Freitag, 21. September 2012

Ich steh vor Dir... (Gotteslob ohne Oosterhuis?)


Es ist ein kleines, unscheinbares Buch, mal in rot, mal in grün eingebunden, meist Kunststoff, manchmal sogar in Leder mit Goldschnitt. Und es ist das wohl meistgenutzte Buch in der katholischen Kirche überhaupt; häufiger zur Hand genommen als Bibel und Katechismus. Ich denke an unser „Gotteslob“. 1975 ist es erschienen, genau pünktlich zu meiner Erstkommunion. Damals löste es die noch unterschiedlichen Gesangbücher der einzelnen Bistümer ab. 

Das „Gotteslob“ ist natürlich ein „Kind“ der Liturgiereform des 2. Vaticanums. 
Wohl kaum jemand von den Katholiken, die es Sonntag für Sonntag (oh, das ist ja inzwischen auch selten geworden), na jedenfalls von Zeit zu Zeit in die Hand nehmen, ahnt, was für eine sensationelle Sache dieses Buch war und ist. 

Waren Sie schon einmal in Polen in der Kirche, oder in den Niederlanden, in Frankreich oder Spanien, in Italien oder in Belgien?
So ein „Gotteslob“, ein landesweit einheitliches Gebet- und Gesangbuch werden Sie dort nur in seltenen Fällen finden. Auch kennen viele Länder gar nicht so viele landessprachliche Lieder, wie sie in Deutschland üblich sind. 
Das ist für die deutschsprachigen Länder sicher auch eine Folge der Reformation. In den lutherischen und reformierten Gemeinden entstanden schon vor Jahrhunderten erste Kirchenlieder. Martin Luther selbst war als fleißiger Lieddichter bekannt. Auch im Gotteslob finden sich seine Lieder und die von weiteren protestantischen Autoren. Natürlich gab es auch echt „katholische“ Lieder, denken Sie nur an Friedrich von Spee und seine wunderbar poetischen Gesänge. Doch auch seine 1649 erschienene Liedsammlung „Trutznachtigall” war die katholische Antwort auf die Lieder von Martin Luther. Er ist im Gotteslob der häufigste Liedautor, seine Gesänge, etwa das „O Heiland, reiß den Himmel auf” (GL 107) oder „Zu Bethlehem geboren” (GL 140) sind unverzichtbar. Aber vorherrschend war und blieb in den katholischen Kirchen – jenseits der Volksfrömmigkeit – der lateinische Choral. 

Der liturgische (manchmal etwas ungestüme) Aufbruch ab 1965 sorgte zudem für viele deutsche Übertragungen ursprünglich lateinischer Lieder. Ganze gesungene Messen wurden plötzlich vom Lateinischen ins Deutsche übertragen. Von all dem könnte unser Gotteslob „ein Liedchen singen“ und manche Geschichte erzählen. Diese vielfältige und vielschichte Liedtradition ist irgendwie „typisch deutsch“.

1964 weihte (vermutlich) der Bischof von Haarlem (Bisschop von Doodevaart) den jungen Jesuiten Hubertus Gerardus Josephus Henricus Oosterhuis zum Priester und setzte ihn als Studentenseelsorger in der Amsterdamer Studentengemeinde ein. Wer ein wenig über die Geschichte der Niederlande, die der katholischen Kirche und die der Studentenbewegung weiß, der ahnt, dass diese Gemeinde zu dieser Zeit ein lebendiger, kontroverser Brennpunkt des ungestümen Wandels in Kirche und Gesellschaft gewesen sein muss. Seit 1960 war der künstlerisch veranlagte Jesuit (seit 1952) Oosterhuis der Studentengemeinde verbunden, als Priester prägte er den Neuaufbruch nach dem 2. Vatikanischen Konzil entscheidend mit, seine Texte, Gebete und Lieder wurden für weite Teile der niederländischen Kirche – die als besonders „liberal“ galt – stilprägend. Die Studentengemeinde entwickelte sich mit dem Dichter Oosterhuis und dem Komponisten Bernard Huijbers (1922-2003), ebenfalls Jesuit, zu einer (eigene Aussage) „Werkstatt und einem Versuchsfeld, nicht nur für das neue geistliche Lied, sondern auch für die gesamte nachvatikanische Erneuerung der liturgischen Sprache und liturgischen Formen in den Niederlanden.“ Noch vor wenigen Jahren konnte man in den niederländischen Liturgieheftchen, die in fast allen Kirchen als Grundlage für die Feier des sonntäglichen Gottesdienstes verwendet werden, zahlreiche – hierzulande weitgehend unbekannte – Oosterhuis – Lieder finden. Manchmal stammten darin gar die Mehrzahl aller Texte und Lieder von diesem produktiven Dichter und Denker. Ein Spötter aus den Niederlanden hat ein Bibelwort so abgewandelt: „Warom hebt uw uit mijn huis een Oosterhuis gemaakt? Das heißt: Warum hast du von meinem Haus ein Oosterhaus gemacht? So viel Oosterhuis war einigen Katholiken auch zu viel. 

Im Aufbruch der Nachkonzilszeit schoss die Studentenecclesia schnell über das Ziel hinaus. Schon 1969/1970 gab es den großen Knall. Aufgrund von Konflikten über den Zölibat (Oosterhuis stellte sich mit seiner Gemeinde hinter einen Mitbruder, der heiraten wollte) und die Rolle des Priesters bei der Eucharistie steht sie seitdem nicht mehr in der Verantwortung des Bischofs. Oosterhuis gab sein Priesteramt auf und verließ den Jesuitenorden. 1970 heiratete er. Die Amsterdamer Studentenekklesia besteht bis heute: sie kommt jeden Sonntag um 11 Uhr zusammen in 'De Nieuwe Liefde', ihrem Haus in Amsterdam. Sie betrachtet sich – wie Oosterhuis wohl auch selbst – noch als katholisch im Sinne von: 'allgemein, mit der ganzen Welt verbunden.' Auch Oosterhuis ist dort bis heute aktiv. Für die kath. Kirche in den Niederlanden blieb er ein prägender Charakter, trotz aller Konflikte. Mit dem sozial engagierten Mann von Königin Beatrix, Prinz Claus von Amsberg, war Oosterhuis freundschaftlich verbunden. Er hielt nach seinem Tod 2002 für ihn die Traueransprache. Im Jahre 2010 wurde in den römisch-katholischen Bistümern Utrecht und ’s-Hertogenbosch die Verwendung einer größeren Zahl seiner Lieder als „ungeeignet für den liturgischen Gebrauch“ befunden, was zu einem sogenannten „Liederstreit“ und Auseinandersetzungen bis auf Ebene der Bischöfe führte. 

Als 1975 sechs Lieder aus dem Schaffen von Huub Oosterhuis ins Gotteslob aufgenommen wurden, beeinträchtigte der persönliche Hintergrund des Dichters die Freude an seinen Texten offensichtlich nicht. Bis heute finden sich zahlreiche Menschen in seiner Sprache, seinen Liedern, Gedichten, seiner Poesie gut aufgehoben, entdecken darin die lebendige Sprache des Evangeliums, die Stimme Gottes. „Ich steh vor Dir mit leeren Händen, Herr...“ kann man zu Recht als Klassiker betrachten. 

Wohl als „Ableger“ der Auseinandersetzungen in den Niederlanden 2010 keimte kürzlich auch in Deutschland Unsicherheit auf, als das Gerücht die Runde machte, Oosterhuis-Lieder sollten im neuen Gotteslob keine Aufnahme mehr finden. Manch einer witterte reaktionäre Kräfte am Werk, auch wenn die verantwortlichen Bischöfe schnell betonten, dass sie kein Interesse daran hätten, die Lieder von Oosterhuis zu streichen. Mancher sieht aber hinter dieser Haltung sogar eine Taktik. Die Oosterhuis – Gegner würden darauf hofften, dass die vatikanischen Stellen diese Lieder beanstandeten und aus dem Gesangbuch streichen würden. 

Ich mag nicht recht daran glauben, dass man ernsthaft die Lieder des Gotteslobes einem „Gesinnungstest“ unterziehen möchte. Und in diese Prüfung auch noch den Lebenswandel des einzelnen Dichters einbezieht. Da kann aus dem Gesangbuch schnell ein schmales Heftchen werden. Schon heute tummeln sich dort zahllose Dichter und Musiker, die nicht unbedingt eine tadellose katholische Biografie aufzuweisen haben. Auch das Leben eines Künstlers kennt Brüche und Krisen. Und will man ein gelungenes Lied plötzlich für ungeeignet erklären, weil sein Verfasser Jahre später das Priesteramt niederlegte, aus der katholischen Kirche austrat, sich von seiner Frau trennte und eine andere heiratete oder .... Das kann doch niemand wollen. Da gibt viel bessere Kriterien für Lieder und Texte, die ins Gotteslob gehören. Und, man mag gegen Oosterhuis und seine Positionen haben, was man will. Wer wird bestreiten, dass er ein Mann mit Sprachgefühl ist, ein Dichter, einer, der mit Sprache zu arbeiten, zu weben, zu bezaubern versteht. Auch scheint Osterhuis zwar ein streitbarer Charakter, aber weiterhin ein engagiert gläubiger Mensch zu sein. 

Doch, auch das muss durchaus gesagt werden dürfen: Nicht jedes Oosterhuis – Lied eignet sich für den Gottesdienst. Das nimmt dem einzelnen Text nichts weg. Für die bei uns bekannten Lieder aus dem jetzigen Gotteslob: „Wer leben will wie Gott auf dieser Erde“ (GL 183), „Herr, unser Herr, wie bist du zugegen“ (GL 298), „Solang es Menschen gibt auf Erden“ (GL 300), „Nahe wollt der Herr uns sein“ (GL 617), „Ich steh vor dir mit leeren Händen, Herr“ (GL 621), „Sei hier zugegen“ (GL 764) dürfte diese Einschätzung aber nicht gelten. Wenn eines davon im neuen Buch herausfällt, dann eher, weil die Aufgabe, ein Gebet- und Gesangbuch für den ganzen deutschen Sprachraum zu erstellen, gar nicht so leicht ist. Und weil es zahlreiche wunderbare Lieder unterschiedlicher Autoren gibt, die neben den Liedern und Texten von Oosterhuis gut bestehen können und eine Aufnahme in dieses Buch verdient hätten. Auch in den vergangenen – fast 40 Jahren – sind zahlreiche gute neue Lieder erschienen und populär geworden. Doch irgendwann ist der Platz, der zu vergeben ist, trotz Dünndruckpapier und tausend Seiten, zu Ende. Unser neues Gesangbuch kann weder ein mehrbändiges Werk noch ein kiloschwerer Wälzer werden. Auch das sollten die Freunde und Verteidiger von Huub Oosterhuis bedenken.

