und wo wir da aktuell stehen: 

1. Da ist zunächst einmal die Frage der Prävention. Was tut die Kirche, dass es keine weiteren Fälle gibt? Da stellen auch kritische Fachleute der katholischen Kirche ein gutes Zeugnis aus. Es gibt inzwischen personell gut aufgestellte Prävention in den Kirchen und ihren sozialen Institutionen. Mitarbeiter*innen werden intensiv geschult, bis hin zum betagten Pfarrer. Präventionskonzepte werden erstellt. Die Aufmerksamkeit für auffälliges Verhalten von Haupt- und Ehrenamtlichen ist gewachsen. Hier fährt der Zug wirklich in die richtige Richtung und man muss nur darauf achten, dass das Engagement nicht erlahmt. Mir scheint, da hat die Kirche sogar die Nase vorn? Wenn Sie das nicht glauben, fragen Sie doch mal den Trainer ihrer Kinder oder die Lehrerinnen Ihrer Schule, wann der letzte mehrtägige Präventionskurs stattgefunden hat? Ich verweise hier auch auf unser Präventionskonzept auf www.katholisch-in-voerde.de.

Missbrauch, sexualisierte Gewalt ist leider ein Teil unserer gesellschaftlichen Realität. Erschütternd wird uns das z.B. bewusst an den aktuellen Fällen, wo Eltern ihre eigenen Kinder anbieten und verkauften, wo Kinderporno-Ringe aufgedeckt wurden und manches mehr. Täter suchen – bewusst oder unbewusst – Felder für ihre Arbeit und ihr freiwilliges Engagement, wo sie auch potentielle Opfer finden. Und das kann auch in der Kirche sein, auch heute noch. Zudem gibt es in der Kirche einige besondere Bedingungen, die zu Verbrechen an Kindern und Jugendlichen führen könnten bzw. geführt haben. Die Position und Rolle und die Lebensweise eines Priesters spielt hier eine gewisse Rolle, nur nicht immer so plakativ wie es in der Diskussion um den Zölibat behauptet wird.  

2. Mit Blick auf die Gegenwart geht es hier also um Prävention, mit Blick auf das was war um die Aufdeckung der Taten und die Zusammenarbeit mit der Justiz. Das ist aber ein anderer Punkt und hier schneidet die Kirche auch weit schlechter ab. Nach wie vor ist es ja so, dass die meisten Missbrauchstaten (auch außerhalb des kirchlichen Bereichs) in Bezug auf die lebenslangen Folgen für die Opfer durch die Gerichte augenscheinlich milde bestraft werden. Ein Täter, für den sich nach der Verurteilung in den Augen der Betroffenen nichts ändert weil er vielleicht eine überschaubare Geldstrafe zu zahlen hat, aber ansonsten unter Bewährung weiter in kirchlichen Diensten bleibt – das ist im höchsten Maße unverständlich. Und was ist eine Freiheitsstrafe von drei, sechs Monaten oder gar wenigen Jahren gegen die lebenslange Last einer solchen Tat? Es wird ja manchmal so argumentiert, als sorge die Kirche dafür, dass die Täter nicht vor ein staatliches Gericht kommen. Das ist allerdings heute nicht mehr der Fall. Leider gelingt es nicht, klar zu machen, dass es sich beim Kirchenrecht um ein zusätzliches Verfahren handelt, ähnlich wie beim Disziplinarrecht im öffentlichen Dienst. Da wird geprüft, wie die Kirche als Dienstgeber ein Verbrechen noch zusätzlich bestrafen kann. Also Dinge, die einen Trainer im Sport oder Täter aus dem familiären Umfeld nie träfen. Da muss die Kirche oft die staatlichen Urteile abwarten. Und wenn dann jemand aus Mangel an Beweisen freigesprochen wird … wird es auch für die Kirche mit einer gerechten Strafe schwer, wenn die Bestraften dann gegen solche Strafen vor Gericht ziehen. In diesem Kontext geht es auch um solche Fälle, die sich in den kirchlichen Personalakten verbergen und die in der MHG – Studie untersucht wurden. Da finden sich tatsächlich erschreckend viele Fälle, die heute nicht mehr aufgearbeitet werden können, weil die Täter längst verstorben oder nicht einsichtig sind. Manchmal sind auch die Opfer nicht bekannt oder erreichbar. Viele haben sich in den vergangenen 10 Jahren erst an die Kirche gewandt und haben ihre Leidensgeschichten geschildert.

Manche glauben, dass diese Akten noch immer ausreichend Material zur Verurteilung von Tätern enthalten. In Bayern hat man offenbar einen großen Teil dieser Akten durch die Staatsanwaltschaften überprüft. Mit einem eher mäßigen Ergebnis, aufgrund von Verjährung, Tod der Täter oder dem Mangel an belastbaren Beweisen hat das nur zu einem einzigen Verfahren geführt. Aber genau dies ist ein sehr dunkles Kapitel in der jüngeren Geschichte der Kirche, dass wir dazu beigetragen haben, dass die Taten nicht umfassend aufgeklärt wurden, dass Täter weiter im Dienst der Kirche bleiben konnten, dass Opfer vergessen wurden, dass Täter ihrer gerechten Bestrafung entgingen und weitere Opfer forderten. Um diesen Aspekt geht es übrigens bei der Untersuchung in Köln nur in zweiter Linie. Bei der Untersuchung in Berlin hat man dies z.B. in einem einzigen Gutachten mit aufgearbeitet, aber mit der Folge, dass man die entscheidenden Seiten des Gutachtens nicht veröffentlichen konnte, weil Opfern und Tätern ein Grundrecht auf Persönlichkeitsschutz zusteht, dass man nicht einfach über Bord werfen kann, weil es die Institution Kirche entlasten würde. 

Nicht zuletzt ist es im höchsten Maße komplex aufzuarbeiten, was tatsächlich geschehen ist. Insbesondere, wenn wir nicht von schwerem Missbrauch reden. Die meisten Täter reden sich ihre Übergriffe schön, entschuldigen sich mit Phantasie, spinnen ein Netz von Verteidigern, vermeiden Zeugen. Für die Opfer dagegen sind oft auch Übergriffe schwerwiegend, die in anderen Kontexten als Belästigung mit einer kräftigen Ohrfeige abgewehrt würden. Aber gegenüber dem priesterlichen Täter sind sie wehrlos, können sich der Situation nicht entziehen... In vielen Fällen gibt es hier unterschiedliche „Wahrheiten“. Da den Opfern glaubwürdig zu versichern: „Ich glaube Ihnen!“ und die Täter angemessen zu bestrafen, das ist schon eine Herausforderung. Zumal dann, wenn man sich an Recht und Gesetz halten muss. Hier muss der Kirche gelingen, wo die Justiz nicht selten scheitert.

Ich fände es wünschenswert, wenn eine unabhängige Institution diese Fälle prüfen würde. Hier könnten die Akten unter den Bedingungen des Personenschutzes geprüft werden. Hier könnten sich auch Opfer melden, ohne es mit kirchlichen Mitarbeiter*innen zu tun zu haben und in direkten Kontakt mit der Täterorganisation zu geraten. Aber aufgrund der weit umfassenderen Bedeutung macht eine solche Institution nur für die Kirche keinen Sinn. Man sollte deren Aufgabe auch auf andere Tatorte erweitern, überall da, wo Taten nur dadurch möglich werden, dass Täter als Trainer, Erzieher, Therapeuten, Seelsorger*innen etc. Kontakt mit und Macht über Kinder, Jugendliche, Erwachsene bekommen. 

3. Der dritte Punkt ist die umfassende Sorge für die Opfer. Auch das ist ein schwieriges Feld, weil die Kirche ja letztlich die Täterorganisation ist, unter deren Dach die Verbrechen geschahen. Viele Opfer sind traumatisiert. Die Kirche war und ist viel zu zögerlich in der Frage der Entschädigung und Unterstützung. Lange waren die Opfer „das schlechte Gewissen in Person“ und Kirchenvertreter wehrten sie ab oder mochten Ihnen nicht gegenüber treten. Das ist ein nach wie vor herausfordernder Aspekt, in dem es der Kirche nicht leicht fallen wird, diesen zu bestehen. Ich wäre da sehr dafür, dass die Kirche hier den Tätern klar finanzielle Einbußen auferlegt, die den Opfern zu Gute kommen. Und dass darüber hinaus großzügig therapeutische und seelsorgliche Unterstützung ermöglicht wird. Auch wäre eine Art großzügig bemessene Opferrente ein gutes Signal, um den Menschen das Leben zu erleichtern. Wenn ein Täter seine volle Priesterpension bezieht und daneben sein Opfer aufgrund der Brüche in seinem Leben im Alter von der Grundsicherung lebt, dann muss diese Ungerechtigkeit irgendwie aufgehoben werden. Auch hier wäre eine unabhängige Institution hilfreich. 

4. Der vierte Punkt ist das, was man aus dem Fiasko der Vergangenheit lernen kann. Da geht es um die Fehler, die konkrete Verantwortliche, Bischöfe, Personalabteilungen, Generalvikare, Personalchefs in der Vergangenheit im Umgang mit Opfern und Tätern gemacht haben. Und genau um dies geht es auch im Kölner Gutachten. Und hier ist es zu den Fehlern gekommen, durch die ein Kölner Kardinal nun im Kreuzfeuer der Kritik steht. Und in diesem Kontext steht ja interessanter Weise auch der synodale Weg der Kirche, in dem Kardinal Woelki zu einem Wortführer der Kritiker geworden ist. Und dieser synodale Weg zieht seine Berechtigung unter Anderem aus der Frage, inwieweit die konkrete Gestalt der Kirche als Institution und Bürokratie zu der Krise und der Fehlerhaftigkeit im Umgang mit Missbrauchstaten und Tätern beigetragen hat. Dass sich in diesen Diskussionsprozess natürlich allzu gern all jene mit einbringen, die schon immer grundstürzende Reformen gefordert haben, das scheint mir nicht verwunderlich. Dass sich aber diejenigen diesem Prozess weitgehend verweigert haben, die eine heilige und traditionsbewußte Kirche im Herzen tragen, das gibt mir nach wie vor Rätsel auf. So fällt Kardinal Woelki in dem ganzen Prozess eine besondere Rolle zu, die – neben den gemachten Fehlern – die Aufmerksamkeit aller auf ihn gezogen haben. Dazu kommt sicher noch die Tatsache, dass das „hillige Köln“ sicher das bedeutendste Bistum in Deutschland ist und dass Köln sicher eine der bedeutsamsten Medienstädte der Republik ist. Von daher muss der Kölner Kardinal als de facto „primas germaniae“ nun den Kopf hinhalten für die lieben Kollegen, die doch allesamt im Glashaus sitzen. Kein Wunder, dass diese – angesichts der sich zuspitzenden Krise – zunehmend dünnhäutiger werden. 