Freitag, 14. September 2012

Mein Bauch gehört...



Kann es eigentlich einen Zweifel daran geben, dass ein gläubiger Mensch „für das Leben“ eintritt? Kann es wirklich Katholiken (oder evangelische Christen) geben, die in der Beendigung einer Schwangerschaft etwas Positives erblicken oder die „legale“ Abtreibung gutheißen?

Es muss im Jahre 1991 gewesen sein. Die erste sogenannte „Woche für das Leben“ brachte in meiner Heimatstadt Vreden die Christen buchstäblich auf die Beine. Ich erinnere mich an zahlreiche Veranstaltungen und Diskussionen zum damaligen Thema „Schutz des ungeborenen Lebens“. Besonders im Gedächtnis geblieben ist mir der Besuch und die öffentliche Rede von Domkapitular Norbert Kleyboldt (heute Generalvikar des Bistums Münster). Der Domkapitular erschien (nach meiner Erinnerung) in festlicher Soutane mit „Knopflochentzündung“ und betrat so den kleinen Balkon des ehemaligen Vredener Rathauses. Von dieser erhöhten (profanen) Kanzel sprach er zu hunderten von Vredener Bürgern darüber, welche Verantwortung Staat und Kirche gegenüber den ungeborenen Kindern haben. Es war der beeindruckende Abschluss einer sehr berührenden Woche. Ich weiß, dass mich die Frage nach dem Schicksal des ungeborenen Kindes ebenso beschäftigt und aufgerüttelt hat, wie der Gedanke, was wohl in einer jungen Frau vor sich geht, die das in sich heranwachsende Leben dem Tod preisgibt. In welchen Nöten muss sie stecken?

„Schwangerschaftsunterbrechung“, so hieß die Abtreibung im damaligen, allgemeinen Sprachgebrauch. In der noch bestehenden DDR hieß das entsprechende „Recht“: „Gesetz über die Unterbrechung der Schwangerschaft“. Als ob die unterbrochene Schwangerschaft wieder aufgenommen werden könnte, als gäbe es eine „Pausen-Taste“ an der schwangeren Frau, um zu warten, bis es eines Tages günstigere Zeiten für Schwangerschaft und Mutter-Sein geben würde! Aber genau so lief auch die Argumentation der Befürworter. Wenn Vaterschaft oder Mutterschaft heute nicht in die Lebensplanung passt, gibt es ja vielleicht in einigen Jahren eine neue Chance für ein Kind. Manche Politiker und Philosophen unterfütterten die gefühlige Diskussion dann noch mit ideologischen und quasi-wissenschaftlichen Argumenten.

Das Phänomen einer „Abtreibung“ im weitesten Sinne ist schon seit dem Altertum bekannt. Sowohl griechische Philosophen wie auch frühchristliche Theologen beschäftigen sich damit. Sie lehnen einen Schwangerschaftsabbruch natürlich ab, auch wenn in der ganzen Bibel kein ausdrücklicher Text zu diesem Thema zu finden ist. Schon die Kirchenväter betonen aber, dass das heranwachsende Kind ein Mensch ist, der ein eigenständiges Recht auf Leben hat. Sie stützen sich auf biblische Worte, wie z.B. beim Propheten Jeremia: „Noch ehe ich dich im Mutterleib formte, habe ich dich ausersehen, noch ehe du aus dem Mutterschoß hervorkamst, habe ich dich geheiligt...“ (Jer 1,5.) Soweit der Blick in die Geschichte, schauen wir nun auf die letzten Jahrzehnte. 

Von den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts an nahm die Diskussion um den Schwangerschaftsabbruch an Schärfe zu. Der Konsens, dass das heranwachsende Kind ein eigenständiges, unverfügbares Lebensrecht hat, schwand mehr und mehr. „Mein Bauch gehört mir!“ lautete die Parole. 1975 urteilt das Bundesverfassungsgericht dagegen: „Der Lebensschutz der Leibesfrucht genießt grundsätzlich für die gesamte Dauer der Schwangerschaft Vorrang vor dem Selbstbestimmungsrecht der Schwangeren und darf nicht für eine bestimmte Frist in Frage gestellt werden.“ Dennoch stellen die Richter fest, dass es Gründe geben kann, die den Abbruch einer Schwangerschaft rechtfertigen. Darauf folgt 1976 ein Gesetz, dass diese Gründe definiert und 1992 und 1995 eine Neufassung dieses Gesetzes. Hier wird eine umfassende Beratung der Schwangeren (vor einem möglichen Abbruch) zur Voraussetzung für eine Straffreiheit des nach wie vor strafbaren Schwangerschaftsabbruchs gemacht. Im Grunde eine Quadratur des Kreises. 

Nach all dem Streit empfanden Viele das aber als erträgliche Lösung, auch wenn kein Christ wirklich zufrieden sein konnte. Daher strebten fast alle Bischöfe an, die Möglichkeit zu nutzen in der vorgesehenen Beratung mit den betroffenen Frauen (und Männern) ins Gespräch zu kommen. Man wollte die betroffenen Frauen (und Männer) nicht den Abtreibungsideologen überlassen, für die der winzige Embryo im Bauch der Mutter keinen höheren Wert als der Keim einer Pflanze darstellte. Damit begab man sich allerdings auf „unsicheres Terrain“, denn plötzlich war die Kirche nicht mehr unbeteiligt und moralisch sauber. Denn, auch die kirchliche Beratungsstelle stellte am Ende eines Beratungsprozesses einen Beratungsschein aus, der letztlich zur Voraussetzung für eine straffreie Beendigung der Schwangerschaft im gesetzlich geregelten System wurde. Das war der wunde Punkt, an dem die organisierten „Lebensschützer“ in der Kirche ansetzten. Auch für die Bischöfe Dyba und Meisner war dieser Spagat nicht haltbar. 

Die innerkirchliche Diskussion um den besten Weg zum Schutz des ungeborenen Lebens (durch Beteiligung der Kirche an der Pflichtberatung oder alternativ allein durch die Kraft der kirchlichen Verkündigung) polarisierte sich immer mehr. Auf der einen Seite fast alle Bischöfe und viele Laienorganisationen, auf der anderen Seite die Mehrheit der vatikanischen Stellen, die Lebensschutzorganisationen und eine Minderheit der deutschen Bischöfe. Dann schickte m Januar 1998 der Hl. Vater, Papst Johannes Paul II., den deutschen Bischöfen einen Brief, in dem er darum  bat, die Ausstellung der Beratungsscheinen einzustellen. Damit fielen die kirchlichen Beratungsstellen aus dem gesetzlichen Rahmen heraus. 

Die Diskussion rund um diesen Anstoß wurde und wird bis heute in eigenartiger Weise kirchenpolitisch aufgeladen. Noch jetzt wird das zögernde Verhalten einiger Bischöfe und die klare Contra-Position von Bischof Franz Kamphaus aus konservativen Kreisen heraus überspitzt und als Verrat oder Ungehorsam bezeichnet. Die aus Laienkreisen heraus gegründete, von der Kirche formal unabhängige  Schwangerschaftskonfliktberatung „Donum Vitae“ wird auch weiterhin angegriffen und bekämpft, hierin engagierte Laien, selbst fromme und verdiente Persönlichkeiten, spüren (sogar von bischöflicher Seite) deutlichen Gegenwind. 

Hat aber die erhoffte Klarheit und Eindeutigkeit im kirchlichen Engagement positive Auswirkungen gezeigt? Ein Blick in die Statistik zeigt, dass es keinen sichtbaren Zusammenhang zwischen der Haltung der Kirche zu diesem Thema und den vorgenommenen Abbrüchen gibt. Die Zahl der Abbrüche sinkt zwar analog zur Zahl der geborenen Kinder, bleibt aber ansonsten einigermaßen konstant. Es sind seit Jahren in unserem Land ca. 15 % aller Schwangerschaften, die durch einen Abbruch beendet werden. Im europäischen Vergleich sind Schwangerschaftsabbrüche in Deutschland deutlich seltener als in fast allen anderen Ländern. So haben in Großbritannien sogar 2 ½ mal so viele Frauen wie in Deutschland eine Schwangerschaft abgebrochen, in Österreich soll es ähnlich sein, während in der Schweiz Schwangerschaftsabbrüche sogar seltener als bei uns sind. Ich empfinde das so, dass der Einfluss der kirchlichen Verkündigung wohl nicht maßgeblich ist, dass es vor allem Faktoren wie soziale Entwicklung, gesellschaftliche Diskussionen, die Verbreitung von Verhütungsmitteln und wirtschaftliche Situation der Familien sind, die eine Auswirkung auf die Zahl der Abtreibungen haben. 
Eigenartig empfand ich (angesichts meiner Erfahrungen 1991) die Woche für das Leben in 2006: „KinderSegen - Hoffnung für das Leben / Von Anfang an uns anvertraut“. Sie ging relativ unbeachtet im Grundrauschen der Nachrichtenlage unter. Auch in den Gemeinden um mich herum sorgte sie nicht für die notwendige Aufmerksamkeit und Nachdenklichkeit. Ich selbst hielt da gerade unser viertes Kind in den Armen. 

Ich habe den Eindruck, dass die Auseinandersetzungen um die Konfliktberatung im Grunde der Sache selbst, dem Schutz des ungeborenen Lebens mehr geschadet als genützt haben. Wenn das Thema auf den Tisch kommt, bleiben die meisten Katholiken (evangelische Christen nicht minder), inzwischen erstaunlich still. Selbst Bischöfe meiden den lautstarken Auftritt in dieser Frage. Um so lauter gebärden sich die Lebensschützer mit ihren „Märschen für das Leben“ und „1000 Kreuze – Aktionen“. In letzter Zeit liefern sie sich noch dazu – verbale wie teils gar körperliche – Auseinandersetzungen mit linken bis radikalen Gruppen. Wobei klar gestellt werden muss, dass die Gewalt von den linksradikalen Gegendemonstranten ausgeht. Die Extremen beider Lager reiben sich aneinander. Die meisten Menschen bleiben (leider) stumm und zucken die Achseln. Das Thema eignet sich aber im Grunde auch nicht für die öffentliche Auseinandersetzung, denn es geht um persönliche Schicksale und schmerzhafte Entscheidungen. 