Insofern stimme ich konservativen Kreisen zu, die aufgrund der aktuellen Diskussion den Verdacht haben, die aktuelle Aufmerksamkeit für Köln habe mit dem synodalen Weg zu tun. Aber ich teile in keiner Weise die Vorstellung, "man" wolle den Kardinal ausschalten, der dem Durchmarsch in eine neue Kirche im Wege stehe. (Wer auch immer diese dunkle Macht sein soll? Das ach so mächtige ZdK vielleicht?)

Also, das Kölner Gutachten müsste eigentlich ein Grundlagentext für den synodalen Weg werden. Zusammen mit dem Aachener, Münchner, Münsteraner, Essener... Worum geht es bei diesem Gutachten wirklich? Die Anwälte aus München, die das erste Gutachten erstellen, haben den Weg gewählt, aus den gut 200 „Fällen“ einige besonders auffällige, exemplarische Fälle auszuwählen. Diese haben sie eingehend erforscht und daraus ihre Schlüsse gezogen, wo die Institution Fehler gemacht hat. Aufgrund dieser Untersuchungen haben sie benannt, wer diese Fehler zu verantworten hat. Es liegt in der Natur der Sache, dass niemand über sich in der Presse lesen möchte, wo er im Dienst versagt habe. Erst recht nicht, wenn das Folgen für den Lebenslauf und die Karriere hätte. Daher begibt man sich damit auf ein heikles Gelände.

Zumal, wenn das auch Personen betrifft, die heute als Bischöfe andere Bistümer leiten.  

Das war wohl der Grund, weshalb der Kardinal weitere Juristen gebeten hat, sich  mit der Frage zu beschäftigen, ob man da nicht vor den Gerichten eine Klatsche bekommt, wenn man damit an die Öffentlichkeit ginge. Und da hat er wohl Signale (und ein Gutachten) bekommen, dass das durchaus sein kann. Nur konnte man nun – nach vollmundigen Ankündigungen – nicht einfach aussteigen oder die Namen rauslassen. Und die Betreffenden würden sicher argumentieren, es seien ja nur einzelne Fälle im Gutachten erforscht worden und daher sei das Urteil sehr einseitig. Daher hat man einen weiteren renommierten Juristen beauftragt ein neues Gutachten zu machen, das ausdrücklich alle Fälle in den Blick nimmt und sich in diesem Punkt nicht angreifbar macht. Rings um all diese Vorgänge gab es eine gewisse Zahl von Pleiten, Fehlern und Pannen und eine zunehmende Ungeduld in der Öffentlichkeit.

Die wird umso mehr gesteigert, als dass viele Beobachter die Details gar nicht im Blick haben und so verfestigt sich der Eindruck, dass sich in der Kirche gar nichts verändert und verbessert. Journalisten und ihre Leser, Hörer und Zuschauer erwarten Antworten auf ihre Fragen, verweisen zu Recht darauf, dass der Prozess ja nun schon lange dauert. Kirchenleute trauen sich aus Angst vor hitzigen Debatten und Ungerechtigkeiten gar nicht mehr auf öffentliches Parkett oder wollen sich dreimal absichern, dass am Ende kein schlechtes Bild bleibt. Es ist verständlich, dass Kardinal Woelki, bevor er Fehler und Verantwortliche benennt, dafür erst die Einschätzung eines neutralen Gutachters lesen will. Trotzdem würde ich mir mehr Mut wünschen, sich mit klaren Worten auf die Agora oder auch den heißen Stuhl zu begeben. Warum nicht „Was nun Herr Woelki?“ im Garten hinter dem Bischofshaus. Und gerne mit Christiane Florin als Interviewerin.

Die hat letztlich erstmals die Frage nach spürbaren Konsequenzen, nach Rücktritten gestellt. Seitdem ist das – zuvor Undenkbare – in der Welt. Von dem, was bisher bekannt ist, trägt Kardinal Woelki auch nicht mehr Schuld als seine Bischofskollegen in München, in Regensburg, in Essen, in Münster, in Osnabrück... Ich erwarte da weder von dem einen noch von dem anderen Gutachten Mitte Mai grundstürzende Neuigkeiten. Wenn es danach ging könnte vielleicht noch Bischof Wilmer aus Hildesheim bestehen oder Bischof Hanke in Eichstätt. Beide kommen aus einem Orden und bekleideten keine hohen Positionen in der diözesanen Bürokratie und Verwaltung. Obwohl … auch die Orden haben da ja ihre diesbezügliche Geschichte. Trotzdem stellt sich ja die Frage, wie in der Kirche die Verantwortung für Fehler eingestanden werden kann und welche konkreten Folgen ein solches Eingeständnis hat. Kostet es mich etwas? Also mehr als einige unangenehme Diskussionen und unerfreuliche Artikel in der Tageszeitung? Kostet es mich meine Position, meine bedeutsame Rolle, meine Macht? Mein Geld? Meine Privilegien? Und wem wäre damit gedient? Kardinal Marx hat ja erfreulicherweise hier schon vorgedacht und einen beachtlichen Teil seines privaten Vermögens abgegeben. Andere Bischöfe haben schon mal prophylaktisch persönliche Fehler eingestanden. Diejenigen, die mutmaßlich selbst Täter waren oder aktiv solche gedeckt haben sind lange schon tot. Viele derjenigen, die die Taten nicht ernst genug nahmen oder Täter einfach versetzten sind ebenfalls verstorben oder längst nicht mehr im Amt. 

Kardinal Woelki träte heute zurück aufgrund der Fehler seiner Vorgänger und seiner Diözesanverwaltung. Viel wichtiger wäre mir, dass die Kirche aus ihren Fehlern lernt. Dass sie sich entschlossen von weltlicher Macht und Privilegien trennt. Dass sie viel transparenter wird in ihrem Handeln, dass sie nur solche Menschen in Ämtern einsetzt, die mit sich, ihrer Rolle und Position und ihrer Sexualität und ihrem Gefühlsleben im Reinen sind. Ich fürchte mit Frauen in Ämtern, nicht klerikalen Priestern und einer liberaleren Sexualmoral allein ist es nicht getan. 


„Wie kannst Du in dieser Kirche bleiben?“ Ich denke, diese Frage wird mich weiter begleiten. Die Familien-Antwort von Bischof Bätzing taugt für mich nicht. 

Vielleicht habe ich zwei Teilantworten. Die Eine: Die Kirche ist für mich immer noch weit mehr Lösung als Problem. Dass es uns gibt, macht die Gesellschaft menschlicher, sozialer. Trotz aller Schwächen und Fehler. 

„ecclesia semper reformanda“ 

Wenn es die Kirche nicht gäbe, müsste man sie erfinden. Wir müssen alles tun, damit sie ihre Kraft wieder auf die Straße bekommt. Und vielleicht muss sie wirklich mal ausziehen aus den Ruinen ihrer einstigen Herrlichkeit und ganz klein und ganz neu wieder anfangen. Obwohl dann auch manches kaputt geht, was gut und hilfreich ist. Apropos erfinden. Nach wie vor ist für mich die Kirche keine menschliche Sache, sondern sie ist Gottes Werkzeug, seine Erfindung, seine Kirche. Bei der lauthals vorgetragenen Forderung von (Neu-)Evangelisierung kommt es mir allerdings manchmal so vor, als ginge es allein darum die alte Herrlichkeit zu retten, zu restaurieren und aufzupolieren. Ein alter Pfarrer sagte mir, der erste Schritt müsse sein, sich selbst zu evangelisieren.

Die Bibel ist nicht ein schönes Buch unter vielen, eine weise Schrift der Vergangenheit, nein in ihr klingt Gottes Wort in seiner ganzen Frische und auch Sprengkraft. Und wo sonst könnte man sie zum Klingen und Erklingen bringen, wenn nicht in der Kirche.

Ja, ich bin seit 30 Jahren dabei. Ich weiß um manche Misstöne. Irgendwie ist die Kirche aktuell wie eine völlig verstimmte Orgel. Es wird ein Kraftakt werden, sie wieder richtig zum Klingen zu bringen. Und selbst dann, wenn alles fertig ist und glänzt – wird irgendeine Taste wieder klemmen oder eine Orgelpfeife quäken. 

Aber, sie kann schön klingen, sehr schön und zu Herzen gehend.

Deshalb bin ich noch immer dabei. 

Und ich glaube fest, dass ich auch bleiben werde. 

Aber ich habe auch Lust, das Instrument mit einer kräftigen Bürste von allem Dreck zu befreien. 

Aber doch auch mit Engagement, Liebe und Sachkunde, so dass die Substanz nicht verloren geht. 


Und Sie? Und du? Bleibst Du auch mit dabei? Oder fängst Du wenigstens was Neues an, was die Leute zusammenbringt und die Gesellschaft zusammen hält? Was ist Dein Beitrag?


Bildquelle: Von Caspar David Friedrich - https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=2184609

Mittwoch, 13. Januar 2021

Die Worte des Bischofs von Köln...

Das „hillige Köln“. Die schöne Stadt am Rhein ist für meinen Glauben durchaus ein Sehnsuchtsort, nicht nur in diesen Tagen, wo sich die Aufmerksamkeit den Hl. Königen aus dem Morgenland zuwendet, deren Grab ja – sogar geografisch – der Mittelpunkt dieser Stadt ist. Hier auf meinem Blog finden sich vermutlich mehr Berichte über das Erzbistum als über mein Heimatbistum Münster. Ob das der Einfluss des Rheins ist?

Es hat nun ein viertel Jahr gedauert, bevor sich mir ein Thema aus der Kirche für einen Blogartikel aufdrängte. Ich glaube ja auch nicht, dass ich Wesentliches beizutragen hätte, sondern möchte schlicht meine Gedanken mit anderen teilen und diskutieren. Auch war dies neben Corona wohl einer milden Form von Enttäuschung geschuldet. 

„Warum schweigen so viele Kirchenleute zu den Vorgängen in Köln?“ „Jetzt muss ein Aufschrei durch das Bistum gehen.“ So triggerten mich zwischenzeitlich manche Netzfreunde in den vergangenen Monaten. Ich habe damals geantwortet: „Was soll ich dazu Substanzielles beitragen, was nicht von weit besser informierten Journalisten und Pfarrern im Erzbistum schon gesagt wurde...?“ 

Doch Sonntag sprach mich ein pensionierter Kollege beim Betrachten einer Krippe an: „Was meinst Du, wie lange sich der Woelki noch hält?“ Morgens, beim Scrollen meiner Timeline hatte ich den wöchentlichen Netzbeitrag des Kölner Kardinals ebenso wie den seines Weihbischofs Schwaderlapp schon nach wenigen Sekunden abgeschaltet, was jeweils weder an den Inhalten noch an der Aufmachung lag. Es war ja wieder inhaltlich gut und technisch gut gemacht. Aber es sträubt sich inzwischen etwas in mir, ich empfinde es so, dass deren Glaubwürdigkeit in Frage steht, solange sie sich in der Frage der Missbrauchsaufklärung nicht überzeugend erklären. Tragen sie evtl. gar mit Schuld am Leid missbrauchter Kinder, Jugendlicher, Erwachsener? 