Die Entschiedenheit, mit der Christen in Vreden vor 30 Jahren noch sich für Mutter (Vater) und Kind einsetzten, sie ist dahin. Selbst unsere Bischöfe sind in diesen Fragen öffentlich einigermaßen zurückhaltend, was von den engagierten Lebensschützern und den konservativen Kreisen in der Kirche immer wieder befremdet angemerkt wird. 
Für mich ist diese Gemengelage ein deutliches Zeichen dafür, dass viel Porzellan zerschlagen wurde. Und das geschah zwischen Menschen, die eigentlich in ihren Positionen sehr nahe beieinander lagen. Ich bin fest überzeugt, dass es allen, den Lebensschützern, den Protagonisten von „Donum Vitae“, den Bischöfen, den liberaleren und den frommeren Christen vor allem darum geht Kind und Mutter (Familie) bestmöglich zu schützen. Alle wollten ihr Möglichstes tun, für die Zukunft der Kinder, für die Zukunft der Mütter (und der Väter). 

Und wo stehen wir jetzt? Haben die innerkirchlichen Auseinandersetzungen und die Anfeindungen der pointierten „Lebensschützer“ wirklich einen Fortschritt im Schutz des ungeborenen Lebens erzielt? Oder verhallt das Wort der Kirche in dieser Frage ungehört und verpufft das (noch immer beachtliche) Engagement der Katholiken für das ungeborene Leben weitgehend wirkungslos?

Ich bin der festen Überzeugung, dass wir in der Kirche heute mehr denn je, eine besondere Dialogkultur (auf Augenhöhe) brauchen. Zunächst einmal sollten wir uns unserer grundlegenden Überzeugungen vergewissern. Bibel und Tradition, aber auch das Lehramt sind hier sehr hilfreich und eine Einigung in der grundlegenden Haltung dürfte doch möglich sein. Aber bei aller Gemeinsamkeit in der Grundüberzeugung müsste es durchaus unterschiedliche Wege geben, für diesen Glaubensgrund einzutreten. Damit dies aber versöhnt nebeneinander stehen kann, brauchen wir eine Dialogkultur, die zeigt, dass sich Christen bemühen, die Haltungen und Überzeugungen der Anderen in der Tiefe zu verstehen und zu respektieren. Wir brauchen die Bereitschaft, hieraus entstehende Spannungen auszuhalten. Es sollte dann auch möglich sein, gegenüber der Öffentlichkeit zu begründen, warum die Kirche unterschiedliche Wege geht, um das eine Ziel zu erreichen. Jeder Katholik braucht eine feste Verwurzelung in den „Bräuchen und Traditionen“, aber auch die Bereitschaft zum Gespräch, die Bereitschaft, sich selbst in Frage zu stellen, die Bereitschaft einen Weg mitzugehen, den er selbst möglicherweise zunächst für falsch hält. „Und wenn dich einer zwingen will, eine Meile mit ihm zu gehen, dann geh zwei mit ihm.“ (Mt 5,41) Der Streit um Details und konkrete Handlungen unterschiedlicher Personen schadet der kirchlichen Verkündigung und zerstört deren Glaubwürdigkeit und Wirksamkeit. Daher sollte die Welt an unserem Miteinander erkennen, dass es bei uns anders zugeht. Nur dann kann das Wort Jesu mit Kraft verkündigt werden. 

Dienstag, 21. August 2012

Dann mach ich was ein Baum tun würde, wenn ein .... sich an ihm kratzt...

Игорь Мухин at ru.wikipedia [GFDL
(http://www.gnu.org/copyleft/fdl.html) oder CC-BY-SA-3.0
(http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0)], via Wikimedia Commons
Geht es Ihnen auch so? Seit Wochen zeigt das Fernsehen Bilder dreier inhaftierter junger Frauen aus Russland: Nadeschda, Marija und Jekaterina sitzen in einem Käfig auf der Anklagebank. Ich kann mich einer gewissen Sympathie und Besorgnis nicht erwehren. 

Ein sonderbarer Kontrast – drei hübsche Frauen, durchaus sympathisch, angebliche Mitglieder einer Punk-Band (wo ist da eigentlich „Punk“) auf der einen Seite – die geballte Staatsmacht und Handschellen, Einzelzellen, Hochsicherheitsverwahrung auf der anderen Seite. Man behandelt sie wie Schwerverbrecher. Viele fragen sich, was für eine Gefahr von diesen Frauen eigentlich ausgehen mag, dass ein so mächtiger Staat wie Rußland sie für derart gefährlich hält und zu zwei Jahren Strafarbeitslager verurteilt. 

Ihr Vergehen war ein provozierender „Auftritt“ in der Moskauer Christ-Erlöser-Kathedrale (in unmittelbarer Nähe zum Kreml). Für den Protest gegen Präsident Putin war der Ort nicht schlecht gewählt. Wohl bei kaum einer anderen Kirche der russischen Orthodoxie mischen sich politische Aspekte so sehr in die Religion. Die Kirche war 1931 unter Stalin zerstört worden und erst 2000 mit massiver Unterstützung des russischen Staates neu errichtet worden. Sie gilt als der zentrale Kirchenbau der russischen Kirche und ist Schauplatz kirchlicher Großereignisse, an denen auch bedeutende russische Politiker beteiligt wurden. Zahlreiche russisch-orthodoxe Gläubige betrachteten den Auftritt als Schändung des Gotteshauses und Basphemie. Nur wenige russische Bürger heißen das Verhalten der Frauen gut. Nach meinem Eindruck überwiegt bei den jungen Frauen allerdings der politische Aspekt. Ihr Protest galt aber auch der (zu) engen Verbindung zwischen russischer Orthodoxie und der amtierenden russischen Regierung. 
Diese komplizierte Ausgangslage löste vielfältige Diskussionen aus und ist – nach meiner Wahrnehmung – inzwischen auch deutlich antireligiös unterfüttert. Gegner der Kirche (und des Glaubens) springen auf den Zug auf und kochen ihr antikirchliches Süppchen im Kielwasser der Aktivistinnen von Pussy Riot. 

Erschüttert hat mich die Aktion der feministischen Aktivisten der FEMEN-Gruppe in Kiew, die ihren Protest gegen die Verurteilung der Pussy Riot – Mitglieder dadurch ausdrückten, dass sie mit Billigung zahlreicher Pressefotografen und Filmteams ein großes Holzkreuz in der Stadt mittels einer Kettensäge zu Fall brachten. Was können die Gläubigen, die diese Kreuz aufgestellt und verehrt haben für ein mögliches Unrechtsurteil der russischen Justiz? Was kann der Gekreuzigte dafür, dass einige politische Aktivistinnen ein möglicherweise zu hartes Urteil trifft? Er selbst war schließlich unschuldig ans Kreuz geschlagen worden. Was für eine schwachsinnige Aktion, noch dazu barbusig und mit albernen Posen!

Zahlreiche konservativ – christliche Medien nutzen die Aufmerksamkeit für den Fall Pussy Riot, um die Frage nach Strafen für „Gotteslästerung“ auch hierzulande wieder zu thematisieren. Erzbischof Ludwig Schick von Bamberg brachte das Thema ebenfalls auf die Tagesordnung und vor einigen Tagen nutzten einige deutsche Aktivisten das Forum einer Hl. Messe im Kölner Dom, um durch eine Störung des Gottesdienstes eine entsprechende Öffentlichkeit für ihre Protestaktion zu bekommen. Obwohl der Zelebrant, der Kölner Weihbischof Heiner Koch die Anliegen der Demonstranten und der Menschen in Russland umgehend ins Gebet einschloss, brachte es den Protestiereren denn doch eine Anzeige ein, wegen Verstoßes gegen das Versammlungsgesetz, Hausfriedensbruch und wegen Störung der Religionsausübung, alles auch nach deutschem Recht strafbar. 
Das mit der Anzeige war Wasser auf die Mühlen der russischen Behörden, die getrost darauf verweisen, dass solche Taten auch in Deutschland unter Strafe stehen. Ob die Aktivisten in Köln wohl klug beraten waren mit ihrem Protest?

Als Christ fühle ich mich in einem Zwiespalt und mir scheint, es geht vielen Menschen so. Auf der einen Seite kann es nicht richtig sein, dass das, was mir und anderen Menschen heilig ist, von Protestierern in den Dreck gezogen, veralbert und geschändet wird. Pastor Ulrich Rüß bringt es so auf den Punkt: „Blasphemie taugt nicht als Mittel des Protests.“ 
Auf der anderen Seite scheint mir ein zweijähriges Arbeitslager für eine solche Aktion - beinahe noch jugendlicher Frauen - überzogen und mir wird unbehaglich, wenn ich sehe, dass einem Kind für diese Zeit die Mutter entzogen wird. 
Auch besteht für die Kirchen und ihre Verantwortlichen immer wieder ein Grund zur Erforschung des eigenen Gewissens. Genießen sie die Nähe zur Macht und die Vorteile daraus zu sehr, sind ihnen persönliche Privilegien wichtiger sind als die Botschaft Christi: „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist und Gott, was Gottes ist.“ Wenn hier etwas nicht stimmt – darf der Protest dagegen nicht als schlichte Blasphemie abgetan werden. 

Doch das, was anderen Menschen heilig ist, sollte von Allen, auch den nicht gläubigen Bürgern mit Respekt behandelt werden. Leider ist das heute noch weniger selbstverständlich als in der Vergangenheit. Immer wieder werden Heiligenfiguren zerstört und Kirchen geschändet, immer wieder gibt es Störungen von Gottesdiensten...
Finden wir Christen uns mit solchen Taten zu schnell ab? Heiß diskutiert wird auch hierzulande, dass die gläubigen Muslime eine viel niedrigere Toleranzschwelle haben. Das hat sicher vielfältige Gründe. Im Gegensatz zu vielen Christen – die zudem selbst oft kritisch gegenüber kirchlichen Institutionen eingestellt sind (die im Islam ja fehlen) – sind westliche Christen eher tolerant und „einiges gewohnt“, ihre „Schmerzschwelle“ liegt deutlich höher. 