Ich spüre, ich kann ihre Beiträge nicht mehr unbefangen hören und könnte ihren Predigten nicht mehr mit offenen Herzen lauschen. Zu drängend sind die Fragen: „Was haben sie gewußt? Was hätten sie tun können und haben es nicht getan?“

Wie kann ich einen Menschen zur Feier meiner Kardinalserhebung als Gast mit nach Rom nehmen, von dem ich weiß, dass er ein Kind im Kindergartenalter missbraucht hatte? Oder einen Priester katechetische Bücher schreiben lassen, den man schon vor Jahrzehnten mit Jugendlichen onanierend im Gebüsch aufgegriffen hat? Und über den ich viele weitere Beschwerden gehört habe? Darauf muss man doch eine Antwort geben können. 

Dabei hat mich der Amtsantritt des Kölner Kardinals damals tief beeindruckt und nachhaltig für ihn eingenommen. Nach meiner Krebserkrankung, die ich im Herbst 2014 gerade überstanden hatte und die mich in die Selbstisolation zwang (wegen des angegriffenen Immunsystems) habe ich die Amtseinführung des Kölner Kardinals als meinen ersten Gottesdienst unter Menschen mitgefeiert. Ich habe hier auch darüber berichtet... Eine großartige und freudige Feier mit einer weiten Palette von Kirchenmusik und einem höchst sympathischen und humorvollen Erzbischof. Nie vergessen werde ich den Moment, wo er nach der Eucharistie geduldig und schmunzelnd wartete, bis ihm die Mitra angereicht wurde. Dann wandte er sich den Gläubigen zu und sagte augenzwinkend „Wer vornehm sein will, kommt mit Hut, nicht...“ Und dann fand anschließend auf dem Roncalliplatz eine locke Feier mit Bewirtung für Jedermann statt. Die Bischöfe und Kardinäle (darunter auch Kardinal Müller) mischten sich unter das Kölsche Volk, vom Obdachlosen bis zum Minister standen alle zusammen. Wirklich hoffnungsvoll! Und das nicht, weil Kardinal Woelki sich von seinem Vorgänger absetzen wollte, wie mancher glauben machen wollte. Dass Woelki ein eher konservativer Theologe ist, das stand doch niemals in Frage. Er hat sich da auch nicht im Laufe seiner Amtszeit wesentlich verändert, wenngleich er sich in Berlin vermutlich anders entwickelt hätte als nun in Köln mit einem hier weit größeren Hintergrund an Traditionen, Lebensart, Macht, Geld und persönlichen Verbindungen. Man nennt Letzteres hier auch Klüngel.

Von Anfang an hatte er mit klaren Worten über das Drama des Missbrauchs auch im Erzbistum Köln gesprochen und rückhaltlose Aufklärung zugesagt und sehr frühzeitig versucht, auch die Betroffenen in den Prozess mit einzubeziehen. Auch in die Prävention und Aufklärung hat der neue Oberhirte offenbar investiert und hierfür wirksame Strukturen geschaffen. Von seinem Handeln her ist Kardinal Woelki kein Vertreter einer Täterorganisation, de facto muss er dieses Erbe aber annehmen.

Man hatte zunächst den Eindruck, dass er in der Frage der Aufklärung wirklich voran gehen will. So hat er selbst sich die Hürde sehr sehr hoch gelegt und wird nun auch daran gemessen. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass einigen anderen Akteuren in der Kirche die hohe Aufmerksamkeit für Kardinal Woelki durchaus recht kommt. So kann man sich etwas zurücklehnen und schaut mal, was geschieht. (Das Bistum Aachen konnte damit punkten, dass sie veröffentlichten, was Köln zurückhielt – ein Gutachten aus derselben juristischen Quelle.) Das ist ja alles auch durchaus menschlich. Positiv gesehen kann man aus den Kölner Erfahrungen lernen ohne dieselben Schmerzen, kritisch betrachtet kann man weiter die Füße still halten und untätig bleiben. 

Aber das Verhalten geht ja weit über den Raum der Kirche hinaus. Als katholsiche Kirche stehen wir seit Jahren im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit und das sicher zu recht. Hoffentlich erledigen auch alle anderen gesellschaftliche Akteure derweil ihre Hausaufgaben in Sachen Prävention und Aufarbeitung ordentlich. Warum gibt es eigentlich von Seiten der Politik aktuell keine nennenswerten Bestrebungen, die Aufklärung von Missbrauchsfällen an sich zu ziehen und Fachleute damit beauftragen?

Aber zurück nach Köln. Und zu dem innerlichen Widerstand, der sich bei mir aktuell einstellt, wenn ich die Verkündigung von Kardinal Woelki und Anderen höre. Ich frage mich, was die Aufklärung des Missbrauchs so schwer macht? Und was ein gradliniges, offenes und schnelles Handeln verhindert?

Viel kritisiert und analysiert wurden Woelkis Worte in der Christmette.  „Zu den Sorgen, die Sie alle durch Corona ohnehin schon haben, haben wir, habe ich leider noch eine Bürde hinzugefügt. Was die von sexueller Gewalt Betroffenen und Sie in den letzten Tagen und Wochen vor Weihnachten im Zusammenhang mit dem Umgang des Gutachtens zur Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt in unserem Erzbistum, was sie an der Kritik darüber und insbesondere auch an der Kritik an meiner Person ertragen mussten. Für all das bitte ich Sie um Verzeihung."

Er habe vor zwei Jahren sein Wort gegeben, "dass wir mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln die Vorgänge aufklären und auch Verantwortliche benennen werden". Das solle "ungeschönt und ohne falsche Rücksichten" geschehen. "Ich stehe weiterhin zu diesem Wort, auch wenn dies öffentlich gerade anders gesehen und angezweifelt wird", sagte der Kölner Erzbischof Woelki.

Das erscheint zunächst einmal als ziemlich verdrehte Formulierung, die missverstanden werden kann. Und was falsche und richtige Rücksichtnahmen sind, das wäre ein weites Feld... 

Ich glaube aber, ein einziges Wort hätte die Erklärung weit besser gemacht: „Was Sie an berechtigter Kritik...“

Vielleicht hat er es sogar so gemeint, denkbar ist das. Ich glaube durchaus, dass Woelki es gut und richtig machen will. Aber, viele Köche verderben den Brei und viele Berater und Rechtsanwälte machen die Fakten nicht unbedingt klarer. Erst recht nicht, wenn sie darauf aus sind, dass die Beschuldigten (in diesem Fall die Personalverantwortlichen) mit einer einigermaßen milden Verurteilung und ohne Karriereknick davon kommen. Ich glaube gern, dass die Juristen dem Kardinal die Risiken dargelegt haben, die eine schlichte Veröffentlichung des ersten Gutachtens mit sich brächte. Und dass er sein gegebenes Wort nicht zurücknehmen wollte, ohne hierfür die Unterstützung der Betroffenen zu haben. Aber auch das ist wieder schief gegangen. Und währenddessen offenbarte sich der Betroffenheitston des Kardinal Meisner „Nichts gewußt...“ als das, was es ehrlicherweise sein sollte: „Ich, Kardinal Meisner, ich habe es nicht glauben, ich habe es nicht wissen wollen. Ich habe die Augen zugemacht vor diesem Abgrund... Weil...“

Ja, warum eigentlich? Warum begibt sich ein wortmächtiger und ansonsten durchaus glaubwürdiger Kardinal auf derart glattes und dünnes Eis?

Die ganze Angelegenheit zeigt: „Es ist an der Zeit, die Dinge aus der Hand zu geben.“ Es braucht eine Aufklärung durch absolut unabhängige Stellen. Die Kirchenleitung muss die Kontrolle abgeben. Es ist an der Zeit? Nein, eigentlich ist es schon viel zu spät. „Wovor habt ihr solche Angst...“ „Fürchtet euch nicht.“ Offenbar schlagen diese Sätze aus dem Evangelium der Weihnacht in diesem Bereich nicht durch bis in die Herzen der Kirchenverantwortlichen. 

Überhaupt fragt man sich, wie wahrhaftig unsere Verkündigung in Fragen von Schuld und Sünde, Vergebung und Neuanfang ist, wenn man sieht, wie sich die bischöflichen Sünder und ihre Verwaltungsspitzen gegen ein rückhaltloses Mea culpa wehren. Zählt hier nur noch die Andachtsbeichte und ist das Klopfen an die Brust ein leerer Ritus geworden? „Ich steh vor Dir mit leeren Händen, Herr....“ Dieser Satz aus einem lieb gewordenen Lied von Huub Osterhuis enthält eine tiefe Wahrheit und Erkenntnis, ohne dass ich deshalb glaube, ich sei völlig wertlos und ohne Fähigkeiten. Aber genau diese Wahrheit spüre ich doch, wenn mir ein Missbrauchsopfer sein Schicksal und seinen Hass gegen diese Kirche, diese Täterorganisation erzählt. Da kann die Antwort wirklich nur lauten: „Ja, ich glaube Dir!“ Und nicht „Ja, aber Du musst auch sehen und verstehen, dass...“ Genau das hat das TV-Gespräch zwischen Kardinal Schönborn und Doris Reisinger so berührend gemacht.

Nicht wenige fordern heute den Rücktritt des Kardinals. Nicht nur vermeintliche Kirchenfeinde. Da kann die Reaktion doch nicht sein, dem Pfarrer den Personalchef auf den Hals zu hetzen und ihn an seine Loyalitätspflichten zu erinnern und mit Sanktionen zu drohen. So tut das ein straff geführtes Unternehmen. Und selbst dieses wäre da nicht immer gut beraten. In einer derart aufgeheizten und auch für den Kardinal existenziellen Situation mag es die weit hilfreichere Geste sein, des Morgens im Zivil in der Werktagsmesse eben dieses Pfarrers zu sitzen und ihn anschließend in der Sakristei um ein Gespräch zu bitten. Oder gar bei ihm zu beichten. Oder einem kritischen Journalisten schlicht in einem Kölschen Brauhaus Rede und Antwort zu stehen. Allein und ungeschützt!

Dabei bin ich mir keineswegs sicher, dass Kardinal Woelki in diesem Drama der Böse ist. Die Bibel hält ja ein gerüttelt Maß an Lebensweisheit bereit. So zitiert das Buch Hesekiel ein Sprichwort (und lehnt es gleichzeitig ab): „Die Väter essen saure Trauben und den Söhnen werden die Zähne stumpf.“

Aber ist es nicht genau dies, was Kardinal Woelki und auch die anderen Bischöfen gerade erleben? Sie „ernten“ die Folgen der Versäumnisse ihrer geistlichen Väter. 

Vermutlich haben sich die Allermeisten von ihnen keine persönlichen und gravierenden Fehler vorzuwerfen. Sie meinen es gut. 

In den Präventionskursen und von jenen, die Opfer sexueller Gewalt begleiten, lernen wir doch etwas über die Täterstrategien. Diese schaffen um sich und ihre Taten herum ein Umfeld von Freunden und Anhängern, sie präsentieren sich als glänzende Katecheten und Prediger, als fromme und gebildete Priester, als zugewandte und freundliche Menschen, denen man nichts Böses zutraut. Ihr Umfeld soll einfach nicht glauben können, dass dieser Priester „so etwas“ getan hat und so den Täter abschirmen und die Aufdeckung seiner Taten verhindern. 