Allerlei Geschmacklosigkeiten konnten in den letzten Jahren ohne Proteststürme publiziert werden, besonders die Titanic hat sich hier hervorgetan, z.B. mit ihren geschmacklosen Titelbildern mit verfremdeten Papst-Bildern. Nur, was kann man dagegen tun? Nicht einmal gerichtliche Verfügungen konnten diese Darstellungen verhindern, Strafen wurden nicht verhängt. Eher trieben rechtliche Maßnahmen die Auflage und Verbreitung dieser unwürdigen Darstellungen (dann eben über das Internet) noch auf die Spitze. 
Kein Wunder, dass der Bamberger Erzbischof Ludwig Schick eine gesetzliche Regelung forderte: „Wer die Seele der Gläubigen mit Spott und Hohn verletzt, der muss in die Schranken gewiesen und gegebenenfalls auch bestraft werden“, sagte er und möchte ein solche Gesetz auf alle Religionen angewendet wissen. Schick forderte die Gläubigen auf, sich gegen Verunglimpfungen ihrer Religion zu wehren. Christen müssten fordern, „dass die Person Jesu Christi, Gott der Vater, Maria, die Heiligen, die Hostie des Altarsakraments, die sakralen Gegenstände wie Kelche und Monstranzen, auch die Kirchengebäude und Prozessionen von unserem Staat geschützt werden“. Dazu seien entsprechende Gesetze nötig. Christen müssten „deutlich machen, dass wir Verunglimpfungen unserer Überzeugungen und Werten in Medien und öffentlichen Organen nicht hinzunehmen bereit sind“, betonte der Erzbischof. Bisher steht nur all das unter Strafe, was geeignet ist, die öffentliche Ruhe und Ordnung zu stören. Und das wurde von den Gerichten bisher selten so gesehen.  

Ich würde mir wünschen, dass in unserem Land und in anderen Ländern „die Person Jesu Christi, Gott der Vater, Maria, die Heiligen, die Hostie...“ geschützt werden. Ob staatliche Gerichte und staatliche Stellen aber hierfür die richtigen „Schutzinstanzen“ sind, da bin ich skeptisch. Wie schnell hier Politik und Religion ineinander fließen, das zeigt der Fall „Pussy Riot“ ja deutlich. Neben all dem erhofften Schutz des Heiligen liegt auch ein Risiko darin sich hier der staatlichen Gerichtsbarkeit anzuvertrauen. 
Es ist ein schwieriges Unterfangen, im Umgang mit dem Heiligen die richtige Grenze zu definieren. Für mich ist es letztlich auch eine Frage von Intelligenz und Geist auf Seiten der Protestierer. Sie sollten sich die Frage stellen, ob die Botschaft, die sie – mehr oder minder berechtigt – in die Öffentlichkeit bringen möchten, die richtigen Leute trifft, eben die Mächtigen und die, die Unrecht tun. Wenn dagegen eher die „Kleinen“ und Unterdrückten in ihren Gefühlen und in ihrem Glauben getroffen werden, sollte ein solcher Protest unterbleiben. 

Und, als Gläubige sollten wir genau hinsehen und hinter die Aktion blicken, und vor allem (wenn möglich) ins Gespräch kommen mit denen, die sich am Glauben und seinen Inhalten, an der Kirche und ihren Institutionen reiben. Jesus Christus hat geraten, zunächst einmal auch „die andere Wange hinzuhalten“ und die Angreifer durch Friedfertigkeit zu entwaffnen. Ich weiß, dieses Rezept passt nicht in jeder Situation doch hinter manchem rebellischen Protest steckt auch eine Wahrheit, die wir in Demut annehmen könnten. 
Aber das bedeutet auch, dass wir nicht schlicht gleichgültig sind und Toleranz nicht mit Gleichgültigkeit und Desinteresse verwechseln. Es bedeutet auch, dass wir selbst wissen, was uns wichtig, heilig, bedeutsam ist – und warum. Besser als in den Händen staatlicher Stellen ist der Schutz des Heiligen in unseren Herzen, in unseren Gebeten, in unserem Leben und in unserem Engagement aufgehoben. Wenn wir als Christen auch nach außen heilig halten, was uns heilig ist, wenn wir überzeugend und mitmenschlich leben, sinkt der Reiz, sich an der Kirche und am Glauben zu reiben. 
Ganz fern von Gläubigkeit scheinen mir selbst die inhaftierten Frauen in Russland nicht zu sein – und wer weiß, vielleicht engagieren sie sich in einigen Jahren in sozialen Projekten der russisch – orthodoxen Kirche. Ich hätte mir von den orthodoxen Autoritäten gewünscht, dass sie die Aktion der Frauen klar als falsch verurteilen, aber für die Sünder klar und deutlich um ein mildes Urteil bitten und selbst Vergebung gewähren, notfalls siebenundsiebzig mal.  

Ganz wichtig ist mir aber letztlich eine wichtige Tatsache: Es gibt einen, den wir als Gläubige vor „blasphemischen Aktionen, Worten und Gedanken“ nicht zu schützen brauchen. Es ist der lebendige, dreifaltige Gott selbst. Er schaut den Menschen bis auf den Grund ihrer Seele, er kennt ihre Beweggründe und ich bin sicher, dass er sehr viel erträgt und aushält und letztlich die Macht hat, auch solche Menschen zum Glauben zu führen, die an ihm schuldig wurden. „Vater, vergib Ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“

Mittwoch, 18. Juli 2012

In der Stille des Allgäus - die Kartäuser

Lesen Sie zunächst den ersten Teil des Berichts über die Marienau:

Die Klosterkirche
Bruder Antonius ist ein optimistischer Mensch. Sorgen um den Fortbestand seines Ordens macht er sich keine. „Gott schickt uns genügend Nachwuchs“, ist er überzeugt, Er selbst berufe Menschen zum Leben in einer Kartause. Werbung für neue Kartäuser ist daher völlig unnötig.

Wer sich für einen Eintritt interessiert, nimmt zunächst Briefkontakt mit dem Prior auf. Später wird er eingeladen, das Leben in der Kartause kennenzulernen. Wenn es konkret wird, kann er sogar für einige Wochen in einer Zelle leben und seinen zukünftigen Lebensstil direkt erproben. Dann schließen sich Postulat und Noviziat an. Bei vielen Interessierten zeigt sich, dass sie für das Leben der Kartäuser nicht geeignet sind. In der Regel merken sie es selbst und entscheiden sich zu gehen. Wenn es sein muss, schickt sie der Prior auch nach Hause. Über die endgültige Aufnahme entscheidet der gesamte Konvent in einer geheimen Abstimmung.
Neben den Priestermönchen in ihren Zellen gibt es in der Kartause die Brüder, für die andere, manchmal weniger strenge Regeln gelten. Die Brüder sorgen dafür, dass die Kartause beinahe autark von der Außenwelt existieren kann. Sie bauen Gemüse an und ernten das Obst, sie backen, schneidern, kochen; sie arbeiten als Schreiner, Schlosser, Schneider, Hausmeister... Nur selten müssen Handwerker von außen beschäftigt werden. Eine „Pensionierung“ gibt es nicht, jeder kümmert sich nach seinen Möglichkeiten und Fähigkeiten um die anstehenden Arbeiten.
Vor dem Gebet: alle Priestermönche läuten die Glocke.
Da ich im Vorfeld mit der Kartause Kontakt aufgenommen hatte, darf ich auf der Gästeempore am Nachmittagsgebet, der Vesper teilnehmen. Auf der Empore treffe ich einen jungen Pater an, ein Kroate, der mir schweigend die riesigen Gebetbücher an der richtigen Stelle aufschlägt, so dass ich dem Gebet folgen kann. Die Kirche ist, wie das ganze Kloster, von schlichter Zweckmäßigkeit. Es gibt keinerlei Schmuck und Schnörkel wie sonst überall im barocken Oberschwaben. Alle Möbel sind selbst gefertigt. An der Stirnwand der Kirche über dem Altar thront eine Kreuzigungsgruppe, die Darstellung von Christus mit Maria und Johannes.

Das vorabendliche Gebet beginnt mit einem besonderen Ritual. Der erste Pater, der die Kirche betritt, läutet die Glocke und gibt das Glockenseil dem nächsten Pater weiter. Jeder, der in das Gotteshaus kommt, läutet im Takt weiter bis die Gemeinschaft der ca. 20 Priestermönche komplett ist. Gebetet wird aus gewaltigen Büchern, das, aus dem jetzt die Vesper gesungen wird stammt aus dem Jahre 1876. Es wurde nach dem 2. Vatikanischen Konzil nur geringfügig verändert. Diese Antiphonale sind so groß, dass jeweils drei Mönche es gemeinsam verwenden können. In diesen Büchern könnte selbst ich ohne Brille lesen.

Die Kartäuser singen eine schlichtere Form des gregorianischen Chorals. Aber sie singen aus tiefer Überzeugung, schlicht und schön, es berührt mich sehr. Ganz ohne Orgelbegleitung erklingt ihr Gotteslob.
Auf der Gästeempore kann man dem Gebet der Mönche folgen.
Die Gemeinschaft ist stolz darauf, dass es im Laufe ihrer 900jährigen Ordensgeschichte bisher noch keine Reform gegeben hat. Sie war einfach nicht notwendig, weil die Ordensregel einen zwar strengen aber dennoch sehr menschlichen Rahmen vorgibt und Übertreibungen vermeidet. So wird z.B. nur insoweit gefastet, wie es dazu beiträgt, sich stärker auf das Ziel des Kartäuserlebens auszurichten: die Suche nach Gott und der Kontakt mit ihm. Fasten ist niemals Selbstzweck. Niemand sollte versuchen, den Mitbruder beim strengen Schweigen, im Verzicht oder im Gebetsleben zu übertreffen. Alles dient nur dem Ziel einer tieferen Gemeinschaft mit Gott. „Gott allein genügt“, dieses Wort der Hl. Theresia von Avila zitiert auch der Pförtner Bruder Antonius.
Diese Art eines ausgeglichenen Lebens scheint sogar noch recht gesund zu sein, denn es ist kein Gerücht, dass die Mitglieder des Ordens recht alt werden und lange gesund bleiben.

Das 2. Vatikanische Konzil hat dennoch einige kleine Veränderungen gebracht. Es hat zwar nicht das unterschiedliche Leben von Brüdern und Patres aufgehoben, aber unnötige Trennungen zwischen beiden Gruppen beseitigt. So gibt es heute ein engeres und vertrauteres Miteinander unter allen Mitgliedern des Konventes. Auch lehnen die Kartäuser Neuerungen nicht grundsätzlich ab, sondern prüfen alles, ob es mit ihrer Lebensweise zusammenpasst. So kann man sie heute sogar per e-mail erreichen – aber auf Facebook kann man Pater Prior trotzdem nicht als Freund gewinnen.

Hinter der Klostermauer sind die "Zellen" der Mönche sichtbar.
Das höhere Gebäude dient der Ausbildung der Ordensanwärter.
Die Patres verlassen ihr Kloster normalerweise nicht. Dennoch begegnet mir ein junger Pater in Begleitung zweier weiterer junger Leute draußen auf dem Weg zum Kloster. Ich erfahre später, dass er den jährlichen Besuch seiner Familie empfängt. Dafür wird er für zwei Tage von seinen Verpflichtungen in der Kartause teilsweise befreit und darf mit seinen Angehörigen in Kontakt sein. Sonst gehen die Mönche nur gemeinsam aus dem umfriedeten Bezirk der Klostermauern hinaus, nämlich, wenn der wöchentliche gemeinsame Spaziergang ansteht. Alles andere sind Ausnahmen, z.B. wenn ein Arzt aufgesucht werden muss oder z.B. zur Priesterweihe kein Bischof kommen kann.
Was für ein ungewöhnliches Leben! Manche Zeitgenossen werden denken, dass diese Männer (es gibt auch Frauenkartausen) ihr Leben verschleudern. Vermutlich wäre es angemessener, von „verschenken“ zu sprechen, denn sie geben ihr Leben schon heute in Gottes Hand. Das hat für sie viel mit Liebe zu tun. Nicht mit enttäuschter Liebe zur Welt oder zum Leben oder gar zu einer Frau, sondern mit dem, was Jesus so formuliert hat: „Du sollst Gott lieben, mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele, mit all deinen Gedanken und all deiner Kraft (Markus 12,30).“

Keimzelle des Klosters: ein ehemaliger "Einödhof",
ein Bauernhof in Seibranz-Talacker
Es sind 35 Männer, die in Deutschland das Leben eines Kartäusers leben. Auf den ersten Blick erscheint es schon wegen seiner äußeren Umstände mehr als ungewöhnlich. Aber ist es in seinem Verzicht auf Fleisch, auf zwischenmenschliche Liebe, auf Gemeinschaft, auf Kommunikation, auf öffentliche Wirkung und Bedeutsamkeit wirklich so anders? Wie viele Menschen halten heute deutlich abstrusere Diätvorschriften ein, um ihr Idealformat zu erreichen; wie viele Menschen verzichten aus vielerlei Gründen freiwillig oder unfreiwillig auf Familie und zwischenmenschliche Kontakte; wie viele Menschen sind einsam, ohne in der Gemeinschaft mit Gott einen Ausgleich zu haben; wie viele Menschen müssen auf Konsum und Luxus verzichten, weil sie kein Geld dafür haben. In gewisser Weise stehen die Kartäuser mit ihrem entschiedenen und ungewöhnlichen Leben symbolisch für die Kirche, die in den Augen mancher Leute auch eher eine Bewegung „von gestern“ ist, aus der Zeit gefallen, aber dennoch vielen Menschen eine spirituelle Heimat schenkt und eine Gottesbeziehung ermöglicht. Und: von der Einfachheit, Bescheidenheit und Entschiedenheit der Kartäuser kann die Kirche sicherlich für ihr Auftreten und ihre Verkündigung viel lernen.

Ich hatte in diesen Tagen die Gelegenheit, das Kloster, die Klausur dreimal zu betreten. Eine Besucherin des Klosters fragte mich draußen vor der Tür einmal, ob die Kirche öffentlich zugänglich ist. Nein, sie ist es nicht – und für Frauen gibt es keinen Zugang in die Kartause. Ich bin als Mann also privilegiert. Aber in einer Frauenkartause wäre ich auch draußen vor geblieben. Ich bin den Kartäusern dafür sehr dankbar, dass ich einen kleinen Einblick bekommen habe, denn als Familienvater komme ich als Ordensnachwuchs nicht in Frage. 

Der Weg zur Kirche mitten im Kloster ist lang. Groß ist die Versuchung, auf dem Weg zur Empore die Tür zum Kreuzgang zu öffnen und einmal ins „Allerheiligste“ des Klosters zu blicken. Doch ich mochte das Vertrauen der Mönche nicht enttäuschen. 
Einblicke gibt es in einer kleinen Broschüre, die an der Pforte erhältlich ist. Die Kartäuser sind auch eher ein Männerorden. Es gibt 18 Kartausen für Männer, aber nur sechs für Frauen, obwohl es schon fast zu Beginn der Ordensgeschichte einen Frauenzweig gab. Zu den Besonderheiten der Kartäuserinnen gehört, dass ihnen durch den Bischof (auf Wunsch) die Diakonissenweihe gespendet wird. Viele halten das für einen historischen Rest einer Diakoninnenweihe aus der frühen Kirche. Die Kirche betont aber, dass es sich nicht um ein Weiheamt handelt. Dennoch haben Kartäuserinnen als Diakonissen das Recht, eine Stola zu tragen und in der Messe das Evangelium vorzutragen. Eine einzigartige liturgische Besonderheit! Erwähnenswert ist, dass ein den Kartäusern naher, neuerer Orden (Gemeinschaften der monastischen Familie von Betlehem und der Aufnahme Mariens in den Himmel und des hl. Bruno) zahlreiche Frauenklöster aber wenige Männerklöster hat.

Beim Abschied am Sonntag komme ich mit „meinem Kartäuser“, Bruder Antonius noch einmal ins Gespräch über die Freude an der Schöpfung. Er schwärmt über das Sonnenlicht am Morgen, über die vielen schönen Blumen und die Freude über das erste Gänseblümchen nach dem langen Winter. Für ihn ist die Natur eine beständige Botschaft von Gott und er bedauert, dass viele Menschen diese Schönheiten nicht mehr wahrnehmen. Für ihn ist das einfache Leben der Kartäuser ein Geschenk, weil er hierdurch viel aufmerksamer wird, für die Wunder der Natur, für die Stimme Gottes und die Sorgen und Nöte der Menschen, die bei ihm an der Pforte klingeln. Er verabschiedet mich mit den Worten „Gelobt sei Jesus Christus!“ „In Ewigkeit! Amen!“.

Ein Besuch im Kartäuserkloster Marienau

In welcher Gegend Deutschlands könnte man eine Wüste entdecken? Für die Kartäuser, die ihre Klöster bevorzugt in menschenleeren Einöden errichten, war diese Wüste im Jahre 1964 ein sogenannter „Einödhof“ im Allgäu. Dort haben die Mönche des strengsten katholischen Ordens die gesuchte Einsamkeit gefunden. 

Pfortenhaus der Kartause Marienau bei Seibranz im Allgäu
Wer sie in diesen Tagen besucht, legt von Voerde aus beinahe den gleichen Weg zurück, auf dem die weißen Mönche in den 60er Jahren vor dem Lärm der Großstadt Düsseldorf und des nahen Flughafens geflüchtet sind. Der Weg von Voerde nach Seibranz im Allgäu streift aber auch bedeutende Orte des Kartäuserordens. In Wesel bestand bis zum Jahr 1628 auf der Grav – Insel ein heute beinahe vergessenes Kartäuserkloster. In Düsseldorf bestand bis 1964 das nach der Säkularisation letzte deutsche Kloster dieses Ordens, die Kartaus Maria Hain. Aus dem weitläufigen Klostergelände sollte Bauland werden, deshalb konnte die Ordensgemeinschaft vom Verkaufserlös im Süden Deutschlands einen abgelegenen Bauernhof kaufen und auf dem Gelände ihr neues Kloster errichten. 
Von Düsseldorf aus erreicht mein Zug Köln, den Heimatort des Hl. Bruno, des „Vaters der Kartäuser“. Der wurde im Jahre 1032 in der rheinischen Stadt geboren und war schon damals ein echter Europäer, er studierte und lebte später vor allem in Reims in Frankreich, lebte als Mönch in Molesme, im Chartreuse-Massiv bei Grenoble und am Hof des Papstes in Rom. Gestorben ist er 1101 in Kalabrien. Als scharfer Kritiker kirchlicher Machtausübung zog er sich mit sechs Gefährten in ein wildes, menschenleeres Gebirgstal zurück. Die kleine Gemeinschaft verwirklichte hier ein geistliches Leben nach Brunos Ideen, ein Leben als Einsiedler mit einer Prise Gemeinschaft. An die Gründung eines eigenen Ordens hatte Bruno wohl noch nicht gedacht. Die Gemeinschaft folgte schlicht den Idealen ihres Gründers. Zwischen 1084 und 1090 leben sie so. Doch dann erscheinen Boten des neu erwählten Papstes Urban II. in der Einöde. Dieser, ein ehemaliger Schüler Brunos, möchte seinen Lehrer als Berater in Rom sehen. Bruno blieb keine Wahl. Kurze Zeit später folgen ihm seine Gefährten nach Rom, doch schon bald schickte Bruno sie zurück in ihr schlichtes Kloster, wo sie ihr ursprüngliches Leben wieder aufnehmen. Als der Papst sich endlich bereit erklärt, Bruno von seinem Dienst im Vatikan zu befreien, begründet dieser ein zweites Kloster in Kalabrien, wo er 1101 stirbt. Erst ca. 25 Jahre später schreibt Brunos Nachfolger Guigo als 4. Oberer der Gemeinschaft eine Art Ordensregel auf, die er bescheiden „Consuetudines“ nennt, die „Gebräuche der Kartäuser“. Diese Regel hat sich im Verlauf der Jahrhunderte kaum verändert, auch die Kartäuser der Marienau folgen ihr bis zum heutigen Tag. Von Köln aus fährt mein Zug durch das Rheinal und durchquert Deutschland. Seine Blüte hatte der Kartäuserorden vom 14. bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts. In Deutschland bestanden in dieser Zeit bis zu 58 Kartausen. Doch mit der Reformation begann der Niedergang, die Revolution in Frankreich und die Maßnahmen Napoleons und Bismarcks gegen die Orden beendeten zeitweilig die Existenz des Kartäuserordens in Deutschland. Nur eine Kartause wurde danach wieder besiedelt, das Haus Maria Hain in Düsseldorf im Jahre 1890. Die vorerst letzte Station auf meiner Reise ist in Memmingen, dort bestand im Dorf Buxheim die – auch künstlerisch höchst bedeutende – Reichskartause mit den bis heute erhaltenen, von berühmten süddeutschen Barockkünstlern prächtig ausgestatteten Klostergebäuden.
Kapelle der Brüder
Doch all diese Pracht mag nicht so recht zu dem Orden passen, der heute seine einzige Kartause in Deutschland ca. 30 km von Buxheim entfernt in einem dichten Fichtenwald vor den Augen der Menschen verbirgt. Kürzlich hat der Orden sogar eines seiner Klöster (Aula Dei) in Spanien aufgegeben, weil viele Touristen die prachtvollen historischen Gebäude und Gemälde von Goya besichtigen wollten und die Mönche daher die notwendige Stille und Einsamkeit nicht mehr fanden.