Das funktioniert leider. Diese Reflexe begegnen uns auch in der kirchlichen Diskussion immer wieder. So kürzlich, als der Essener Generalvikar Klaus Pfeffer in einem Aufsatz über einen „gesunden Generalverdacht“ gegenüber Priestern und kirchlichen Mitarbeitern sprach (mit dem Akzent auf gesund). Er wollte damit sagen: „Man muss das Unmögliche für denkbar halten, ohne dauernd mit Misstrauen durch die Welt zu laufen. Aber man müsse wachsam sein für kleine Anzeichen und den Opfern Glauben schenken." „Und wenn der großartige Priester doch eine dunkle Schattenseite hat?“ Sicher schwierig, aber leider ein notwendiger Spagat.

Das Thema stellt unendlich viele Fragen und auch eine unabhängige Stelle wird mit gewaltigen Problemen konfrontiert sein und Fehler machen. Aber sie ist nicht verstrickt in Strukturen von Freundschaft, Vertuschung, Verharmlosung, Klerikalismus... Sie kennt keine Ehrfurcht vor Priestern und Bischöfen, vor Hoch- und Merkwürden. 

Ich habe durchaus etwas Verständnis dafür, wie schwer sich die Personalverantwortlichen (Bischöfe, Generalvikare, Personalchefs, Geheimsekretäre) früher mit solchen Fällen taten. Zumal in einer hochkomplexen und hochprofessionellen Verwaltung die Verantwortung auch solange aufgeteilt wurde, dass am Ende niemand mehr der Letzt- oder allein Verantwortliche ist. Und sogar dafür, dass ein Kardinal Meisner dann – ohne zu erröten sagen konnte – er habe es nicht gewusst. Denn um das Unappetitliche und die Details kümmerte sich ja vermutlich der Personalchef. Oder man konnte sich mit dem Gedanken beruhigen, dass die Taten ja Jahrzehnte zurück lagen. Oder man hat den sexualisierten Anteil der Beschuldigungen klein geredet... 

In diesem Zusammenhang ist das aktuelle Buch von Bernhard Meuser sehr aufschlussreich. Dieser schildert in „Freie Liebe“ wie der Pfarrer, bei dem er als Jugendlicher seit einiger Zeit im Haus lebte, ihn unvermittelt in einem Moment der Nähe küsst und zwischen die Beine greift. Im ersten Moment ist man als Leser versucht zu sagen: Es passiert vermutlich auf jeder zweiten Firmenparty, dass ein Kollege übergriffig wird. Aber Meuser schildert sehr berührend, dass durch dieses Erlebnis im Grunde alles zerstört wird und er braucht Jahre, um wieder in ein normales Leben zurückzufinden. Jetzt könnte man sich Meusers Missbrauchsgeschichte harmlos reden und über den Pfarrer und seine Schwächen und seine naive Sehnsucht, zu einer reale Vater-Figur zu werden, seiner Sehnsucht nach Liebe sinnieren. Und genau sowas wird vermutlich in zahlreichen Gesprächen hinter verschlossenen Türen geschehen sein. Aber wir müssen die Dinge konsequent auch aus der Sicht und an der Seite der Opfer sehen. Und dafür sorgen, dass solche Übergriffe nicht wieder geschehen, weil sie unendlich viel zerstören. Das legt Bernhard Meuser unter der Überschrift: „Ein Vater darf alles, nur nicht geil auf sein Kind sein.“ erschütternd und wortmächtig dar.

Wie konnten Menschen, die mit der Bibel leben, die deutlichen Worte Jesu zu all diesen Fragen derart ignorieren? Da sind einmal die Worte Jesu über die „Kleinen“, was in jüngerer Zeit (aber auch früher schon) als „Option für die Armen“ gedeutet wird. Was ging wohl im Bischof vor, der einem Missbrauchsopfer gerade einen Vertrag über eine Entschädigungszahlung mit Verschwiegenheitserklärung vorgelegt hatte und am Abend im feierlichen Gottesdienst das Evangelium nach Lukas vorliest: „Nichts ist verhüllt, was nicht enthüllt wird, und nichts ist verborgen, was nicht bekannt wird. Deshalb wird man alles, was ihr im Dunkeln redet, im Licht hören, und was ihr einander hinter verschlossenen Türen ins Ohr flüstert, das wird man auf den Dächern verkünden. Euch aber, meinen Freunden, sage ich: Fürchtet euch nicht.“ Es müsste ihm doch eigentlich die Sprache verschlagen.

Was ist die Folge all der Bemühungen, das Versagen einzelner kirchlicher Mitarbeiter nicht öffentlich werden zu lassen? Die Folge ist, dass wir heute einen sehr hohen Preis zahlen, in vielfacher Hinsicht. Doch, weit höher ist ja der Preis, den die Opfer zu zahlen hatten. Das dürfen wir nie vergessen und müssen es immer wieder neu erkennen. Und wir müssen durchaus tief in die Taschen greifen, wenn ihnen das helfen kann.

Auf vielfältige Weise hat unsere Kirche in der Vergangenheit versagt. Es gilt – bei aller Aufarbeitung – sicher auch darum, zu lernen, wie man Prävention verbessern, aber auch die Opfer besser zu begleiten und am Ende auch, wie man mit Tätern richtig umgehen kann. 

Damit muss man aber wirklich nicht warten, bis auch die letzte Studie rechtssicher und öffentlich ist. Die Benennung von Verantwortlichen der Vergangenheit ist sicher ein ganz heißes Eisen. Aber es kann doch nicht darum gehen, ihr Versagen zu brandmarken, ihre Gräber klammheimlich aus den Domen und Kreuzgängen zu entfernen und alle Bischof Xxxyz – Häuser umzubenennen. Wir müssen klar sehen, was geschehen ist, worin die Verletzungen der Opfer konkret bestehen, wie wir ihnen zur Seite stehen und bei der Bewältigung der Folgen der Taten helfen.

Auch die Täter müssen dabei einsehen, worin die Schwere ihrer Tat begründet liegt, alle Verharmlosung muss vom Tisch. Diesen Dienst sind wir auch ihnen schuldig. Es ist ein Unterschied, ob mir als 14jährigem ein gleichaltriger Bekannter betrunken auf einer Party in die Hose greift, oder ob das der Priester tut, der glaubt, dass er die Stelle des abwesenden Vaters bei mir einnehmen kann und mir dies auch vermittelt. Auch wenn ein Priester (wie die Meisten) niemals übergriffig wird, er muss wissen und jeden Tag neu reflektieren, wer er in seiner Rolle ist und ob er seine Rolle gegenüber schutzbedürftigen Menschen falsch einsetzt. Analog gilt das auch für jede Pastoralreferentin und jeden Erzieher.

Der Bischof ist dafür verantwortlich, dass seine Mitarbeiter*innen die Prävention ernst nehmen und dass sie als gestandene und gefestigte, reflektierte Persönlichkeiten ihren Dienst tun. Und dass es im Bistum eine Fehlerkultur gibt, die es möglich macht, noch vor dem Abgrund inne zu halten und Hilfe zu finden. Und dies möglichst schon ausreichend früh, bevor ein Mensch durch mich zu Schaden kommt.

Wer dazu nicht in Lage ist, der darf weder geweiht noch gesandt werden. Wer in seiner Dienstzeit dokumentiert, dass er seine (Sehn-)süchte nicht kontrollieren kann, muss im Notfall auch konsequent aus diesem Dienst entfernt werden. In diesem Umfeld werden wir auch noch einmal auf den Zölibat schauen müssen. Ich schätze den Zölibat sehr. Aber ich habe Fragen an Verantwortliche wie Pfr. Regamy Thillainathan (Diözesanstelle für Berufungspastoral im Erzbistum Köln), wenn dieser sagt: „Aus meiner Erfahrung heraus kann ich aber sagen, dass dies (die Ehelosigkeit) letztendlich nicht das entscheidende Kriterium ist, sich gegen das Priesteramt zu entscheiden.“ Umso dringlicher ist es, diese Frage zum Thema zu machen und umso dringlicher ist es, fromme junge Menschen, die sich für das Priesteramt interessieren sehr gut zu begleiten. Pfr. Thillainathan ist da sicher auf einem guten Weg, aber an einer offenen Diskussion über Auswirkungen der Zölibatsverpflichtung kommen wir trotzdem nicht vorbei.

Was geschieht mit jenen, die bis zum Weihetag nicht bis zur notwendigen Reife gelangen? Gibt es eigentlich echte Alternativen für fromme junge Männer? Gibt es auch noch andere Lebensformen analog zu Klöstern oder geistlichen Lebensgemeinschaften oder auch Berufe in der Kirche, die eine weitere Reifung und einen gelingenden Lebensweg ermöglichen ohne die besonderen Herausforderungen, die das priesterliche Amt bereithält?

Wir müssen uns all diesen Fragen dringend stellen – und erste und weitere Lösungsansätze entdecken. Das Gerangel um die Deutungshoheit steht uns da sehr im Weg. „Ist der Missbrauchskandal nun das Fanal, dass nach einer neuen Sexualmoral schreit oder braucht es eine Rückbesinnung auf das, was die Kirche schon immer dazu gesagt haben will.“ 

Ich denke, da muss es noch was in der Mitte geben, ein gemeinsames Suchen und Ringen um den richtigen Weg, bei dem nicht derjenige der Böse ist, der die Moralverkündigung der Kirche und den Zölibat in Frage stellt. Und auch derjenige nicht verteufelt wird, der gegen eine Segenshandlung für homosexuelle Paare argumentiert. 

Soll der Kardinal in Köln also zurücktreten? Ich weiß es nicht. Dieser Frage muss Rainer Maria Woelki sich selbst und letztlich allein stellen. 

Die Frage stellt sich ja durchaus auch jenseits persönlicher Schuld. Wie kann Glaubwürdigkeit wieder gewonnen werden? Ein Sündenbock ist es wohl nicht, der unsere Kirche dauerhaft wieder glaubwürdig macht. Nicht einmal, wenn es ein Weihbischof, ein Erzbischof oder Kardinal wäre. 

Bei Hesechiel wird das Sprichwort „Die Väter essen saure Trauben und den Söhnen werden die Zähne stumpf.“ von Gott selbst abgelehnt. Gott verspricht Gerechtigkeit für jeden Einzelnen, misst jeden Einzelnen an seinem Tun und Lassen. Trotzdem tragen wir Katholiken jetzt in der Öffentlichkeit an der Schuld der Täter und am Versagen der Verantwortlichen der Vergangenheit und Gegenwart schwer. Unsere Zähne fühlen sich wahrhaft stumpf an. 

Aber Gott verheißt Gerechtigkeit. 

Wohl dem, der dem kommenden Christus in seinem Leben ohne Angst entgegen gehen kann.