Die Präsenz der Kartäuser im Allgäu könnte leicht übersehen werden, Hinweisschilder sind selten und in der Regel mit dem Zusatz versehen, dass eine Besichtigung des Klosters nicht möglich ist. Der deutlichste Hinweis auf die Kartäuser findet sich an unerwarteter Stelle in der Tatsache, dass in den Dörfern um Bad Wurzach selbst kleine „Tante-Emma-Läden“ im Spirituosenregal den berühmten Kartäuserlikör führen. Normalerweise gibt es den in Deutschland nur in Spezialgeschäften für exklusive Liköre. Im Supermarkt in Bad Wurzach gibt es ihn günstiger, beinahe zum halben Preis.
Selbst unmittelbar vor der Kartause sieht man noch wenig davon...
Vom Örtchen Seibranz aus schlängelt sich eine schmale, asphaltierte Straße zu den „Einödhöfen“ im Talacker. Hier, nach vier Kilometern (auf denen mir als Fußgänger kein einziges Auto begegnete) steht ein erster Wegweiser: „Kartause Marienau“. Nun sind es noch gut 1 ½ km bis zur Klosterpforte. Man muss schon genau hinsehen, um hinter den Bäumen am Rande der Weiden überhaupt ein Kloster zu entdecken. Dabei umgibt die 2 ½ m hohe Klausurmauer eine Fläche von ca. 10 Hektar.

Ich habe es bei meinem ersten Besuch vorgezogen, quer durch den Wald von hinten an das Kloster heranzuwandern. Auf dem ca. 6 km langen Wanderweg durch die tiefen Wälder sind mir zwar etliche Wildschweine, aber wieder kein Mensch begegnet. Dass diese wunderschöne, sanft geschwungene Landschaft mit Bächen und Teichen, Wäldern und Hügeln so wenige Touristen anzieht, wundert mich. Plötzlich, im tiefen Wald durchbricht der Klang einer Kirchenglocke die Stille und das Zwitschern der Vögel. Der Jungfuchs, der gemächlich über den Waldweg zieht, lässt sich hierdurch nicht stören. Er kennt das Geräusch offensichtlich, das hier sogar nachts um halb eins ertönt, wenn die Mönche für ihre ersten Gebete, die Matutin und Laudes ihren Schlaf unterbrechen und in der Kirche zusammenkommen. Jetzt ist es 14.00 Uhr, das Geläut ist das Zeichen für eine weitere Gebetszeit, die Non, die alle Kartäuser allein in ihren „Zellen“ beten. Es ist eine der neun Gebetszeiten, die das Leben der Mönche prägen.

Auch sonst gibt es im Kartäuserorden einige Besonderheiten. Die Mönche leben im Grunde vegetarisch, allerdings steht ab und an Fisch auf den Speiseplan. Es gibt nur zwei Mahlzeiten am Tag, das Frühstück fällt aus. Zusätzlich gibt es ausgedehnte Fastenzeiten. Die Nachtruhe ist geteilt. Mitten in der Nacht erheben sie sich zu einem ca. zweistündigen Gebet. Die gesamten Gottesdienste werden in lateinischer Sprache gefeiert. Der Orden hat eine eigene, von unserer gewohnten Messfeier abweichende Liturgie. Der Kartäusermönch lebt allein in einem eigenen kleinen Häuschen und pflegt einen eigenen Garten. Niemals verlässt er seine Zelle einfach so. Nur selten spricht der Mönch mit seinen Mitbrüdern, er wahrt das Schweigen. In der Woche gibt es zwei Gelegenheiten zum Gespräch, bei der gemeinsamen Erholung am Sonntag oder beim wöchentlichen Spaziergang. Die Tage sind ausgefüllt mit Gebetszeiten, Studium, Handarbeit und Gartenarbeit. Jeder Mönch heizt seine eigene Zelle mit selbst gesägten Holz. Das macht selbst Pater Werenfried Schrör, der Prior der Gemeinschaft.

Auf den ersten Blick scheint dieser Orden wie aus der Zeit gefallen, ein Reservat vergangener Zeiten irgendwie... Die Kartäuser bleiben hinter den Klostermauern und konzentrieren sich ganz auf Gott. Daher gibt es auch fast keine Publikationen von Kartäusermönchen. Sie kommunizieren auch nicht per Brief, Telefon oder e-mail. Für Außenkontakte werden einzelne Konventsmitglieder beauftragt.

Als ich an der Pforte stehe, öffnet mir einer von ihnen, der Pförtner Bruder Antonius. (Sein Name kommt vom frühchristlichen ägyptischen „Wüstenvater“, den er sehr verehrt.) Wie es mit dem Nachwuchs aussieht, möchte ich gern wissen. Man konnte kürzlich einmal lesen, dass von zehn ernsthaften Interessenten nur einer tatsächlich im Kloster bleibt. „In letzter Zeit ist es etwas besser mit dem Bleiben“, sagt der Pfortenbruder. Zur Zeit lebten 35 Mönche im Kloster, damit ist es beinahe voll. „Zehn von ihnen sind unter vierzig Jahre alt“ und „wir kommen aus zehn Nationen“, berichtet Bruder Antonius, der für einen schweigenden Mönch durchaus gerne Auskunft gibt. „Sie werden nicht glauben, was wir im Pfortendienst hier alles erleben!“. Es kämen immer mehr Leute, die sich einfach einmal aussprechen möchten, einen guten Rat wünschen oder das Gebet der Mönche erbitten. Zwei Brüder teilen sich diesen herausfordernden Dienst. 

Das Gebet ist zu Ende.
Bruder Antonius ist 82 Jahre alt und hat mehr als 2/3 seines Lebens hinter Klostermauern verbracht. „Die Pfarrer haben heute so viel zu tun und sind für die Leute nicht mehr so erreichbar.“ Hier an der Pforte ist immer jemand da. Wie er damit umgeht, dass er vielen Menschen nicht tatkräftig helfen kann, möchte ich gern wissen. Der Kartäuserbruder sagt, dass er in einer anderen Welt lebe und daher aus einer anderen Perspektive auf das Leben schaue. Er zitiert Schopenhauer um den Blick Gottes auf die Welt zu verdeutlichen: „Die Erde ist nunmehr nur eine der zahllosen Kugeln im unendlichen Raum, auf der ein Schimmelüberzug lebende und erkennende Wesen gezeugt habe.“ Und doch sei Gott diesen Menschen verbunden und ihren Sorgen nahe. Der Mönch spricht von seinem Vertrauen in Gott, der alles zum Guten wende. Darauf baue er und schließe die Sorgen der Menschen in sein persönliches Gebet ein.

Vor einigen Tagen hatte ich den Bad Wurzacher Pfarrer Stefan Maier gefragt, ob es pastorale Kontakte zu den Kartäusern gibt. „Nein!“, sagte er, „sie leben ganz für sich, weil sie das so wollen und es zu ihrer Spiritualität gehört.“ „Aber ich bin sehr dankbar, dass sie da sind und dafür, dass sie für uns alle beten. Das gibt mir Kraft.“

Freitag, 6. Juli 2012

Keine Schublade frei für Gerhard Ludwig Müller???


Er wird mir geradezu sympathisch, der Bischof em. Gerhard Ludwig Müller von Regenburg, inzwischen dort emeritiert und zum Erzbischof und „Dritten Mann im Vatikan“ ernannt. Gerade hat der Papst ihn zum Präfekten der Glaubenskongregation berufen. Die Reaktionen darauf sind – gelinde gesagt - „gemischt“. Ich würde sagen: Meine Güte, hat der arme Mann Gegner! 
Selbst das sonst so sachliche ZDF garniert seinen Bericht über die Ernennung so mit Einseitigkeiten, dass man meinen könnte, Johann Tetzel persönlich sei zurückgekehrt. Oder Bischof Müller sei zum Großinquisitor ernannt und gleich wieder mit diesem Titel ausgezeichnet worden. Dabei wäre es doch eigentlich einmal ein guter Anlass gewesen, fröhlich zu jubilieren und zu rufen: „Wir sind Papst...“, nein, das jetzt nicht... Aber warum nicht einfach froh darüber sein, dass ein deutscher Theologe auf diesen vor allem theologisch so wichtigen Posten berufen wurde. Schließlich wurde immer wieder betont, es sei das „drittwichtigste“ Amt im Vatikan. Und daher kann es doch nur gut sein, wenn hier jemand arbeitet, der von der Sache etwas versteht und eigenständig zu denken gelernt hat. 

„Als Präfekt der Glaubenskongregation ist dieser bornierte Scharfmacher fehl am Platz“, soll Hans Küng gesagt haben. Es versteht sich von selbst, dass auch „Wir sind Kirche“ von der Ernennung nicht erfreut ist. Schließlich hatte Gerhard Ludwig Müller als Bischof von Regensburg mit den engagierten Laien gerne einmal „die Klinge gekreuzt“ und so manchen Strauß ausgefochten. Manchmal sogar vor kirchlichen und weltlichen Gerichten. Trotzdem bescheinigt der Vorsitzende des Landeskomitees der Katholiken in Bayern, Albert Schmidt dem Bischof einen „ansteckenden Humor“ und sieht in ihm eine „Idealbesetzung in diesen schwierigen römisch-vatikanischen Zeiten“. Gerhard Ludwig Müller ist ein Freund des offenen Wortes und ich finde, manchmal schießt er auch über das Ziel hinaus, z.B. als er „Wir sind Kirche“ als „parasitäre Existenzform“ bezeichnete. Was er damit meint, formuliert er nun im Interview mit Radio Vatikan so: „Es darf nicht sein, dass die Einheit der Kirche Gottes gestört wird durch Ideologien, sektenhafte Art – am linken oder rechten Rand –, die auf sonderbare Weise kollaborieren und so der Kirche schaden. Diese Gruppierungen haben leider in manchen Medien mehr Resonanz als die vielen Millionen Gläubigen, die den Weg der Nachfolge Jesu Christi gehen und Vieles und Gutes leisten für den Aufbau der Kirche." Ich mag ihm und seinen Einschätzungen nicht widersprechen. Zumeist lohnt es sich bei Müller, den ganzen Text zu lesen und von dort her die ein oder andere Spitze zu verstehen. Es wäre wünschenswert, wenn er selbst es seinen Kritikern durch übertriebene Zuspitzungen nicht zu leicht machen würde.

Man sollte nun meinen, wenn ein „(erz-)konservativer“ Bischof auf diesen Posten berufen wird, sollte die konservativ – fromme Szene jubilieren. Aber weit gefehlt: Pius-Bischof Alfonso de Galarreta kommentierte noch am selben Tag – offensichtlich spontan in seine Predigt zur Priesterweihe eingefügt – der Papst habe einen „Häretiker“ zum Glaubenswächter ernannt. Damit habe er sprichwörtlich „den Bock zum Gärtner“ gemacht (Das ist jetzt kein Zitat). Nun, de Galarreta hat ihn nicht direkt „Häretiker“ genannt, aber gesagt: „Es ist unglaublich, dass wir heute so weit sind, dass der Oberste Hüter des Glaubens Häresien verbreitet.“ Auf diese Unterscheidung (worin auch immer der Unterschied genau liegt) legte man zunächst bei der Piusbruderschaft wert. Doch nur einen Tag später legte man durch P. Matthias Gaudron nach, der eine offizielle Erklärung veröffentlichte und darin benannte, worin die Häresien des neuen Präfekten der Glaubenskongregation denn nun – nach Ansicht seiner Bruderschaft – bestehen. Ob er für diesen Text wohl die Originaltexte Müllers gelesen hat? Jedenfalls klingt die Erklärung, als habe er sie eher bei kreuz.net und den einschlägigen Blogs zusammengestoppelt. Vom Dogmatiker der Piusbruderschaft hätte ich mehr erwartet! 
Und die Vorwürfe sind zumeist so auf einen Satz zugespitzt, dass man sich fragt, was Gaudron und seine Piusbruderschaft mit dieser Attacke erreichen möchten. Immerhin ist der zukünftige Kardinal Müller letztlich der Mann, der in Sachen Versöhnung mit der Bruderschaft ein sehr gewichtiges Wort mitzusprechen hat. Will man hier gleich im Vorfeld das persönliche Klima so vergiften, dass ein Scheitern der Versöhnungsbemühungen dem Vatikanischen Behörden in die Schuhe geschoben werden kann? Ich mag mir die taktischen Spielereien (mit dem Feuer) hinter den Kulissen der Piusbruderschaft gar nicht ausmalen. Schade, wie hier das Entgegenkommen des Hl. Vaters verspielt wird. Aber ich schweife ab. Jedenfalls bin ich sehr gespannt, was Bischof Müller oder Bischof Fellay zu einer Befriedung der Situation beitragen wollen.
Es kann doch selbst in der Piusbruderschaft niemand ernsthaft glauben, dass der Hl. Vater nicht intensiv geprüft hat, wen er für diese gewichtige Aufgabe beruft und ob seine theologischen Positionen der Lehre der Kirche widersprechen. Wenn die Einzelsätze aus dem theologischen Werk des Bischofs (der gleichzeitig Herausgeber der gesammelten Werke des Papstes ist und bleibt) Anlass zu lehrmäßigen Beanstandungen geben würden) hätte man dies sicherlich im Vorfeld geklärt. Schließlich ist z.B. das Lehrbuch zur Dogmatik des Regensburger Bischofs sogar schon vor seiner Bischofsweihe erschienen. Erste gewichtige Verteidiger von Müller melden sich auch schon entsprechend zu Wort (z.B. Don Nicola Bux)). Nun gut, im Grunde verwundert es natürlich nicht, dass ein dem Sedisvakantismus zuneigender, irregulär geweihter Bischof eigentlich in jedem nach dem 2. Vaticanum geweihten Bischof (mit Ausnahme vielleicht von Albert Malcolm Kardinal Ranjith Patabendige Don ;-)) einen Häretiker erblickt.
Bischof Gerhard Ludwig Müller, ich muss es gestehen, ist mir bisher nicht besonders sympathisch gewesen. Aber, dass seine Ernennung derart widersprüchliche Reaktionen hervorruft, dürfte Beleg für seine Vielseitigkeit und sein eigenständiges Denken sein. So mag es seine Kritiker aus dem „linken Lager“ erstaunen, dass er gemeinsam mit dem Befreiungstheologen Gustavo Gutiérrez ein Buch herausgegeben hat und offensichtlich sogar mit ihm befreundet ist. Als „Ökumenebischof“ war er bei den evangelischen Schwestern und Brüdern in Deutschland durchaus geschätzt und das sogar eher wegen als trotz seiner offenen Worte und seines theologischen Sachverstandes.
Der Mann sprengt die Klischees!
Wie auch immer – ich mache mir wegen der Ernennung von Gerhard Ludwig Müller zum Präfekten der Glaubenskongregation keine Sorgen mehr. Im Gegenteil! Ich bin gespannt, was dieser Mann uns zu sagen hat und ob es ihm gelingt, den Glauben und das Nachdenken über den Glauben wieder mehr zum Gesprächsthema zu machen. Es würde mich freuen, wenn er im Konzert der Meinungen den „vielen Millionen Gläubigen, die den Weg der Nachfolge Jesu Christi gehen und Vieles und Gutes leisten für den Aufbau der Kirche“ eine Stimme gibt und vor allem ihnen sein Ohr leiht und Aufmerksamkeit schenkt. 

Mehr über Erzbischof Müller gibt es bei Wikipedia, den Text von P. Gaudron kann man hier lesen: www.pius.info/offizielle-stellungnahmen/698-distrikt-stellungnahmen/6947-presseerklaerung-zur-ernennung-von-bischof-mueller
Hier findet sich etwas über die Entgegnung aus Rom: www.kath.net/detail.php?id=37270
Und hier eine Beschwerde über die Einseitigkeiten im ZDF: www.kath.net/detail.php?id=37223

Mittwoch, 27. Juni 2012

Bischof Gregor Maria Hanke ./. Prälat Peter Neher

Diesmal soll mein Blog-Beitrag in einem Brief an den Bischof von Eichstätt, Gregor Maria Hanke OSB bestehen. Als normaler Katholik war ich etwas irritiert über den - wenn auch unfreiwillig - öffentlich ausgetragenen Disput. Hierauf versuche ich mit diesem Brief an Bischof Hanke zu reagieren. Möglicherweise ist mein Brief auch für den ein oder anderen Leser dieses Blogs interessant.

Lieber Bischof Gregor Maria Hanke!

Bitte entschuldigen Sie, dass ich diese vertraute Ansprache der formalen Anrede vorziehe. Nehmen Sie es bitte als Zeichen der inneren Verbundenheit mit Ihrer Person und Ihrem Amt.
In diesen Tagen wurde offensichtlich durch eine Indiskretion Ihr Brief an den Präsidenten des Deutschen Caritasverbandes, Prälat Dr. Peter Neher publik. Ihr Ordinariat hat bestätigt, dass dieser Brief authentisch ist.
Auch wenn er nicht an mich gerichtet war und Ihnen selbst die Veröffentlichung nicht recht sein kann, erlauben Sie mir aus der Perspektive eines vierfachen Familienvater, der zudem Vater eines „echten Krippenkindes“ ist, eine Reaktion auf die von Ihnen aufgeworfene Problematik.
Lassen sie mich vorab betonen, dass ich eine gewisse Verbundenheit mit Ihnen empfinde, da ich ein hohe Interesse am Orden des Hl. Benedikts habe, Ihren Ordensgründer sehr verehre, Ihr persönliches Engagement für die Bewahrung der Schöpfung hoch schätze und mir als Pastoralreferent in der Katholischen Diözese Münster das Wort eines Bischof durchaus etwas bedeutet.
Als ehemaliger Benediktinerabt werden Ihnen die Worte des Hl. Benedikt über den Abt noch im Herzen klingen. „Bei Zurechtweisungen gehe er mit Klugheit vor und gehe nie zuweit, sonst könnte das Gefäß zerbrechen, wenn er es allzu sauber vom Roste reinigen will. Er rechne immer mit seiner eigenen Schwäche und erinnere sich, dass man ein geknicktes Rohr nicht vollends brechen darf. Damit wollen wir jedoch nicht sagen, er dürfe Fehler fortwuchern lassen, vielmehr soll er sie, wie schon gesagt wurde, mit Klugheit und Liebe ausrotten in der Weise, die er für jeden einzelnen zuträglich findet.“
Ob Sie diese Worte bei der Abfassung Ihres Briefes wohl ausreichend beherzigt haben? Ich bin jedenfalls verwundert über den scharfen Ton Ihres Briefes. Ich habe die Äußerungen von Prälat Neher (soweit sie mir zugänglich waren) noch einmal gelesen. Er spricht sich ja in keiner Weise gegen eine „Anerkennung und damit Hochschätzung elterlicher Erziehungsleistungen“ aus. Im Gegenteil! Er fordert sie ebenso und macht auch konkrete Vorschläge hierzu. Vielleicht hätte er an einer Stelle noch einen Satz wie den Folgenden anfügen können: „Nun, das, was da mit dem Erziehungsgeld kommen soll ist nicht gut, es ist nicht unbedingt sozial gerecht, aber es ist besser als gar nichts...“
Dass Sie in Ihrem Brief dem Caritasverband sogar eigene ökonomische Interessen unterstellen empfinde ich als besonders problematisch. Gerade wo Sie selbst eine Dissonanz in widerstreitenden kirchlichen Meinungsäußerungen beklagen, sollten Sie doch auch selbst vermeiden, bestimmte, der Kirche nicht wohl gesonnene Kreise in ihrem Vorurteilen gegenüber dem Caritasverband (und der Kirche) zu bestärken.
Hier im Bistum Münster haben wir als Kirchengemeinde eigene Kinderbetreuungseinrichtungen. In beiden Einrichtungen unserer Gemeinde nehmen wir auch Kleinkinder auf. Nicht aus finanziellen Gründen oder weil wir gegen die „katholische Soziallehre“ arbeiten (wo genau ist denn hier eigentlich gesagt, dass die Soziallehre der Kirche sich gegen frühe Betreuung ausspricht?), sondern weil es einen Bedarf gibt; weil Eltern zur Berufstätigkeit gezwungen oder gedrängt sind und gute Betreuung brauchen; weil im Einzelfall den Kindern die Zeit in unserer Einrichtung gut tut und sie davon profitieren. Meine eigene, jüngste Tochter war von ihrem 6. Lebensmonat an in der Betreuung einer Caritas-Kindertageseinrichtung. Daher weiß ich auch, was das für das Kind und die Familie bedeutet.

Lieber Bischof Hanke! Ich kann Ihre Perspektive durchaus verstehen, unterstütze sehr die Vorstellung, dass der Staat und die Gesellschaft mehr tun müssen, um Eltern zu unterstützen, die die Kinder, die Gott uns schenkt gut zu versorgen und zu erziehen. Ich teile auch die Ansicht, dass ein Mehr an Betreuungsmöglichkeiten, das allenthalben, sogar von „christlichen“ Politikern gefordert wird, nicht die einzig notwendige Unterstützung ist, die Eltern benötigen. Es ist ja auch etwas widersinnig, von Unterstützung werdender und „seiender“ Eltern zu sprechen und das Miteinander von Eltern und Kindern durch immer neue Betreuungsformen und Ausweitung der Schulzeiten zu begrenzen. In unserem Bundesland NRW gibt es zur Zeit die widersinnige Diskussion, dass in der offenen Ganztagsschulen die Kinder möglichst bis zum Ende um 16.00 Uhr verbleiben mögen und nicht mehr flexibel und früher von den Eltern abgeholt werden sollen. Hier geht es vor allem um eine bessere Ausnutzung der Einrichtungen und damit der zur Verfügung gestellten Finanzmittel. Hier würde ich mir durchaus ein klares Wort eines Bischofs oder der Caritas wünschen.
Doch in meinem Wunsch nach „Anerkennung und damit Hochschätzung meiner Erziehungsleistung“ als Vater finde ich mich dennoch ebenso in Ihrem Grundanliegen und der im Brief an die Bayrische Staatsministerin Christine Haderthauer formulierten Position, wie auch in der Argumentation von Prälat Neher als Präsidenten des Deutschen Caritas-Verbandes wieder.
Ich kann nicht erkennen, dass der Caritasverband die erzieherische Eigenverantwortung der Eltern als unaufgebbares Prinzip kirchlicher Soziallehre in Frage gestellt hat. Wo seine Aussagen der „katholischen Soziallehre“ widersprechen, erschließt sich mir weder aus der Kenntnis der katholischen Soziallehre noch aus der wiederholten Lektüre Ihres Briefes an Prälat Peter Neher.

Aber so wenig das Betreuungsgeld diese elterliche Eigenverantwortung unterstützt, so wenig nehme ich wahr, dass sich der Caritasverband vor den Karren mancher Familienideologen spannen lässt, die glauben, dass eine externe Erziehung der Kinder in Krippen, Kindertagesstätten und Ganztagsschulen dem erzieherischen Einfluss der Eltern vorzuziehen sei. Aber die Situation der Familien ist heute bunt und vielschichtig. Sie brauchen eine individuelle Unterstützung und Förderung, die eben nicht immer in zusätzlichem Geld und weniger pädagogischer Begleitung besteht. Es ist und bleibt auch problematisch, dass die jetzt umzusetzende Variante des Betreuungsgeldes gerade dort nicht ankommt, wo mehr Geld in den Familien echte Not wenden könnte. Es wäre doch viel sinnvoller, genau hinzuschauen und passgenau mit dem zu helfen, was in dieser besonderen Familie gerade gebraucht wird. Manchmal ist das Geld, manchmal ist es frühe Förderung und Betreuung durch Fachkräfte in der Familie und in Einrichtungen, manchmal seelsorgliche Begleitung, Verständnis und Zuwendung. Und genau davon hat ja auch Prälat Neher gesprochen.

Ich frage mich, warum Sie als Bischof, bei allem – in Ihrem Brief förmlich spürbaren Ärger über die eine oder andere Argumentationsspitze des Prälaten – nicht zum Telefonhörer greifen, sich durchstellen lassen und mit ihrem Amtsbruder ein klärendes Gespräch im „nichtöffentlichen“ Raum suchen. Bisher hatte ich es als angenehm empfunden, dass Prälat Peter Neher in der öffentlichen Diskussion eine kritische Stimme war, die sowohl den politischen Gegnern des Betreuungsgeldes widersprach, indem er sagte: jawohl, Familien brauchen finanzielle Hilfen als auch den politischen Freuden dieser Geldleistung, indem er sagte: aber auch mit dem Betreuungsgeld bleiben die Probleme in den Familien und da müsst ihr noch mehr tun, statt euch nun gemütlich zurückzulehnen und auf das Betreuungsgeld zu verweisen.

Aber ich würde gerne noch auf meine Erfahrungen als Familienvater zurückkommen. Als Pastoralreferent, der in der Kinder-, Jugend- und Familienarbeit tätig ist, kenne ich viele Familien und deren manchmal schwierige Situation.
Schön wäre es, wenn die Betreuungseinrichtungen möglichst passgenaue Betreuungsangebote anbieten würden, die uns Eltern entlasten (so wir berufstätig sein müssen) und uns dennoch erlauben, so viel Zeit als möglich mit unseren Kindern zu verbringen. Da fehlt es insgesamt noch an Vielseitigkeit, Flexibilität und Kundenfreundlichkeit.

Leider ist in all den aktuellen Diskussionen viel zu viel Ideologie im Spiel. Oft sind bestimmte „wissenschaftliche“ Befunde von Interessen und erkenntnisleitenden Überzeugungen bestimmt. Das gilt leider auch für die Diskussion über die psychischen Folgen der frühen Betreuung oder über den erhöhten „Kortisolspiegel“ bei Kindern. Hier würde ich mir mehr unvoreingenommene Fachlichkeit bei klarer Parteinahme für das wirkliche Wohl der Kinder wünschen. Die Ursache psychischer Auffälligkeiten ist vielschichtig und nicht selten liegt sie eher in den Familien begründet denn in anderen Einflüssen.
Sie schreiben: „Es ist unbestreitbar, dass es für ein Kleinkind im Normalfall kaum einen besseren Hort der Erziehung und der ge-/erlebten Wertevermittlung gibt als das Leben innerhalb der eigenen Familie.“ Ich hoffe sehr, dass diese Aussage zumindest für meine Familie und unsere vier Kinder stimmt. Auch wir bemühen uns sehr, unsere Kinder zu gläubigen Menschen zu erziehen. Ob uns das besser als anderen Familien gelingt? Manchmal zweifle ich durchaus daran.
Die Vielfalt in den Familien, die ich in meiner Arbeit aber auch in der Schule und im Kindergarten erlebe, ist groß. Der „Normalfall“ ist heute selten. Und ich erfahre auch, dass meinen Kindern die Zeit im Kindergarten, in der Betreuung, in der Schule gut tut. Dass sie dort Dinge erfahren, auch Werte vermittelt bekommen, die ich ihnen im Rahmen unseres Familienlebens nicht hätte vermitteln können. Dabei kommt unsere Familie dem Familienideal der katholischen Soziallehre vermutlich näher als bei manchen anderen Familien. Um so mehr gilt dies für die Familien in denen Kinder allein, einzeln aufwachsen.

Sie werden mich hoffentlich nicht falsch verstehen. Es ist ein hohes und wichtiges Ideal, das auch von Ihnen verteidigt wird und ich gehe sehr davon aus, dass Ihnen die Sorge um ein gelingendes Familienleben mit den entsprechenden Rahmenbedingungen sehr am Herzen liegt.

Ich würde mir allerdings wünschen, dass die Kirche hier mit einer Stimme spricht, Partei für Familien in ihrer ganzen Vielfalt ergreift (selbst dann, wenn sie sich vom kirchlichen Familienideal entfernt haben) und sich spürbar von der Lebenswirklichkeit der Familien inspirieren und von Familienvätern und Müttern beraten läßt. Die Verantwortung hierfür liegt aber auch innerhalb der bischöflichen Amtsführung. Ganz bestimmt gibt es in der verfassten Caritas einen „Entweltlichungsbedarf“ und an der ein oder anderen Stelle auch deutlich Reformbedarf. Ich fände es gut, wenn die Bischöfe hier in enger Abstimmung mit den Verantwortlichen der Caritas einen guten Weg finden und nicht über halböffentliche Briefe verkehren, die sowohl auf die Arbeit der Caritas als auch die Absichten der Kirche einen gewissen Schatten werfen.
Ich bin jedenfalls dankbar, dass sowohl Prälat Neher als auch Sie, Bischof Hanke, eine Lanze für uns Familien brechen möchten. Ich nehme wahr, dass Sie jeweils andere Familienwirklichkeiten im Blick, aber letztlich das eine Ziel vor Augen haben.
Möge es auf die Fürsprache des Heiligen Menschenkenners Benedikt gelingen, dass Sie miteinander für das Wohl der Kinder und Familien etwas zum Besseren bewegen können. So verbleibe ich im Gebet verbunden mit frohem Gruß!
Ihr
Markus Gehling

P.S.: Ich erlaube mir, diesen Brief an Sie auch Herrn Prälat Dr. Peter Neher zur Kenntnis zu geben und ihn in meinem katholischen Blog www.kreuzzeichen.blogspot.com zu veröffentlichen. Ich würde mich freuen, wenn Sie mir eine Antwort geben könnten.


Die Stellungnahmen von Prälat Dr. Peter Neher: