Sonntag, 30. August 2015

Sonntagsgedanken zu Horror und Humanität

„Cayuco approached by a spanish Salvamar vessel“
von Noborder Network - Flickr: 
Dass Menschen Frikadellen mit Nägeln und Rasierklingen bestücken und in Parks verstecken oder mit Rattengift gepuderte Fleischbrocken irgendwo hinlegen, habe ich eigentlich für eines dieser modernen Märchen gehalten, die sich durch soziale Netzwerke verbreiten. Doch ein Artikel im SPIEGEL führte mir vor Augen, das dies inzwischen ein Massenphänomen ist und nicht auf psychisch gestörte Einzeltäter zurückzuführen ist, die ansonsten beispielsweise Pferde auf der Weide dahinmetzeln.

Vor einigen Jahren hat mich ein Roman sehr beschäftigt, wo schon im ersten Viertel die sehr sympathische „Hauptdarstellerin“, mit der ich mich sehr identifiziert habe, über den Haufen geschossen wurde. Es war gar nicht so einfach, den Roman dann noch zu Ende zu bringen. Neben Sach- und Fachliteratur lese ich sehr gern Krimis, aber möglichst solche, wo am Ende die Gerechtigkeit siegt und der Täter zur Strecke gebracht und seiner Strafe zugeführt wird. Verstörend sind für mich die Romane, wo „das Böse“ am Ende siegt und der bestialische Mörder davon kommt. Ob ich mein Weltbild zu revidieren habe? 

Sind solche Romane für mich vielleicht so etwas wie das homöopathische Gegengift zur Grausamkeit in unserer Welt geworden? Möchte ich mich in die wohlige Phantasiewelt zurückziehen, in der es „am Ende“ noch eine Gerechtigkeit gibt und wenn sie nur in einer gerechten Strafe gipfelt?

Solche Gedanken beschäftigen mich sehr. 71 Menschen – vermutlich aus Syrien – erstickten im Auflieger eines Lastwagens! Einen ähnlichen Lastwagen habe ich kürzlich noch über die Insel Ameland gesteuert. Was für eine Vorstellung, darin 71 Menschen zu transportieren. Ein Mädchen aus dem Lager hatte mich gefragt, ob sie nicht im „Kasten“ mal mitfahren könnte. Ich habe das natürlich abgelehnt, denn im Führerhaus bekommt man nichts davon mit, was sich hinten auf der Ladefläche abspielt. 71 Menschen starben – und niemand hat ihnen geholfen: was für ein Horror. Ich denke an die (fast) 71 Kinder aus unserem Sommerferienlager. So viele unterschiedliche Persönlichkeiten... Sie hätten sicher alle Platz gefunden in diesem Laderaum. Früher gab es schon mal solche Wetten im Ferienlagerprogramm... 

Vorgestern haben wir vom Tod der Flüchtlinge erfahren; gestern dann die Horrormeldung: es waren 71 Menschen, darunter auch Frauen und Kinder! Was für ein Schock. Heute morgen habe ich bei Spiegel Online nachgesehen. Die Topmeldung ist das nicht mehr. Stattdessen: Trump; die EU bietet Afrika Geld für die Rückführung von Flüchtlingen; Verteilung der Flüchtlinge in Europa; Heidenau; Aktien... 

Auf den ersten Blick ist das Grauen auf der LKW – Ladefläche gar nicht mehr zu finden. Und gestern gab es ja auch den Bericht über die 200 Flüchtlinge die im Mittelmeer ertranken.... Ich kann nichts dagegen tun, aber mir kommt der Absturz der „germanwings“-Maschine in den französischen Alpen in den Sinn. Gerade vor einigen Tagen hat man in Haltern ein Denkmal eingeweiht für die Schüler dieser Stadt, die dabei ums Leben kamen. Warum erregt das eine Unglück das Land für Wochen und warum nehmen wir das andere Verbrechen eher schulterzuckend und resigniert hin? Das verunsichert mich! Rational finde ich natürlich Antworten. Im Flieger aus Barcelona saß auch jemand aus Friedrichsfeld und einer aus Dinslaken, Seelsorger die ich kenne waren in Haltern um dort den Angehörigen beizustehen und auch eines der Halterner Opfer kommt mir näher, weil eine Bekannte mit ihr verwandt ist. Von den Flüchtlingen kannten wir wohl niemanden. Aber dennoch drängt sich mir der Eindruck auf, das Leben eines Flüchtlings ist weit weniger wert als das Leben eines Flugpassagiers. Und das kann ganz konkret werden; beispielsweise im Aufwand, der für die Rettung eines Menschenlebens „getrieben“ wird. 

Wer waren die Menschen, die auf der Ladefläche des Volvo – LKW in Österreich zusammengedrängt wurden? Ob wir sie jemals kennenlernen werden? Ob wir ihre Namen erfahren? Vier Kinder waren dabei, vielleicht jesidische Frauen, die den Vergewaltigungslagern des IS entronnen waren, vielleicht flüchtige Christen, unsere Schwestern und Brüder aus Mossul, deren Häuser vor einem Jahr mit dem arabischen „N“ besprüht wurden, um sie zu stigmatisieren als Anhänger des Nazareners, vielleicht ein IS – Rückkehrer, der in Syrien gemerkt hat, dass er sich nicht Freiheitskämpfern sondern todesverliebten Ideologen angeschlossen hatte oder gar ein potentieller „Schläfer“ vom IS selbst heimgeschickt, zur späteren Terror – Verwendung. Wahrscheinlich waren es aber harmlose Menschen, die aus verschiedensten Gründen der Hölle des vom Bürgerkrieg verwüsteten Syrien entkommen wollten. 

Eigenartig, dass ich gerade über die „Unmenschlichkeit“ gegenüber Hunden in diese Gedanken gestolpert bin. Aber ich glaube schon, dass es Zusammenhänge gibt. Jedenfalls macht mir die Gewaltbereitschaft in unserer Gesellschaft Sorgen. Welche Motivation steckt hinter solchen heimtückischen Attacken auf Hunde, die zumindest in Kauf nehmen, dass auch Kinder sich verletzten oder gar vergiften? Weil Hunde Lärm machen und nerven? Es hat auch schon Vorfälle gegeben, wo Spielgeräte auf Spielplätzen mit Nägeln und Rasierklingen bestückt wurden...  Und „Asylkritiker“ und Rechtsradikale schrecken nicht vor verbalen Angriffen z.B. bei Facebook und in Briefen, aber inzwischen auch nicht mehr vor Angriffen auf leere und bewohnte Gebäude zurück, ja sogar Attacken auf Menschen, die hier Asyl erhoffen sind nicht mehr tabu. 

Wir sollten aufmerksam sein, es gibt eine Eskalationsspirale die beim gedachten, gesprochenen, geschriebenen Wort beginnt.  Ich sehe darin nicht automatisch „rote Linien“ die nicht überschritten werden. Daher können wir uns nicht beruhigt zurücklehnen und die ersten Warnzeichen um des inneren Seelenfriedens willen, getrost übersehen. 

Dabei ist nicht alles „zielführend“, was Politiker und andere Meinungsmacher in diesen Tagen tun. Vielleicht können wir als Christen, als Katholiken, als Kirche, diese Fehler vermeiden. Ist es hilfreich, die Rechten und „Asylkritiker“ als Pack zu bezeichnen? In ihrem Furor gegen das Tun der etablierten Politiker wird das eher als Brandbeschleuniger. Sie greifen es begierig auf und wenden es gegen uns. Manchmal eröffnet es den Strategen die Möglichkeit, verunsicherte Menschen auf ihre Seite zu ziehen. Solche Allianzen müssen wir verhindern, auch durch sorgfältiges Argumetieren und klare Parteiname. Sicher, manchmal möchte ich mich auch einfach nur aufregen und diese Leute beschimpfen, die da verbal und wirklich auf Flüchtlinge und Andersdenkende losgehen. Aber diese Strategen sind geschickt, oft zündeln sie im Hintergrund, in Onlineforen, Publikationen und Organisationen, die auf den ersten Blick durchaus ehrenhafte Ziele zu verfolgen vorgeben. 
Manchmal ist da vom Einsatz für „unsere Tritionen“, für Ehe und Familie, für dies und das zu lesen.

Mancher Katholik, der sich mit seinem Einsatz für den Glauben und seine Werte als Rufer auf einsamer Flur (oder in der Wüste fühlt), mag da versucht sein, Gesinnungsgenossen und Partner zu entdecken. Es hilft auch nicht wirklich, den Wert der Flüchtlinge als zukünftige Arbeiter, Nachwuchsbringer oder Kulturträger über Gebühr zu beschwören. Klingt es doch allzusehr so, als müsse man eine Art "Geschäft" begründen. Die Flüchtlinge sind nicht für uns da, wir müssen unsere Probleme erst mal selber lösen. Der Wert des Flüchtlings bemißt sich nicht in seinem Wert für unsere in die Jahre gekommene Gesellschaft. 

Ich beobachte in meiner Facebook - Timeline mit Sorge, wie leichtfertig Stimmungen geteilt und verbreitet werden. Da ist die banale Frage inmitten einer Diskussion über ein Sommerfest mit und für Flüchtlinge; ob man sowas nicht auch mal für die deutschen Rentner machen könnte, die „ihr Leben lang malocht haben“ und „mit der Rente nicht rumkommen“. Da steht in manchen Post: „Ich bin nicht ausländerfeindlich...“ und dann kommt auch eigentlich nichts über Ausländer, aber über die Vielen, die im deutschen Staat zu kurz kommen. Manchmal sind sogar Bilder und Sprüche dabei, für die ich die „Liker“ eingentlich unmittelbar „entfreunden“ müßte. Aber hilft das? Oder mauern die sich dann noch mehr in ihre kleine Wagenburg ein? Der ein oder andere betont immer wieder wie gefährlich der Islam sei und dass die muslimischen Flüchtlinge doch anders zu behandeln seien als die Christen. Es wird darauf rumgeritten, dass Flüchtlinge über Smartphones verfügen oder dass die alle „jung und kräftig“ seien. 

Manchmal frage ich mich, was wohl die Brüder Josefs und sein Vater in den Augen dieser Leute waren, als sie vor dem Hunger in Israel nach Ägypten flohen. Ja sicher, Josef und Maria hätten wohl auch bei uns Asyl gefunden, auf der Flucht vor Herodes, obwohl es heute wieder Leute gibt, die ihre Flüchtgründe für nichtig halten, weil sie die Geschichte vom Kindermord von Bethlehem für „unhistorisch“ halten. Oder Abraham mit seinem Gefolge, Sara, seine vielen Knechte und Mägde. Die ganze Bibel erzählt Geschichten von Migration und Flucht. 

Als ich erstmals in Taizé war, hat mich sehr beeindruckt, dass die Brüder die Gäste mit einem „Vorschuss an Vertrauen“ begrüßten. Mit einem Bruder habe ich einmal diskutiert, ob das Vertrauen nicht auch mißbraucht worden ist (es ist), aber diese Grundhaltung möchten die Brüder nicht aufgeben. Manches Mal haben sie ihren Ärger heruntergeschluckt, z.B. wenn Taizé für die eigene religiöse Rechtfertigung mißbraucht wurde. Aber den nächsten jungen Menschen haben sie wieder vertrauensvoll aufgenommen. Wer weiß, ob es ohne diesen „Vorschuß an Vertrauen“ Taizé überhaupt noch geben würde. 

Ich denke, wir können viel davon lernen. Und Mancher, der spürt, dass man ihm vertraut, wächst über sich selbst hinaus und übernimmt seinerseits wichtige Funktionen in der Gemeinschaft. Ich denke, jeder Flüchtling hat einen Anspruch darauf, mit einem „Vorschuß an Vertrauen“ aufgenommen zu werden. Vielleicht sogar mit einem besonders großen Vorschuss, denn in der Regel hat er schwierige Zeiten hinter sich, ist selbst mißtrauisch und ängstlich, ausgeplündert und mißbraucht worden. 

Ich habe in Taizé auch erlebt, dass die Brüder konsequent werden konnten, nämlich dann, wenn jemand ihr Vertrauen mißbrauchte und gegen Regeln des Miteinanders verstieß. Auch das gehört dazu, ein Verhalten, dass das Miteinander gefährdet, muss konsequent unterbunden und sanktioniert werden. 

Aber erst einmal dürfen wir als Christen mit einem Vorschuss an Vertrauen auf die Menschen zugehen, die zu uns kommen. Ob sie nun Fremde sind, die aus einer anderen Stadt zu uns kommen oder ob es Flüchtlinge sind, die auf abenteuerlichen Wegen zu uns kommen, um hier ein sicheres und besseres Leben zu finden. Ich glaube auch, dass wir keinen Unterschied machen müssen, ob es nun Katholiken, Orthodoxe, Muslime oder Buddhisten sind, die zu uns kommen. 

Wir glauben, dass Gott uns als Mann und Frau wunderbar erschaffen hat, jeder Mensch ist sein Ebenbild, Christus hat für sie gelebt, gelitten, ist gestorben und auferstanden. Möglicherweise erreichen wir ja, dass der ein oder andere von ihnen neugierig wird, auf diesen Jesus, der uns soviel Rückhalt gibt, ihm einen „Vorschuss an Vertrauen“ zu geben. 

Schon viele haben es unternommen, mir zu beweisen, dass das Christentum eigentlich zur Kultur der Mitmenschlichkeit und des Mitgefühls nichts beigetragen hätte. Dass humanes Verhalten eben nicht „vom Himmel gefallen“ ist, sondern uns irgendwie von irgendwo in die Wiege gelegt wird. Nicht nur im Philosophieren darüber wachsen meine Zweifel daran, auch wenn ich in die Welt blicke werde ich mißtrauisch. Viele halten heute das christliche Erbe Europas für „überlebt“. Die christlichen Werte werden zu allgemein humanen Werten umdeklariert. Oder teilweise auch direkt entsorgt. Doch wo wären wir (wo kämen wir hin), wenn die Grundlage unserer Humanität nicht der Glaube an die unbedingte Würde eines jeden Menschen von der Zeugung im Mutterleib an bis zu seinem Tod wäre. Ist das nicht eine Überzeugung, die wir im gesellschaftlichen Diskurs wach zu halten haben als Christen, die Würde des Menschen, ob es um einen geifernden Nazi am Zaun vor dem Flüchtlingsheim geht, um einen radikalen Muslim am Verteilstand der „LIES“-Aktion, um einen Embryo im Mutterleib, um den erfolgreichen Unternehmer in Deutschland oder die gebrechliche alte Frau in einem Pflegeheim. 

Auf diese Weise können wir als Christen sein, werden und bleiben, was man in den Quellen von Taizé so umschreibt: die Berufung des einzelnen Christen und der Kirche sei, „Ferment der Versöhnung“ in der Gesellschaft zu sein. Dieses Wort hat mich schon seit Jahren beflügelt, schließlich ist das Ferment nur eine winzige Zutat, aber dennoch sorgt es für die Wandlung des Ganzen. Mein Beitrag ist oft nur winzig, aber Gottes Geist kann Großes damit bewirken. Das Böse erscheint übermächtig, aber letzendlich wird es nicht siegen, auch diese Hoffnung schenkt mir mein Glaube. Und eines Tages wird Gott (mich) trösten, und die Tränen trocknen. 

Das mag zwar auch etwas nach "Vertröstung" klingen, aber wir sollen die Hände eben nicht in den Schoß legen. 

Möge uns die Hoffnung auf diesen Gott die Kraft geben, angesichts des Bösen in der Welt nicht zu resignieren oder zu verzweifen oder gar selbst auf Irrwege zu geraten.

Herr Jesus Christus,
freundlich und demütig von Herzen, wir hören deinen verhaltenen Ruf «Du, folge mir nach».
An uns ergeht deine Berufung,
damit wir zusammen
ein Gleichnis der Gemeinschaft leben und, nachdem wir das Risiko
eines ganzen Lebens
auf uns genommen haben,
Ferment der Versöhnung seien
in jener unersetzlichen Gemeinschaft, der Kirche.
Gib, dass wir mutig darauf antworten, ohne im Treibsand unserer Ausflüchte zu versinken.
Komm, damit wir ganz
aus dem Atem deines Geistes leben, dem einzig Wesentlichen,
ausser dem nichts sonst uns anhält, unseren Weg neu aufzunehmen.
Von jedem,
der zusammen mit dir
zu lieben und zu leiden weiss,
verlangst du, sich selbst zurückzulassen, um dir nachzufolgen.
Wenn es nötig wird,
um mit dir zu lieben und nicht ohne dich, diesen oder jenen Zukunftsplan aufzugeben,
weil er deinem Plan zuwiderläuft, dann komm, Christus,
und öffne uns
dem unbeschwerten Vertrauen
lass uns darum wissen,
dass deine Liebe niemals vergeht
und dass dir nachfolgen bedeutet, unser Leben hinzugeben.

(aus den Quellen von Taizé)

Freitag, 17. Juli 2015

Gesund - Schrumpfende Kirche?

(c) aufblasbare-kirche.de
Entweltlichung! Mit diesem Stichwort gab Papst Benedikt den „Aufschlag“ zu einer Diskussion, die seither die katholische Welt in Deutschland bewegt. Entweltlichung? Was soll das bedeuten? Etwa eine Anspielung auf das Jesus – Wort „Mein Königtum ist nicht von dieser Welt.“?
Das wäre auf jeden Fall eine gute Richtschnur, erst recht in der weiterführenden Formulierung: „Wenn es von dieser Welt wäre, würden meine Leute kämpfen, damit ich den Juden nicht ausgeliefert würde. Aber mein Königtum ist nicht von hier.“

Entweltlichung! Wie das konkret aussehen könnte, das hat Benedikt XVI. wohlweislich den Deutschen nicht vorgeschrieben. 

Kurz zusammengefasst hat das, was einige Leute aus den päpstlichen Worten herauslesen, neulich jemand bei Facebook: „Die Katholische Kirche muss gesund schrumpfen. Solange sie mit Kirchensteuer-Einnahmen vollgepumpt wird und diverse staatliche Vergünstigungen genießt, wird sich in der Kirche gar nichts ändern. Sie ist und bleibt ein Großkonzern, der als Institution zumindest hier in Deutschland nur mehr wenig mit dem Grundgedanken der christlichen Kirche zu tun hat. Solange aber Berufskatholiken in den Ordinariaten sowie "liberale" (sprich: mit dem katholischen Glauben nur mehr wenig zu tun habende) Theologen und Geistliche den Kurs bestimmen, werden wir uns immer weiter vom Ausgangspunkt entfernen und bald Gefahr laufen, nur mehr ein spirituelles Wellness-Angebot unter vielen zu sein oder gar völlig in der Bedeutungslosigkeit verschwinden.“ 

Dieser Text forderte mich heraus, die Möglichkeit, den Weg einer Kirchenreform in 11 Zeilen vorgeben zu wollen, grundsätzlich zu bestreiten. Daraufhin entwickelte sich eine kurze Diskussion, die in der Aufforderung mündete, es doch einfach besser zu machen. Da mir die zitierte Haltung exemplarisch für die Meinung mancher Kirchenkreise erscheint und zudem in einzelnen Halbsätzen sicher auch von kirchenkritischen oder atheistischen Kreisen Zustimmung erfährt, will ich heute mal nach dem Stöckchen schnappen. Zumal just heute die Bischofskonferenz die aktuelle kirchliche Statistik vorlegt mit bedrückenden Austrittszahlen. 

Schrumpfen wir uns also gesund! Wir brauchen ja gar nichts dazu zu tun!?!? Allzu einfache „Lösungen“ machen mich eher skeptisch. Sehr bedenkenswert finde ich den Satz von Henry Louis Mencken: „Für jedes Problem gibt es eine einfache Lösung – klar, einleuchtend und falsch." Das gilt auch für manche kirchenpolitische Diskussion.  
Die Kirche muss „gesund schrumpfen“. Hm, hier kommt mir die mittelalterliche Praxis des Schröpfens in den Sinn, diese wesentliche Heilmethode damaliger Ärzte und Baader, die sowohl Besserung wie auch Schwächung mit sich bringen konnte. Ob Gesundschrumpfen hier so gemeint ist, dass die Kirche quasi nur noch aus überzeugten, engagierten, lehramtstreuen Personen besteht? Die Frage stellt sich, ob eine solche Kirche nicht zur Sekte verkäme und neben den Zeugen Jehovas, den Neuapostolen und den Evangelikalen ein Nischendasein am Stadtrand führen würde. Ob darin dann eine Keimzelle für eine Kirche läge, die zu allen Völkern und zu allen Menschen gesandt wird? Ich bin das skeptisch. Sektierer gibt es in der modernen, säkularen, pluralen Welt in großer Zahl. 

Wir sollen eher „Stadt auf dem Berge“ „Salz in der Speise“ oder Sauerteig sein. Kann dieses Bild nicht auch so gelesen werden, dass es eine gestufte Anhänglichkeit an die Kirche Christi geben kann, dass der christliche Gedanke die Gesellschaft eher langsam und manchmal unvollständig durchdringt? Viele humane Ideale unserer Gesellschaft verdankt diese dem Christentum. Sie prägen unsere Gesellschaft auch dann noch, wenn diese die Christentümlichkeit längst hinter sich gelassen hat. Zu einem geflügelten Wort weitergeführt hat dies Wolfgang Böckenförde: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“

Wer garantiert uns, dass das „Schrumpfen“ der Kirche in irgendeiner Weise zu ihrer Gesundung beiträgt? Kann es nicht im Gegenteil auch ein Krank-Schrumpfen oder gar ein in die Bedeutungslosigkeit – Schrumpfen geben? Natürlich ist es bequemer – und das macht den Gedanken vielleicht verlockend – in einer Kirche zu sein, wo die Welt noch „in Ordnung ist“ und wo theologische Streitigkeiten nicht über derartige Zerklüftungen gehen, wie wir das heute beobachten. Aber die Zukunft einer solchen – gesund – geschrumpften Kirche ließe sich ja durchaus auch heute schon beobachten, am Leben und Gedeihen beispielsweise der Piusbruderschaft. Ist es das wirklich, was uns letztlich zu einem Neuaufbruch führt?

Ein zweiter Punkt der Argumentation betrifft die zur Zeit reichlich sprudelnden Kirchensteuern und die zahlreichen Einrichtungen, die das Wort „katholisch“ „christlich“ oder „kirchlich“ im Namen tragen. Kardinal Meisner hat die Situation – sicher zutreffend – so beschrieben, dass die Karosserie des kirchlichen Gefährts viel zu groß für den allzu schwach gewordenen Motor ist. Wir können all dies nicht mehr „ziehen“. Einige Beispiele mögen die Szenerie beleuchten: 
  • Für den Bau eines einfachen Bischofshauses finden sich in mehr oder minder verborgenen Kassen des bischöflichen Stuhls zu Limburg über 30 Mio. Eine Summe, mit der sich locker 100 komfortable Einfamilienhäuser rund um Limburg errichten ließen. 
  • Im Krankenhausbereich beschäftigen die kirchlichen Träger heute manchmal mehr Menschen als sie sonntägliche Kirchenbesucher zählen. Vor einigen Jahren war ich Zeuge, wie bei einer Pfarreinführung der Chef des Krankenhauses den Pfarrer im Namen der 2.000 Mitarbeiter der Pfarre begrüßte. In vielen Städten ist heute die Kirche der größte Arbeitgeber. 
  • Auf Kritik stößt bei vielen Menschen, dass kirchliche Einrichtungen zu einem weit überwiegenden Teil, wenn nicht gar zu 100 Prozent aus öffentlichen Mitteln finanziert werden. Der Caritasverband bewegt sich heute wie jeder andere große Träger am „Markt“. Was ist das unterscheidend „christliche“ oder gar „katholische“. Inwieweit ist die Caritasarbeit auch „missionarische“ Arbeit?
  • Die komplexe Struktur kirchlicher Organisationen, Verbände und Vereine ist historisch gewachsen. Es fällt heute oft schwer, alle Gremien mit geeigneten Personen zu besetzen. Viele Organisationen erweisen sich nicht als 100prozentig lehramtstreu oder entwickeln eine beachtliche Eigenständigkeit. Katholische Laienorganisationen betreiben z.B die Beratungsorganisation Donum Vitae. gegen den Widerstand der Bischöfe. Im Kreis Steinfurt liefern sich gerade zwei katholische Trägergesellschaften ein Ringen um die Einrichtungen eines dritten – inzwischen insolventen – Träger. 
  • Trotz nochmals gestiegener Austrittszahlen (fast ein Prozent der Katholiken haben dennoch in diesem Jahr der Kirche den Rücken gekehrt)  steigen  die Einnahmen der Kath. Kirche aus der Kirchensteuer auch in 2014 noch einmal. Wie paradox!


Die hohe Zahl an Einrichtungen, die das „katholisch“ im Namen oder im Leitbild stehen haben, verdanken wir im Grunde zwei Entwicklungslinien. Die Erste ist, dass es eine lange Tradition in der Kirche gibt, sich um Arme, Kranke und Schwache zu kümmern. Die Kirche hat Hospize, Krankenpflegedienste, Schulen und Kindergärten erfunden. Mit dem Boom der tätigen Ordensgemeinschaften entstanden zahlreiche weitere Einrichtungen, die zunächst ausschließlich aus der Arbeits- und Organisationsleistung der Ordensleute basierten. Während der nationalsozialistischen Diktatur enteignete der Staat fast alle dieser Einrichtungen und überführte sie in staatliche Trägerschaft. 
Nach dem Krieg schlug dann das Pendel in die andere Richtung aus. Man wollte nach den traumatischen Erfahrungen verhindern, dass der Staat alle Lebensbereiche in die Hand bekommt und auf diese Weise die Bürger umfassend indoktrinieren kann. Daher erdachten die Väter der Bundesrepublik ein Konzept, das zu einer starken Vielfalt unter den Anbietern von Gesundheits- und Pflegeleistungen und im Feld von Schule und Erziehung beitragen sollte. Durch ihre finanzielle Kraft und weil sie von großen Bevölkerungsmehrheiten getragen waren, übernahmen die Kirchen viele Einrichtungen wieder in ihre Obhut und übernahmen noch weitere Trägerschaften. Oft galt der Grundsatz: freie Trägerschaft vor kommunaler Trägerschaft. Und in Zeiten knapper Kassen war es und ist es für kommunale und staatliche Stellen oft günstiger, einen Kindergarten in kirchliche Trägerschaft zu geben, statt ihn selbst zu betreiben. Da alle diese Einrichtungen jedoch auch in Konkurrenz zueinander standen und ohne eine staatliche Refinanzierung nicht überleben konnten wurde das „katholisch“ manchmal eher zu einem (mehr oder minder) sympathischen Label statt zum eindeutigen „Markenkern“. Selbst Katholiken wählen heute ein Krankenhaus nicht mehr, weil dort Sonntags noch die Messe gefeiert wird oder die Kommunion ins Krankenzimmer gebracht wird, sondern weil dort ein besonders guter, manchmal dann gar muslimischer Arzt das Skalpell führt.

Wie könnte ein „Gesundschrumpfen“ bzw. eine "Entweltlichung" in diesen Bereichen von Kirche und Caritas aussehen? Kann es wirklich aus kirchlicher Perspektive sinnvoll sein, die Einrichtungen in öffentliche Trägerschaft zu überführen, bzw. an Konzerne zu verkaufen? Nicht nur, dass solche Einrichtungen auch „Werte“ darstellen, ich halte es nicht für ausgeschlossen, dass die Menschen kommender Generationen das spezifisch „katholische“ einer Einrichtung wieder wert schätzen, beispielsweise, wenn es zu einer immer weiteren Öffnung für aktive Sterbehilfe käme. Vielleicht muss man sich erst einmal eingestehen, dass es einen Wandel gegeben hat, dass es Einrichtungen gibt, die nur noch eine Art katholisches Qualitätslabel tragen, weil sie in ihre Unternehmensphilosophie einige katholische Überzeugungen eingepflanzt haben, die im Alltag in dieser Einrichtung hier und da zum Tragen kommen. (Manchmal prangen ja an einem Hotel fünf Sterne, wo es allenfalls zwei verdient hat.) Und daneben könnte es katholisch profilierte Einrichtungen geben, die sich an Menschen wenden, die ausdrücklich ein echtes, tiefes, katholisches Profil wünschen. Im Schulbereich beispielsweise oder in Pflegeheimen und Hospizen. Vielleicht muss man sich von dem Druck befreien, jede Einrichtung mit dem Stempel „katholisch“ auch mit der ganzen Fülle des Lehramtes zu beseelen. Vielleicht reicht auch ein katholisches Qualitätssigel und ein Seelsorger, der sich der Menschen im Haus annimmt, ob es nun Mitarbeiterinnen oder Schüler, Kindergartenkinder, Eltern, Alte, Kranke oder Sterbende sind. Die wirtschaftliche Seite kann man dann vielleicht getrost in die Hände eines Pietisten oder eines muslimischen Betriebswirtes legen. 

Gesundschrumpfen! Wer das fordert, wird ja mit Freude sehen: wir schrumpfen ja, wir schrumpfen sogar stetig: die Zahl der Austritte steigt, die Zahl der Gottesdienstbesucher nimmt ab, die Zahl der Taufen, Trauungen, Firmungen, Erstkommunionen sowieso. Wer eine ganz normale Kirche besucht und aufmerksam ist, wird merken, dass wir eine alte Kirche geworden sind. Ich tue mich sehr schwer, die „Schuld“ dafür den Seelsorgern, Lehrerinnen, Priestern, Bischöfen, Eltern oder gar dem 2. Vatikanischen Konzil in die Schuhe zu schieben. 
„Der Grundwasserspiegel des Glaubens“ sinkt stetig. Aber parallel steigt bei diesen – noch – gläubigen Menschen der allgemeine Pegel an Wissen, Müssen, Können. In seiner Bedeutsamkeit für das persönliche Leben ist der Glaube und das Leben in der Kirche aus der Mitte immer mehr an den Rand gerückt. Vielen reicht eine lockere Verbindung mit „der Kirche“ zwischen Taufe und Erstkommunion, Kinderkrippenfeier und Beerdigung völlig aus. Die Gründe für diese Entwicklung sind vielseitig und komplex. Der Versuch der Kirchenleute, dieser Entwicklung hinterher zu laufen, hat in den letzten fünfzig Jahren teils skurrile Blüten getrieben. „Verweltlichung“ haben daraufhin zahlreiche Beobachter den allzu zeitgeistigen Verantwortlichen vorgeworfen. Wo bleibt das Geheimnisvolle, das Mysterium? Ist das kein Ausverkauf kirchlicher Werte?

Vielleicht ist die spezielle Art der kirchlichen Organisation und Finanzierung auch ein guter Hinweis auf ein besonderes Problem, mit dem die Kirchen in Deutschland zu kämpfen haben. Mir ging das neu auf bei der Predigt von Papst Benedikt XVI. im Olympiastadion in Berlin. Die Kirche ist hierzulande halt mehr als der „mystische Leib Christi“, mehr als die „Braut Christi“ oder wie auch immer sie in ihrer geistlichen Wirklichkeit umschrieben ist. Sie ist auch eine Institution, mit zahlreichen Einrichtungen und Gemeinden, die durchaus auch soziologischen Gesetzen unterworfen ist. Darin intendiert ist schon, dass Ideal und Wirklichkeit auseinanderfallen können und dies auch oft deutlich sichtbar geschieht. Die Wirklichkeit hinkt dem Ideal hinterher. Aus dieser Glaubwürdigkeitsschere, die sowohl von sehr konservativen Katholiken beklagt wird (das Gesundschrumpfen soll ja gerade diese „Schere“ schließen), wie auch von eher liberalen oder der Kirche entfremdeten Kirchenmitgliedern, ergibt sich häufig ein Grund, dieser Institution den Rücken zu kehren. 

Der Kölner Generalvikar Meiering erklärt sich diese Abkehr von der Institution damit, dass diesen Menschen, die Kirche immer fremder geworden sei, der Austritt der letzte Schritt auf einem langen Weg. Andere nennen in Gesprächen Erlebnisse mit der real existierenden Kirche als Grund, gläubige Menschen wären sie auch weiterhin. Konservative Katholiken ja allemal!

Die Last der Institution tragen viele andere Religionen nicht so, wie die christlichen Kirchen, insbesondere die katholische. Das macht einen gewissen Reiz z.B. des Islam oder des Buddhismus aus. Man kann den Glauben rundheraus gut finden, ohne die Schwächen der Institution vorgehalten zu bekommen. Wenn eine Moschee nicht mehr „passt“ wandert man weiter – allerdings auch mit der Gefahr in die Hände dubioser Sekten zu geraten. Wenn ich als Katholik über den Glauben schwärme stopft mir mancher erst mal mit den institutionellen Schwächen den Mund. 

Ich höre häufig, dass Leute mir erklären, sie seien ja nicht wegen mir (oder meinem Pastor) ausgetreten, sondern nur „wegen des Geldes“ oder weil sie sich über dies und das geärgert hätten. Was dann geschildert wird, entspricht allerdings oft einem Zerrbild selbst der real existenten Kirche, ein diffuses Gemisch aus Missbrauch, Reichtum, Mittelalter, Sexualmoral, Limburg, Vatikan und persönlichen Enttäuschungen, weil „die Kirche“ anders handelte als man selbst es erwartete. 

Dennoch erfahre ich den Glauben dieser Menschen häufig von durchaus christlichen Überzeugungen geprägt. Wollen wir diese Menschen einfach aufgeben? Oder sollten wir doch versuchen, sie für die Kirche und ihr positives Umfeld wieder zu gewinnen oder zu halten. Es ist doch nicht wertlos, wenn berühmte Kirchen von zahlreichen Touristen aufgesucht werden, die dort mehr suchen als bedeutsame Kunstwerke. Es ist doch nicht ohne Bedeutung, wenn Menschen in schwierigen Lebenssituationen in die Kirche kommen oder an einem Kreuz ein Gebet sprechen, oder anläßlich von Geburt oder Eheschließung auf den Segen Gottes setzen. Auch Klöster verzeichnen ein steigendes Interesse neugieriger Menschen. Kann man hier erwarten, dass sie erst wieder 100prozentige Katholiken werden oder müssen wir eher nach der Maßgabe Jesu handeln: „wer nicht gegen uns ist – ist für uns“? Das erfordert von den kirchentreuen Katholiken, den Überzeugten unter uns, eine gewisse Toleranz und von den „Anderen“ eine Offenheit für katholische Vielfalt. Es kann nicht sein, dass der kleinste gemeinsame Nenner das spirituelle Leben prägt, es muss möglich sein, spezifisch katholische Frömmigkeiten zu pflegen, und wenn es die Messe des Jahres 1962 ist. Dieser Weg ist für „überzeugte“ Katholiken sicher nicht leicht, weil es ja auch bedeutet, sich selbst an Regeln zu halten, die andere Mitchristen getrost ignorieren. Das macht es um so notwendiger die Menschenfreundlichkeit und den Wesenskern der kirchlichen Lehre aufzudecken und zu vermitteln. Und gleichzeitig braucht es kirchliche Angebote die neugierig machen, für "religiös und katholisch unmusikalische Zeitgenossen". Und Leute, die auf charmante Weise auch unvollständiges Glaubenswissen vermitteln mögen und auf dumme Fragen geduldig und freundlich antworten. Toleranz ist gefragt, denn der Herr lässt das Getreide und das Unkraut zusammen wachsen … und ER weiß am Ende besser als wir zu unterscheiden, was er als Unkraut ansieht oder ob unter dem Weizen nicht auch das ein oder andere heilsame Kraut herangewachsen ist. Und mit einem anderen Wort gesprochen: Er löscht den glimmenden Docht nicht aus und bricht nicht das geknickte Rohr.

Ich denke zu den Stichworten Berufskatholiken, „liberale“ Theologen und Geistliche und Wellness-Christentum ist damit auch genug gesagt, oder?

Es hilft nichts zu jammern, dass die Kirche schrumpft und schrumpft oder zu beklagen, dass man selbst in der Kirche immer weniger Glauben findet. Als kirchentreue Katholiken sollten wir schauen, dass das „Fenster der Kirche“ - durch das das Licht Christi in die Welt hinein leuchtet, dass dieses „Fenster“ für das wir (für das ich persönlich) Verantwortung tragen, unserem Kirchenideal auch entspricht. Wir sollten mithelfen, die Institution immer mehr der Kirche ähnlich zu machen, die dem Willen Jesu entspricht. Eine Kirche, die Gottesbegegnung möglich macht, die Räume öffnet zum Gebet, die Menschen in Not zur Seite steht und zum Sauerteig wird in der Gesellschaft, in der wir Christen leben. Mit „Gesundschrumpfen“ hat dieser Weg allerdings wenig zu tun.

Oder um es mit den Worten meines Bischofs Felix zu sagen: „wir wollen eine einladende und keine ausschließende und selbstbezogene Kirche sein; wir wollen eine Kirche sein, die die Beziehung zu den Menschen sucht statt sich abzugrenzen, wir wollen eine Kirche sein, die die Charismen und Begabungen aller Gläubigen aufsucht und fördert; wir wollen eine Kirche sein, die für die Menschen da ist – gerade für die Armen und Schwachen in unserer Gesellschaft.“

Donnerstag, 9. Juli 2015

Zerbrochene Gefäße in der Hand des Schöpfers

Am vergangenen Sonntag mussten wir von Wolfgang Abschied nehmen. Ich hatte ihn in den frühen 90er Jahren in Senden i. Westfalen kennen gelernt. Dr. Wolfgang Reuter hatte 1966 mit seinen „Studien über blaue Vogeleier“ promoviert, aber sein Lebensweg war vielfältig und bunt. Ich habe ihn als Menschen und Künstler schätzen gelernt. Er war ein kluger, vielleicht gar weiser Mann, mit dem man – trotz seiner späteren Demenzerkrankung – tiefe Gespräche führen konnte. Wolfgang hatte die Fähigkeit, in einem Gespräch die richtigen Fragen zu stellen. Ein Zeugnis einer solchen Begegnung hat der ehemalige Pastor der Hallig Hooge in einem Buch aufgeschrieben, während der Trauerfeier wurde ich darauf aufmerksam gemacht. Der Text scheint es mir wert, hier geteilt zu werden. Das Bild zeigt zwei kleine Arbeiten von Wolfgang in der Raku- Technik. Besonders beeindruckten mich seine unglaublichen Landschaftsbilder aus Keramik, von denen ich leider keines besitze.
„Haltet mich nicht auf, denn der Herr hat Gnade zu meiner Reise gegeben. Lass mich, das ich zu meinem Herrn ziehe.“ Diesen Vers aus dem Buch Genesis hat er uns zum Abschied mitgegeben. 
Aber nun zur Geschichte: 

Im Sommer 1919 besuchte Emil Nolde Hallig Hooge. Er liebte, wie er später in seiner Autobiografie schrieb, „den atmenden Wechsel von Ebbe und Flut und das Wattenmeer mit dem Lauf seiner Priele und die Geschichte der verschlammten Ruinen von Rungholt und all der anderen von Sturmfluten zerstörten Dörfer und Gehöfte“. Seither haben Maler und Bildhauer immer wieder mit Vorliebe die Halligwelt aufgesucht, um sich von ihr inspirieren zu lassen. Juli 1986 kam aus Münster mit Wolfgang Reuter ein Künstler nach Hooge, der die Halliglandschaft mit Bildern aus Ton interpretierte. 
Die Begegnung mit ihm wurde mir bedeutungsvoll. Warum? Als ich seine Arbeiten sah, war ich erstaunt, wie komplex und eigenwillig die Ausdrucksmöglichkeiten von Keramik sind. Da war nicht nur die reliefartige Gestaltung der Bildoberfläche, die meine Phantasie beflügelte. Und nicht nur der Farb-Ton mit seinen vielen feinsinnigen Zwischentönen, die mich überraschten. Noch etwas anderes beschäftigte mich. 
Dem kam ich auf die Spur, als Wolfgang Reuter mir erklärte, er müsse sich in seinem Arbeitsprozess auf das Unberechenbare einlassen. Ich horchte auf und fragte ihn, was er damit denn meine?
Wer kreativ mit Ton arbeite, erklärte er, der stoße fortlaufend auf die Grenzen dessen, was berechenbar ist: „Du musst die Grenze des Kalkulierbaren überschreiten. Denn in dem Augenblick, wo der vorbereitete und glasierte Ton in den Ofen kommt und bei 900 bis 1180 Grad gebrannt wird, gestalten Feuer und Hitze in einer menschlich nicht mehr berechenbaren Eigendynamik mit“, meinte er. Darum sei jedes Stück einmalig, jedes eine eigene, nicht wiederholbare Arbeit.
Auch äußere sich das Unberechenbare darin, dass Gefäße und Platten in der hohen Brenntemperatur leicht Sprünge bekämen und reißen. Es sei eben nichts berechenbar, nichts vorhersehbar.
Wie im Leben – oder? Als er dies sagte, umspielte ein bitteres Lächeln seine Lippen. 
„Es ist so“, erwiderte ich. „Wir Menschen gleichen dem Ton, der großartig ist in seinen Möglichkeiten und vielseitig verwendbar, doch leicht Risse bekommt und ...“
„Es hat für mich Augenblicke gegeben“, fiel er mir ins Wort, „da habe ich bis ins Mark hinein meine Zerbrechlichkeit gespürt. Man muss nicht erst am Tode, man kann schon am Leben zerbrechen. Aber sag, muss nicht da, wo Menschen sind, auch ein Töpfer sein, der selbst mit zerbrochenen Gefäßen etwas anfangen kann und will?“
„Nicht auszudenken“, erklärte ich, „was Gott aus den Rissen und Trümmern unseres Lebens machen kann, wenn wir uns ihm ganz überlassen. Denn: „Nahe ist der Ewige denen, die zerbrochenen Herzens sind und den Niedergeschlagenen hilft er“.“

(Aus dem Buch: „Eine Handvoll Erde im Meer“ - Halliggeschichten des ehemaligen Halligpastors Dietrich Heyde. 

Sonntag, 12. April 2015

Nachdenken über Krankheit: mein Krebs


Etwas mehr als ein Jahr liegt es nun zurück, dass die Ärzte in meinem Körper eine "Raumforderung" diagnostizierten. "Raumforderung", ein Begriff, der zunächst einmal nur aussagte, dass da im Ultraschall oder auch im MRT / CT – Bild etwas war, das da nicht hingehörte. Was das war, was da Raum forderte, das war zunächst nicht klar. Ein Bluterguß, ein Muskelfaserriß, ein gut- oder gar bösartiger Tumor? Klar wurde dann Schritt für Schritt, dass es sich um einen bösartigen, "hochmalignen" Tumor handelte, um ein Non-Hodgkin-Lymphom. Und dass diese Erkrankung mehr Raum fordern würde, als ich nur wenige Tage zuvor zu fürchten gewagt hatte. 

Sie stellte ein Stück meines Lebens auf den Kopf. "Sie werden ihre ganze Kraft für Ihre Heilung brauchen." sagte mir die behandelnde Onkologin. Der Krebs und die Therapien sollten also viel Raum in meinem Leben einnehmen. So viel, dass an Arbeit nicht mehr zu denken war und an einigen Tagen während der Chemotherapie ging auch vieles Andere nicht. Psychisch und physisch war da die Luft oft raus und selbst kleinere Aktivitäten erforderten viel Energie. 

Die akute Erkrankungsphase liegt hinter mir, über den Berg bin ich noch nicht. Das wurde mir recht schmerzhaft vor Augen geführt anhand des Schicksals eines befreundeten Ehepaars, wo der Mann etwas später als ich eine vergleichbare Diagnose mit einem vergleichbaren Krebs erhielt. Am Samstag mußten wir ihn zu Grabe tragen. Einige Jahre lang waren wir gemeinsam zu Fuß nach Kevelaer gepilgert, nun trugen ihn zwei junge Kevelaer – Pilger zu seiner letzten Ruhestätte. 

Das maligne Lymphom ist eine Erkrankung des Lymphgewebes, das ist eine "Systemerkrankung", wie ich lernen mußte. Krebszellen finden sich dabei im ganzen Körper, die Medikamente und Chemotherapeutika greifen sie – über das Blutsystem transportiert überall an, zerstören die Möglichkeit der Krebszellen sich zu teilen und zu vermehren. Dabei fallen auch manche andere Zellen im Körper den Zellgiften zum Opfer, was u.a. dafür sorgt, dass man sich über Monate die Kosten für den Friseur spart und sich selten zu rasieren hat. 

An bestimmten Stellen des Körpers bildet der Krebs auch Tumoren oder läßt die Lymphknoten anschwellen. Bei mir war das im Unterbauch, bei meinem Bekannten in Auge und Kopf, was es wohl viel schwieriger machte, die Tumore zu erreichen. Während sich meine Erkrankung im Idealverlauf behandeln ließ, war es bei ihm viel schwieriger und wesentlich härter. Dennoch, Ende des Jahres konnten wir uns als "vorläufig geheilte" die Hand schütteln. Ein Erfolg, der bei ihm leider von kurzer Dauer war. Während ich wieder langsam mein "altes Leben" zurückerobern darf stellten sich bei ihm Komplikationen ein, die man zunächst den harten Therapien zuschrieb. Sein Zustand verschlechterte sich Schritt für Schritt, dann rasant, so dass er in der vergangenen Woche dann den Kampf gegen den Krebs auf der Intensivstation eines Krankenhauses verlor. 

Das führt auch mir vor Augen, dass ich noch keineswegs auf der "sicheren" Seite bin. Ich bin froh, dass die Sorge mein Leben nicht zu sehr beeinträchtigt. Aber ab und an ist die Frage schon da: "Was tut sich da im Körper, was ich nicht sehe...?" Spüren kann ich durchaus noch was, der Körper, mein Leib fühlt sich noch nicht an wie früher... Und er kann auch noch nicht so wie er mal konnte, es fehlt an Kraft und oft auch an Konzentration. Das ist zwar ärgerlich, aber solange es kein Anzeichen dafür ist, dass der Krebs noch lebt ... buche ich all das unter "Zipperlein" ab. 

Krebs, das ist der "König der Krankheiten". Diese Feststellung verdanke ich dem Schriftsteller Henning Mankel, der auch im vergangenen Jahr eine Krebserkrankung zu durchleben hatte. Als Schriftsteller brachte er seine Gedanken und Empfindungen dazu zu Papier. Dem eifere ich jetzt – verspätet – einmal nach. König der Krankheiten! Es ist wirklich etwas dran! Dem Wort "Krebs" hängt ein gewisser Mythos an, umwabert von Lebensgefahren. Obwohl es zahlreiche hoch gefährliche Erkrankungen gibt und manche von Ihnen viel rasanter zum Tode führt, kommt "Krebs" im Empfinden mancher Menschen in der Gefährlichkeit noch weit vor dem Herzinfakt. Beim Infakt glaubt man ja zu wissen, wo das Problem liegt. Da war ein Blutgefäß halt zu eng, verstopfte und "bums"... Bekommt man den Verschluß schnell gelöst, sind die Chancen nicht schlecht. 

Krebs ist wesentlich schlechter zu greifen. Es ist auch nicht ein "Propf", der quasi von außen in den Körper kommt (oder sich halt unter widrigen, von außen beeinflußten Umständen, regelwidrig in mir bildet), sondern beim Krebs drehen die eigenen Zellen durch. Etwas von mir, tief in mir drin verändert sich. Ohne dass man wirklich genau sagen kann, woran das liegt. Die Zellen scheinen wie umprogramiert, entwickeln sich unkontrolliert und bilden einen Tumor. Und sie haben die Angewohnheit, sich tückisch über den Körper zu verbreiten. Manche tun das über das Blut, andere über die Lymphsysteme. 
Es ist komisch, man kann den Tumor gar nicht so richtig als Fremdkörper begreifen, er ist in mir, wird von mir am Leben erhalten, wächst... Es sind meine Zellen, die da wachsen. Er ist ein Stück von mir – und ist es wieder nicht. 

Mir geht da immer ein Wort aus dem Markusevangelium durch den Kopf: "Nichts, was von außen in den Menschen hineinkommt, kann ihn unrein machen, sondern was aus dem Menschen herauskommt, das macht ihn unrein. Er verließ die Menge und ging in ein Haus. Da fragten ihn seine Jünger nach dem Sinn dieses rätselhaften Wortes. Er antwortete ihnen: Begreift auch ihr nicht? Seht ihr nicht ein, dass das, was von außen in den Menschen hineinkommt, ihn nicht unrein machen kann?"
Natürlich hat Jesus da nicht vom Krebs gesprochen. Aber ich muss doch sehen und erkennen, dass der Krebs nicht von mir zu trennen ist. In meinem Fall nicht einmal durch eine Operation, denn der Tumor konnte nicht operiert werden und das wäre in meinem Fall auch nicht sinnvoll gewesen, hätte mir also die Chemo nicht erspart. Also, schließe Freundschaft mit dem, was in Dir ist, akzeptiere den Tumor als Teil von Dir!

Spaßeshalber habe ich schon mal "Attacke" gesagt, wenn ein besonders agressives Chemotherapeutika gespritzt wurde, oder "auf in den Kampf" und "macht sie fertig, die Tumorzellen". Im wahrsten Sinne des Wortes bekämpft man bei der Chemo und bei der Bestrahlung sich selbst. Diesen Gedanken könnte man jetzt auch theologisch überhöhen und im Horizont der Worte Jesu bedenken. In diesem Sinne ist eine Krebsbehandlung schon auch ein Stück "Askese" und bringt so manchen Verzicht mit sich. Den Verzicht auf Wohlbefinden, den Verzicht auf Wohlgeschmack, den Verzicht auf manche Aktivität, an der man sonst seine Freude gehabt hätte. Auch den Verzicht auf etwas Gemeinschaft und Miteinander. Die Therapie schwächt die Abwehrkräfte und es wird empfohlen, auf Begegnungen mit Menschen zugunsten schriftlichen und telefonischen Austauschs zu verzichten. In dieser Zeit habe ich "facebook" schätzen gelernt, das mir doch einen gewissen Austausch mit Menschen ermöglicht hat, die ich nicht um mich haben konnte. So konnten die "grauen Zellen" etwas im Training bleiben. Bei allem, was man gegen dieses soziale Netzwerk sagen kann ... ich habe manche Aspekte schätzen gelernt. Auch wenn sie "virtuell" war, die Zuwendung mancher Menschen in der Ferne und ihre Anteilnahme tun auch durchaus gut. (Natürlich gab es auch schlechte Erfahrungen, aber die gibt es im normalen Leben auch.)

Während meiner Wiedereingliederung habe ich oft gesagt, ich sei nach einem "Sabbatjahr" wieder dabei. Es war zwar unfreiwillig, aber in gewisser Weise doch ein Jahr, in dem man schauen konnte, was wirklich wichtig im Leben ist. 

Krebs, als König der Krankheiten! In gewisser Weise hat mich das auch in den Adelsstand erhoben. Viele Menschen, von denen ich das zuvor nicht wußte, offenbarten sich mir in diesen Monaten als Krebsüberlebende oder akut Erkrankte. Ich bin von Anfang an sehr offen mit meiner Diagnose umgegangen, habe sie auch bei facebook gepostet. Insgesamt war das sehr positiv aufgenommen worden, mit der Ausnahme eines weiblichen "Trolls", die mir daraus einen Strick drehen wollte. Aber so wußten viele Leute Bescheid und konnten sich innerlich ordnen, bevor sie mir wieder begegneten und nach angemessenen Worten und Reaktionen suchen. Und ich denke, wenn man es ausspricht ist schon ein Stück vom Mythos dieser rätselhaften Krankheit zerstört. Das ist zumindest ein kleiner Anfang. 

Man sollte diese Krankheit nicht unterschätzen. In der Öffentlichkeit kommt sie zu wenig vor, ob es daran liegt, dass man sich heute lieber mit dem Schicksal irgendwelcher Adeliger, Stars und Sternchen beschäftigt (im Wartezimmer habe ich mich manches mal über den Kontrast gewundert zwischen der Welt der Schönen und Reichen in der Wartelektüre und denen die mit ganz anderen Sorgen behaftet, sich dennoch gern mit deren vermeintlich schönerem Leben ablenkten) als mit der eigenen Sterblichkeit? O.K., das wäre jetzt auch zu viel verlangt. Aber die Statistik sagt, das jeder vierte Mensch eines Tages einmal mit einer Krebsdiagnose konfrontiert wird. Jährlich erkranken eine halbe Millionen Menschen mehr daran. Glücklicherweise hat es einen großen medizinischen Fortschritt gegeben, die Diagnose Krebs ist kein Todesurteil mehr. Die Ärzte vermögen etwas zu tun.

Ein Grund mehr, offen darüber zu reden. Ich wünsche mir, dass die von Krebs betroffenen Menschen eine Gesellschaft vorfinden, die es aushält, wenn sie offen über ihre Krankheit und über ihre Ängste reden. Dass sie Menschen begegnen, die sich nicht schnell "verdrücken", wenn sie einem begegnen – aus Angst, dass ihnen die richtigen Worte fehlen. In einer Gesellschaft, wo Jugend, Schönheit, Kraft und Gesundheit eine sehr große Rolle spielen, sollte auch Raum genug für die Realitäten sein und die Erkenntnis lebendig bleiben, dass die Hochglanzmagazine die Ausnahme und nicht die Regel präsentieren. Das Leben ist weit mehr als nur Hochglanz. 

Trotz aller Möglichkeiten, die eigene Gesundheit zu fördern und trotz aller ärztlichen Kunst, stoßen wir immer wieder an Grenzen. Wer mit Krebs konfrontiert ist, der schaut auch dem eigenen Tod ins Angesicht. Und je schlechter die Prognosen sind, desto schwieriger wird es wohl sein, die notwendige Kraft zu mobilisieren und den Kampf zu beginnen. Mir ist das recht leicht gefallen, weil mein Arzt mit eine recht günstige Prognose in Aussicht gestellt hat. Aber viele andere Kranken stehen vor viel schwierigeren Entscheidungen, erst recht, wenn es nur um die blanke Hoffnung auf einige Wochen mehr auf dieser Erde geht, die durch aufreibende Therapien erkauft werden sollten. Was das bedeutet, davon habe ich bis heute nur eine Ahnung bekommen. Es gibt im Internet eine Statistik, bei der man sich zu jeder Krebsdiagnose eine "Überlebensrate" anschauen kann. Ich bin ehrlich: ich möchte es gar nicht wissen und ich vertraue doch darauf, dass der Herr mit mir noch etwas vor hat. 

Ich habe auf meinem Computer einen Ordner "Projekte", wie z.B. eine Gemeindewallfahrt nach Banneux, Material für meinen Blog, Ostern u.ä.. Als ich meine ersten Briefe zum Krebsthema zu schreiben hatte, habe ich einen Projektordner: "Krebs" angelegt. Wohl in der Hoffnung, auch dieses Projekt zu einem erfolgreichen Ende zu führen. Ich hoffe, dass ich eines Tages auch diesen Ordner als "abgeschlossen" archivieren kann. 

Beim Kinderkreuzweg kürzlich (in diesem Jahr konnte ich die österlichen Tage wieder mitfeiern, erstmals seit gut 40 Jahren mußte ich im Vorjahr einmal aussetzen), habe ich bei der Station im Ölgarten über Jesus gesprochen und über die Kraft des Gebetes. Ich habe davon erzählt, dass das Gebet hilft. Vielleicht nicht in dem Sinne, dass man bekommt, worum man bittet (Genesung). Aber meine Erfahrung ist, dass es zumindest hilft, schwierige Situationen und Zeiten durchzustehen. Mein Handy bietet mir den kompletten Text des kirchlichen Stundengebets. Wenn man genug Klarheit im Kopf hat, eine gute Möglichkeit ab und an diese Gebetsweise mit zu vollziehen. In Wartezimmern und auf Krankenliegen geht das auch ganz gut. Und mancher Psalmvers wird neu lebendig und spricht in die persönliche Lebenssituation mit seiner Klage und seiner Hoffnung auf bessere Zeiten. Aber nicht immer ist die notwendige Konzentration da, manchmal weiß man gar nicht mehr, was man gebetet hat. Aber vielleicht ist das gar nicht so schlimm, im Gebet ist ja nicht nur das Bewußtsein aktiv. Ganz neu habe ich den Rosenkranz schätzen gelernt, weil eine Reihe von "Gegrüßet seist Du Maria" gehen immer – manchmal verbunden mit einem Geheimnis, manchmal mit eigens "erfundenen" Geheimnissen, manchmal auch einfach nur wiederholt. Ich habe durchaus die Erfahrung machen dürfen, dass das hilft, auch gegen Angst und Sorgen und das es den unruhigen Geist wieder sammelt. Ähnlich hilfreich ist auch das Jesus – Gebet, das mit dem Atemrhythmus gesprochen wird, z.B. mit dem Satz: "Herr Jesus Christus – erbarme Dich meiner." – oder "Herr Jesus Christus, steh mir bei." Ganz ähnlich funktionieren einige Wiederholgesänge, die man auch still singen kann: "Aus der Tiefe rufe ich zu Dir – Herr höre meine Klagen, aus der Tiefe rufe ich zu Dir – Herr höre meine Fragen." oder "Meine Seele, meine Seele wartet auf den Herren, wie die Wächter auf den Morgen. Allein, allein bei ihm ist Erlösung." Auch in solchen einfachen Formen "ereignet" sich Gebet, manchmal vielleicht sogar mehr, als durch das Ablesen oder Aufsagen langer Gebetstexte. Wir beim Ein- und Ausatmen geschieht dabei in gewisser Weise eine Kommunikation zwischen mir und Gott, fließt vielleicht so ein wenig von seiner Ruhe und Zuversicht in mein Herz.

Jesus hat im Ölgarten nicht darum gebeten, dass Gott das Leid von der Welt nimmt, sondern um die Kraft für sich (und für seine Freunde), den bevorstehenden Kreuzweg zu bestehen, die Kraft, das Kreuz zu tragen. Ich glaube, darin steckt eine tiefe Weisheit. Manche Menschen scheinen das Gebet für unwirksam zu halten, weil sie nicht bekommen, worum sie bitten. Aber es gibt manche Beispiele, dass die Welt aus den Fugen geraten würde, wenn wir alle unsere Gebetswünsche erfüllt bekämen. Da betet der Bauer um Regen und die Kinder in den Ferien um Sonnenschein. Das geht oft nicht gut zusammen. So scheint mir, funktioniert Gebet nicht. Natürlich habe ich auch gebetet: "Lieber Gott, lass mich wieder gesund werden!" Und nicht: "Aber wenn Du willst, dass ich am Krebs sterbe, dann nehme ich das gerne an." Aber doch: "Gib mir die Kraft, das durchzustehen, was auf mich zukommt." Ich weiß es auch heute nicht, aber ich hoffe, dass Gott mir (und meiner Familie, meinen Freunden und allen, für die ich Mitverantwortung trage) genügend Kraft gibt, die nächsten Schritte zu gehen und vielleicht einst (in möglichst ferner Zukunft), die Schritte über jene Schwelle hinweg, die ich dann allein gehen muss, über den eigenen Tod hinaus in ein neues Leben bei Gott. Möge dieser mir die Tür öffnen, wenn ich diesen Schritt zu gehen habe und mich in seine Hände fallen lassen muss. Bis dahin würde ich schon noch gern das ein oder andere Projekt hier zu Ende bringen und für die Menschen da sein, für die ich ein Stück Verantwortung übernommen habe.

Hoffentlich legt mein "Mitpilger" im Himmel ein gutes Wort für mich ein!

Sonntag, 22. März 2015

Wir Ritter von der traurigen Gestalt

Natürlich kannte ich Miguel de Cervantes schon länger. Und ich wusste, dass er ein bedeutender spanischer Schriftsteller war, und nicht nur das, der Autor des Don Quijote gilt als Spaniens Nationaldichter. Seinem Todestag 1616 verdanken wir auch den "Welttag des Buches" (23. April). Im nächsten Jahr ist das ein Jubiläum, nämlich der 400. Todestag. 

Über einen besonderen Aspekt in der Vita Miguel de Cervantes bin ich allerdings erst jetzt gestolpert. Bei dem denkwürdigen Auftritt bei der Pegida – Demonstration in Duisburg sprach der Emmerich/Klever Pfarrer Paul Spätling über allerlei, aber eben auch über diesen spanischen Dichter. 

Es ist schon skuril, dass bei einer eher ausländerfeindlich angehauchten Demostration ausgerechnet ein Spanier für die Gegnerschaft gegen Muslime herhalten muss. Aber lesen Sie selbst, was der Priester zu sagen hatte: 

"Wenn ich mich nicht irre, haben die Christen Europas schon fast 1400 Jahre… gegen den Islam kämpfen müssen, weil er in Europa eingefallen ist. Immer wieder hat sich Europa verteidigt! Hat sich die Christenheit verteidigt! Und jetzt seid etwas 20/30 Jahren sollen wir das nicht mehr tun? Gehört denn der Islam zu Deutschland? (Tosender Applaus und im Hintergrund hört man einen Sprechchor „Niemals“). Das ist doch ein unmögliches Wort was die Frau Merkel dort gesagt hat. (Buh-Rufe und Applaus). 

Wenn ein großer spanischer Dichter Cervantes, der den Don Quijote geschrieben hat, wenn er als junger Mann mit 21 Jahren… bei der Schlacht von Lepanto … seinen linken Arm verloren hat, Entschuldigung, seinen rechten Arm … und hat dann … ist dann ein so großer Dichter geworden… was hat der Mann auf sich genommen… damit die Türken von Europa ferngehalten wurden. (Applaus) Und dieser Dichter Cervantes ist abgebildet auf einem 20 Cent Stück aus Spanien des Euro. Und vielleicht schauen sie mal drauf, vielleicht bekommen sie auch so ein Bild. Ich hoffe nicht, dass Frau Merkel den Antrag stellt, dass diese Münze verschwindet. Ich danke ihnen ganz herzlich für ihr Gehör und bitte dann dass wir uns dann ordentlich und in Ruhe bewegen und unseren Marsch für Deutschland machen." Wer es selber sehen und hören will: https://www.youtube.com/watch?v=ZEkld1nR6rQ&feature=youtu.be

Ganz offensichtlich muss man dem Mann zunächst einmal eine gewisse rechts-links Schwäche attestieren. Also, sowohl dem Spätling (geistig-geistlich), als auch dem Cervantes (körperlich). Schauen wir einmal in die zuverlässigste Quelle, die das "Weltnetz" zu bieten hat: Wikipedia. Dort lesen wir: "Als Mitglied der Infantería de Marina nahm er 1571 an der Schlacht von Lepanto teil, in der Juan de Austria gegen die Türken kämpfte. Er erhielt drei Schusswunden, zwei in der Brust, eine in der linken Hand, die dauerhaft entstellt blieb, wodurch er den Beinamen el manco de Lepanto (der Einhändige von Lepanto) bekam. In einer Anspielung auf seinen Erfolg mit dem Don Quijote schrieb er später in der Geschichte Viaje del Parnaso, er habe „die Fähigkeit, seine linke Hand zu bewegen, zum Ruhme seiner rechten verloren“. Also, lieber Paul Spätling ... es war doch die linke Hand und es war auch nicht der Arm und verloren war er schon gar nicht (wenngleich ich die Wunde nicht klein reden möchte). Aber dran ist er schon noch geblieben. Und wäre er damals nicht verwundet worden - ob wir ihn heute noch kennen würden?

Später wurde Cervantes dann von algerischen  Korsaren (wieder Muslime!)gefangen genommen und auf dem Sklavenmarkt verkauft. Nach fünf Jahren konnte ihn der Trinitarier-Orden aus der Gefangenschaft wieder freikaufen. Es folgte ein sehr bewegtes Leben. Doch erst als er 1597/98 im Gefängnis von Sevilla in Untersuchungshaft saß (er sollte Geld veruntreut haben), begann er mit der Arbeit an seinem bedeutendsten Werk "El ingenioso Hidalgo Don Quijote de la Mancha" (Der sinnreiche Junker Don Quijote von La Mancha), das in zwei Teilen 1605 und 1615 erschien. 

Leider hat es Paul Spätling auch mit Zahlen nicht so. Cervantes war bei der Schlacht von Lepanto wohl bereits 24 Jahre alt und sein Portrait schmückt sowohl die spanischen 20 Cent, wie auch die 10 und 50 Cent – Münzen. Ein Zeichen dafür, dass der Nationaldichter von den Spaniern bis heute hoch geschätzt wird. Im Alter von 69 Jahren starb dieser aber 1616 einigermaßen mittellos in Madrid, zehn Tage vor seinem Zeitgenossen William Shakespeare. Vor einigen Wochen hat man nun - pünktlich zum "Jubiläum" auf dem Gelände des Klosters der Unbeschuhten Trinitarierinnen in Madrid mit recht hoher Wahrscheinlichkeit seine sterblichen Überreste geborgen. Die Wunde seiner Hand ermöglichte es, die Gebeine dem großen Dichter zuzuordnen. Da es heute keine bekannten lebenden Verwandten mehr gibt war mit der DNA nichts zu machen. 

So skuril der Auftritt des niederrheinischen Pfarrers vor den johlenden Pegida – Demonstranten daher kam, so skuril und sinnbildlich ist seine Verzweckung des spanischen Weltschriftstellers mit dem Kampf gegen die "Islamisierung" Deutschlands. Gerade der Don Quijote ist geradezu eine sinnbildliche Geschichte für diese selbsternannten Verteidiger des Abendlandes.

Alonso Quijano, der sich später Don Quijote nennt ist ein verarmter Landadeliger, der nach der Lektüre allzu vieler Ritterromane selbst zum edlen Ritter werden möchte.(Würden wir den Roman aktualisieren müßte man von übermäßiger Lektüre der einschlägigen, von Pegida betriebenen und beworbenen Webseiten z.B. dem Blog: Politically Incorrect sprechen.) Schon zu Cervantes Zeiten, ist die "ritterliche Welt" ein Mythos geworden, eigentlich "Schnee von gestern". So hat auch Don Quijote wenig vorzuweisen, es fehlt ihm buchstäblich an allem, er ist ein Ritter von der traurigen Gestalt, mit Rosinante, seinem klapprigen Gaul, begleitet von seinem Stallmeister, in einer rostigen, selbst geflickten Rüstung. Auf seinem 2. Ausritt ereignen sich "jene Taten, für die der Roman berühmt ist. Don Quijote kämpft gegen Windmühlen, die ihm als Riesen erscheinen" und "attackiert staubumwölkte Hammelherden, die für ihn mächtige Heere zu sein scheinen ... und dergleichen mehr. Häufig wird Don Quijote am Ende solcher Abenteuer von seinen Widersachern fürchterlich verprügelt oder kommt anders zu Schaden. Sancho Panza (sein Begleiter), weist seinen Herrn stets auf die Diskrepanz zwischen dessen Einbildung und der Wirklichkeit hin. Für Don Quijote beruht sie jedoch auf der Täuschung durch mächtige, ihm feindlich gesinnte Zauberer." (bei Wikipedia abgeschrieben).

Wie wahr hat doch Pfarrer Spätling gesprochen, als er uns auf diesen Roman hingewiesen hat. Bietet dieser doch einen trefflichen Schlüssel für das Verständnis der Pegida – Bewegung. In gewisser Weise lauter „Ritter von der traurigen Gestalt“ im Kampf gegen "die Politik", die "Lügenpresse" und die Islamisierung. 

Im Roman sind es u.a. Zwei Priester, ein Dorfpfarrer und ein Kanoniker, die den Don Quijote im Käfig auf einem Ochsenkarren in seine Heimat zurückbringen. Was mag diese kleine Randgeschichte uns für heute sagen wollen? Auf jeden Fall sollten wir gewarnt sein, denn Don Quijote aus La Mancha, das ist nicht nur ein Bild für die Anderen, die irgendwie irre und wirre geworden sind. Ein gutes Stück "Ritter von der traurigen Gestalt" steckt auch in jedem von uns. Das zu sehen und zu erkennen würde uns tatsächlich voran bringen im Kampf gegen die mächtigen Windmühlen unserer Zeit. 

P.S.: Natürlich, ich weiß, dass das hier jetzt etwas "off topic" ist und die Nachrichten den sonderbaren Pfarrer aus Emmerich und Kleve längst wieder vergessen haben. Aber die Nachrichten über die Entdeckung des Grabes von Cervantes und ein Besuch in Kleve förderten diese Gedanken zu Tage. Und warum sollte ich Sie nicht daran teilhaben lassen.

Freitag, 13. März 2015

Typisch Franz! Ein Papst "anderer" Art!

Genau um diese Zeit, um 19.05 Uhr vor nunmehr zwei Jahren war es soweit: weißer Rauch stieg auf und wenig später trat ein in jeder Hinsicht neuer Papst auf die Loggia des Petersdomes: „Brüder und Schwestern, guten Abend. Ihr wisst, dass das Konklave die Pflicht hatte, Rom einen Bischof zu geben. Es scheint so, als ob meine Kardinalsbrüder fast bis zum Ende der Welt gehen mussten...“ Mit diesen Worten begann das Pontifikat eines etwas „anderen“ Papstes. Wenige Augenblicke zuvor hatten zwei Namen für Aufregung gesorgt: Jorge Mario Kardinal Bergoglio und - Franziskus. Den argentinischen Kardinal hatten damals nur einige wenige Insider auf der Rechnung, obwohl sich später zeigte, dass er schon im Konklave acht Jahre zuvor viele Unterstützer hatte. 

Der Name Franziskus weckte unmittelbar Spekulationen. Noch kein Papst hatte bis dato den Namen des eigenwilligen Heiligen aus Assisi gewählt. Aspekte aus dessen Vita verwandelten sich sofort in Erwartungen an den „Neuen“ im weißen Papstgewand.

Das erste Wort des neuen Papstes galt – dem Alten. „Zuerst möchte ich für unseren emeritieren Bischof Benedikt XVI. beten.“ Mancher hat in den vergangenen zwei Jahren versucht, diese „beiden“ Päpste gegeneinander auszuspielen. Augenfällig und ohrenfällig waren die Unterschiede in der Persönlichkeit, im Auftreten, sogar in den – meist nur oberflächlich - wahrgenommenen Inhalten. Aber bei aller Unterschiedlichkeit hat der neue Papst zahlreiche Signale der Kontinuität gesetzt. Man denke an seine erste Enzyklika über das Licht des Glaubens, die im Grunde ein Werk zweier Päpste ist. Man denke an die herzlichen Begegnungen der Beiden und bedenke auch, dass Erzbischof Georg Gänswein den emeritierten wie dem amtierenden Papst verbindet. Alles Bemühen gewisser Akteure, den „alten“ Papst wenigstens gefühlsmäßig zu einer Art Gegenspieler aufzubauen, ist bis heute gescheitert. Der emeritierte Papst Benedikt XVI. lehnt es ausdrücklich ab, zum Schutzpatron der Traditionalisten in der Kirche erwählt zu werden und bleibt damit ganz auf der Linie seines Pontifikates. 

Der „Neue“ in diesem Amt machte und macht vieles anders. Papst Franziskus setzte zahlreiche Signale, für seine andere, neue Sicht des Papstamtes. Viel beachtet wurde, dass er aus dem Gästehaus Santa Martha nicht in die päpstlichen Diensträume umzog. Auch übernahm er manche symbolträchtigen Zeichen der vergangenen Jahrhunderte (und Jahre) nicht für sein Pontifikat. Er bevorzugte weiterhin einfache schwarze Schuhe (trotz des Symbolgehaltes der roten Papstschuhe), er trug schon mal eine schwarze Hose unter der weißen Soutane, legte weder Mozetta noch Fanon an und mied auch weitgehend liturgische Kleidung aus eher barocken Zeiten oder aber besonders kostbare Materialien. Eine gewisse Schlichtheit zeichnet seine liturgischen Gewänder aus. Was nicht bedeutet, dass dies automatisch auch preiswerter ist. Manche Kommentatoren wiesen süffisant darauf hin, dass die dem Papst bescheinigte „Bescheidenheit“ sich zumindest nicht in Euro und Cent ausdrücke. Während Benedikt eher zurückhaltend auf Menschen zuging kennt Franziskus keine Begegnungsängste und scheut keine Risiken. Wer das Glück hatte, die wenigen Bücher über den neuen Papst und sein bisheriges Leben übersetzt zu bekommen, konnte recht bald erkennen, dass dieser Mann einfach nur sich selbst treu blieb. Dass er anders war als sein Vorgänger hatte nur einen Grund: dass er blieb, wie er war. 

Seit einigen Tagen erscheinen eine ganze Reihe von kritischen bis „vernichtenden“ Artikeln über Papst Franziskus. Die inhaltliche Spitze war ein Text von Markus Günther in der FAZ, wobei sich Eingeweihte (u.a. auch der Leiter der deutschsprachigen Redaktion von Radio Vatikan, P. Bernd Hagenkord SJ) wunderten, dass eine renommierte Zeitung mit einem solchen „informationsfreien Meinungsstück“ aufwartet. Und fragten, ob angesichts der im Text enthaltenen inhaltlichen Fehler auch die Anfragen und Wertungen des Autors Gewicht beanspruchen könnten. 

Eigentlich war man bei Franziskus bisher keine „schlechte Presse“ gewohnt. Er kommt eher positiv rüber und wird von vielen Menschen auch so wahrgenommen. Wobei sich die positiven Auswirkungen auf das religiöse Leben in Deutschland trotzdem in Grenzen halten. Zu Recht weist Günther aber in seinem Artikel auf Kommunikationspannen hin, die auch in Deutschland Aufsehen erregten. Denken Sie nur an die „Karnickelgeschichte“, auf die sogar ein Kaninchenzüchtervertreter in Deutschland reagierte oder die Diskussion um „würdevolles Schlagen“ und zuletzt das Stichwort der „Mexikanisierung“ seines Heimatlandes (aus einem privaten Schreiben). „Niemand weiß, was Franziskus als Nächstes raushaut“, meint die FAS.

Mir kommt da unmittelbar ein Wort von Papst Benedikt XVI. in den Sinn, mit dem er seine faszinierenden Jesus – Bücher einleitet: „Ich bitte die Leserinnen und Leser nur um jenen Vorschuss an Sympathie, ohne des es kein Verstehen gibt." Wer vom Papst erwartet, dass er in einem Interview eine biologisch perfekte Aussage über den Geschlechtstrieb und das Paarungsverhalten von Kaninchen (oder gar über das deutsche Hauskaninchen) tätigt – der wird mit Recht enttäuscht sein. Der Papst hatte damals – auf die insistierenden Nachfragen - zum „unbegrenzten Vermehrungszwang“ bei Katholiken, denen die Verwendung von bestimmten Methoden der Empfängnisverhütung verwehrt wird, sicher etwas unpräzise geantwortet: Auch Katholiken bräuchten sich nicht „wie die Kaninchen“ zu vermehren. (Das Wort Karnickel gibt es im Italienischen gar nicht.)

Ähnlich war es bei der Generalaudienz, wo er eine Anekdote erzählte, in der es um den würdevollen Umgang zwischen Vätern und Kindern gehen sollte. Ich weiß nicht, ob der Papst mit den in Europa vorherrschenden Erziehungsstandards vertraut ist. Ich fürchte, dass ein Klaps auf den Po (vermutlich sogar mehr davon) in Argentinien und anderswo in der Welt noch zum Erziehungsstandard gehört. Wir können also feststellen, dass der Papst dies vermutlich nicht für grundsätzlich verwerflich hält und es „von zu Hause“ auch nicht anders kennt. Wir dürfen ferner vermuten, dass er selbst keine konkreten persönlichen Erfahrungen mit der Erziehung von Kindern hat und dass er davon ausgeht, dass dies in der Erziehung ab und an mal üblich ist. Und mir scheint auch nach der Lektüre einer Papstbiografie naheliegend, dass er selbst noch keine Kläpse verteilt hat. Dafür spricht auch die Zärtlichkeit, mit der er bei den Audienzen und Begegnungen auf Kinder zugeht. Ich glaube, keine Mutter und kein Vater hat Sorge, ein Kind in die Arme und Hände dieses Mannes zu geben. Mehr als diesen Erkenntnisgewinn sollte man also von dieser Aussage des Hl. Vaters nicht erwarten.

Was auch immer man über die Anekdote über das „Schlagen in Würde“ denken mag, daraus eine Zustimmung zu „schlagfertigen“ Erziehungsmethoden abzuleiten, dürfte falsch sein. Eher sollte man sich mit den anderen Worten des Papstes bei eben dieser Generalaudienz beschäftigen, wo es um einen sehr aktuellen Apell zur Übernahme der Erziehungsverantwortung durch die – hierbei noch viel zu wenig präsenten – Väter geht. 

Nun höre ich sie schon wieder schreien: „Papstverharmloser!“ „Papsterklärer!“ Ja, das will ich gerne sein und zwar in dem Sinne, den Papst Benedikt im Vorwort zum Jesusbuch erbat. Was mir in dall der kritischen Würdigung der „verunglückten“ Papstworte leider zu kurz kommt, ist die entsprechende Würdigung der vielen guten, motivierenden, aufbauenden, weiterführenden Worte. 

Es sind ja beileibe nicht nur die Kaninchenzüchter und die Verfechter der antiautoritären Erziehung, die dem Papst Vorwürfe machen. Viel schärfer sind die traditions(über)treuen Katholiken, im Spektrum zwischen Piusbruderschaft und beispielsweise Weihbischof Athanasius Schneider und Raymond Leo Kardinal Burke. Anders als sein Vorgänger neigt dieser Papst schon einmal zu spontaneren Gesten und Worten. Mit dem Vorteil, dass es kurz und prägnant wird, verständlich auch für Leute, die nicht „Insider“ sind, aber mit dem Risiko, dass es „interpretationsfähig“ ist. Und so tummeln sich in traditionstreuen Foren zahlreiche Papstexegeten, die darlegen, was der Papst in Wirklichkeit wolle, im Verborgenen vorbereite und im Hintergrund alles umstürzen wolle. 

Das geht im Extrem bis dahin, dass man ihn völlig ablehnt, um seine Demission bzw. sein baldiges Ableben betet, ihn als „falschen Papst“ bezeichnet... Diesen Geschmacklosigkeiten sind keine Grenzen gesetzt, wie ein kurzer Besuch in den Kommentarspalten der Seite katholisches.info problemlos belegen könnte. Im Interesse der eigenen geistlich – gläubigen Gesundheit sollte man hier aber nur kurz verweilen. Erschreckend, dass dieses Schundseite einigen Personen gut 24.000 Euro im Jahr wert ist. 

Am Papst scheiden sich die Geister. Einige Journalisten werfen ihm vor, dass er mit seinem neuen „Stil“ die Kirche spalte. Als Nachweis hierfür wird u.a. seine Distanz zu den Kräften in der Kurie benannt, die er einige Male deutlich korrigiert und kritisiert hat. Natürlich ist die Kurie ein veritabler Machtfaktor in der Kirche. Und der Papst ruft die Verantwortlichen und Mitarbeiter dieser Behörde dazu auf, ihr Wirken im Licht des Evangeliums zu reflektieren. Ich bin weit davon entfernt, ein „Vatikanist“ zu sein. Aber ich hoffe doch sehr (und ich glaube, berechtigt), dass die Berichte über gewisse Vorgänge im Kirchenstaat und seinen Behörden und Organisationen sehr übertrieben werden. Man kann darüber streiten, ob die klare Wortwahl des Papstes nicht diplomatischer sein könnte. Aber ich erkenne hierin durchaus auch die Stimme des Herrn, der gerade dort kein Leisetreter war, wo heute der Papst deutliche Worte findet; im Umgang mit den Religionsbeamten und den allzu selbstgewissen Gläubigen. 

Die etwas „mildere“ Variante zu der Behauptung, der Papst „spalte“ ist: Franziskus stifte „Verwirrung“. Worunter man so ziemlich alles verstehen kann. Letztlich geht das aber in eine ähnliche Richtung; man glaubt, wenn der Papst nur klar und sauber spreche, gäbe es keine Schwierigkeiten und keine Spaltungstendenzen. So einfach ist es wohl nicht. 

Wer eine Spaltung der Kirche erkennt, der steht auch in der Verantwortung, diese Spaltung zu überwinden. Die Rezepte, die dafür vorgetragen werden, sind meist einfach. Jeder muss sich fragen, ob er (oder sie) die mögliche Überwindung einer Spaltung einzig daran sieht, dass sich alle zu dem Weg bekennen, den man selbst für richtig hält. Möglicherweise gelingt es nur dann Spaltungen zu überwinden, wenn man bereit ist, auf andere Glaubensweisen zu hören, einander kennenzulernen und Versöhnung zu leben. Es ist eine alte Weisheit: „Wer nicht sammelt, der zerstreut.“ 

Ich finde es erschütternd, dass mit dem Verweis auf einige – vor dem Horizont der Probleme der Welt und der Verkündigung des Glaubens – marginale Randthemen die vielfältigen wesentlichen Worte des Hl. Vaters offensichtlich kein Gewicht mehr haben sollen. Diese Zuspitzungen sind – unverantwortlich!

Mit Papst Franziskus verbinden sich große Hoffnungen. REFORM, VERÄNDERUNG, NEUAUFBRUCH sind die Zauberworte. Und wie es zu beginnen hat, da haben viele Katholiken in Deutschland offenbar klare Vorstellungen: 
  • Aufhebung des Zölibats
  • Diakonat der Frau
  • eine Kirche mit weniger Geld und Macht
  • Zulassung der wiederverheirateten Geschiedenen zu den Sakramenten
  • Akzeptanz für alternative Lebensformen
  • u.s.w.

Je größer die Bedeutung dieser Themen für den liberalen Kirchenflügel, desto verbissener kämpft der „Gegenflügel“ um diese Themen. Jede unkonventionelle Formulierung des Papstes in diesen Themenfeldern wird aufmerksamst wahrgenommen und analysiert. Gerade jetzt zwischen den Synoden zu Fragen der Ehe und Familie fällt das auf. Das führt zu einer bedauerlichen Verengung der Diskussion und mir scheint, gerade dies ist das Anliegen des Papstes, solche Verengungen aufzuheben. Jedenfalls glaubt er nicht daran, dass die Aufhebung der Zölibatsverpflichtung einen nennenswerten Beitrag zur Lösung der Glaubenskrise in Deutschland leisten würde. Wenn einmal eine solche Entscheidung fallen würde, dann erst nach einer Neuausrichtung des katholischen Priestertums an Evangelium und Tradition. Und auch mit der Zulassung einiger Personen zu den Sakramenten ist weder deren Integration in die christliche Gemeinde geschafft, noch die Ehelehre der Kirche grundsätzlich in Gefahr.

Der Papst sagt: Gönnt euch wieder einen weiten Horizont! Wenn wir über die Ehe sprechen, dann schaut euch zunächst einmal die Schwierigkeiten an, unter denen Millionen von Paaren ihre Kinder aufziehen! Wie viele Väter und Mütter wissen heute noch nicht, was sie ihren Kindern übermorgen auf den Tisch stellen können? Wie viele Väter sind monatelang getrennt von ihren Familien? Wie viele Frauen leben in der alltäglichen Gefahr, einem Gewalt- oder Sexualverbrechen zum Opfer zu fallen. Schon früh hatte der Papst die Folgen des herrschenden Wirtschaftssystems kritisiert. Wirtschaftswissenschaftler warfen ihm vor, von Wirtschaft nichts zu verstehen. Aber muss er das, wenn er die „Tyrannei eines Wirtschaftssystems,“ beklagt, „das den Geldgott im Mittelpunkt hat und nicht die menschliche Person“? Natürlich kann man fragen, ob es Alternativen gäbe zum Kapitalismus. Aber wer würde ohne solche deutlichen Worte noch nach besseren Lösungen suchen? Weiter so, Franziskus!

Vor diesem Horizont der teils dramatischen Tatsachen und Hintergründe, die weit weg sind von den Fragen des Kirchen- und Eherechts stellt sich die Herausforderung, die Lehre neu in die heutige Zeit hinein auszusprechen und dies dennoch ganz im Sinne Jesu. Die Synodenväter sollten wahrnehmen, inwieweit das, was Jesus im Blick hatte, als er über die Ehe sprach dieselbe Wirklichkeit ist, über die wir heute sprechen. Möglicherweise hat das Konsequenzen, um dem Willen und den Worten Jesu heute gerecht zu werden. Dann klärt sich, auf welche Weise und mit welchen Worten wir heute sagen könnten: „Auch ich verurteile Dich nicht; aber sündige in Zukunft nicht mehr.“

Mit einer solchen, biblischen Haltung geht Papst Franziskus an seelsorgliche Situationen heran. Auf eine schwierige Situation antwortet der Papst nicht grundsätzlich mit einer lehramtlichen Aussage. Auch hier ist er sich selbst sehr treu geblieben. Ein Beispiel hierfür erzählt in diesen Tagen Radio Vatikan und zitiert aus einem neuen Buch der jüdischen Autorin Erika Rosenberg: „Als er Erzbischof von Buenos Aires war, da hielt er auch eine Messe am Bahnhof in einen Rotlichtmilieu für die Prostituierten. Eine Prostituierte hatte ihm darum gebeten einen Rosenkranz zu segnen und sie sagte zu ihm: ‚Pater, ich lebe in Sünde.’ Und er sagte zu ihr: ‚Wir leben alle in Sünde’. Und segnete ihren Rosenkranz. Ich habe sie, sie heißt Isabella, dann gefragt, was sich für sie seit dem Ereignis geändert hatte. Und sie sagte: ‚Viel!', denn sie hat wieder Hoffnung fassen können. Und sie merkte, dass Padre Jorge einer von uns ist.“

Diese kleine Begegnung ist typisch für ihn. Letztlich kommt es nicht (nur) darauf an, den Willen Jesu in Büchern, Gesetzen und Dogmen eindeutig darzulegen, sondern darauf, dem Willen Jesu im konkreten Leben – trotz mancher Brüche und Unvollkommenheiten - möglichst nahe zu kommen. Die Aufgabe der Theologie und des Lehramtes erschöpft sich nicht in der Darlegung dessen, was „katholisch“ ist. Entscheidender ist die Vermittlung und Übersetzung in die Sprache der Menschen. Es muss spürbar sein, dass die frohe Botschaft dem konkreten Leben und der Menschlichkeit (und selbstredend der Verehrung, Anbetung und Verherrlichung Gottes) dient. 

Ein päpstliches Schlüsselwort ist Nähe. Er möchte, dass wir nahe ran gehen an die Menschen, dass wir offen sind, auch für solche, die am Rande stehen. Er selbst geht voran und in diesem Zusammenhang ist seine Kritik an Klerikalismus zu sehen. Ein Priester, der sich für „besser“ hält als den Sünder von nebenan... wird nichts bewegen und niemanden zur Bekehrung führen. Selbst Franziskus selbst sieht sich als Sünder und meint das nicht nur rhetorisch. 

Papst Franziskus ist für mich nicht in die üblichen Kategorien zu stecken und kirchen“politisch“ nicht zu greifen. Das ist auch gut so. Mancher hat schon darauf hingewiesen, dass der Papst katholisch ist. Die Hoffnung, dass gerade er die europäischen, katholischen Reizthemen – losgelöst von einem weiteren Horizont – anpacken wird, ist illusorisch. Hier verorte ich auch den „Frust“, der sich in manchen Zeitungsartikeln aktuell Bahn bricht. Aber wer erwartet seriös nach zwei Jahren schon Lösungen? Der Papst kann Weichen stellen und nimmt das Große Ganze in den Blick. Vor allem verweist er auf die schwärenden Wunden der heutigen Gesellschaften und der globalisierten Welt: Armut, Ungerechtigkeit, Unterdrückung, Rassismus, Unfrieden, Missbrauch der Schwächsten, den Schutz des menschlichen Lebens, die Flüchtlinge in Lagern. Er rüttelt uns auf, wenn wir uns allzu bequem in der Nachfolge des Gekreuzigten eingerichtet haben, er rüttelt auch die auf, die sich allzu bequem in gefestigten (theologischen) Weltbildern und gemütlichen Lagern niedergelassen haben. 

Auch Jesus hat manche seine Jünger zum „Murren“ gebracht, mit der Folge, dass viele sich zurückzogen, eben weil sie wollten, dass alles beim Alten bleibt. 

Natürlich ist der Papst nicht selbst Jesus Christus und nicht jedes seiner Worte sakrosankt und jede Handlung der Kritikwürdigkeit enthoben. Aber vor der Kritik sollte die Frage lauten: Kann ich etwas daraus lernen? Wo der Widerstand am Lautesten ist und die Veränderungsschmerzen am Größten, da steckt sicher mehr als nur ein Körnchen Wahrheit. Wir sollten bereitwilliger sein, auch bittere Pillen zu schlucken. 

Es ist nicht möglich, der Komplexität dieses Papstes und seines Pontifikates in einem einzigen kleinen und dennoch langen Artikel gerecht zu werden. Auch ein einziges Buch dürfte hier nicht ausreichen. Ich möchte klar bekennen: mich verwirrt Papst Franziskus überhaupt nicht! Möglicherweise vermag er nicht immer angemessen seine Anliegen zu vermitteln. Aber mich bestärkt er nach wie vor im Glauben. Ich empfinde ihn als zutiefst spirituellen Menschen. Und seine Worte und sein Handeln erinnert mich häufig an Worte des Evangeliums. Ich teile nicht das tiefsitzende Misstrauen mancher Mitchristen. Ich hatte es auch bei Papst Benedikt nicht und beim Hl. Papst Johannes Paul II. ebensowenig. Der Papst ist der Papst. Ich schulde ihm Ehrfurcht, Hochachtung, Aufmerksamkeit, ab und an auch Gehorsam. Aber auch er macht Fehler und auch er ist ein Sünder. 

Dieser Papst hat so manchen guten Aufschlag gemacht. Nun ist es an uns, den Ball aufzunehmen und weiter zu spielen. Wir sind keine Filialen von Rom, auch uns ist der Hl. Geist verheißen, ohne Umwege. Wir sind gefragt, Kirche voran zu bringen und die Distanz zwischen vielen Menschen und der Kirche nach Kräften und mit kreativen Ideen und persönlichem Engagement abzubauen. Das Evangelium und die Erfahrungen der Kirche durch die Jahrhunderte bieten uns dafür ausreichend Sicherheit, um nicht ins Strudeln zu geraten und den Kirchenbau nicht auf Sand (oder in den Sand) zu setzen. Und als guter Hirte wird Franziskus uns mal voran gehen, mal mitten unter uns sein und mal hinter den Gläubigen her gehen. Meist finden sie den Weg und im Zweifel ist er ja da, um sie zurück zu führen an die Quellen des Glaubens.

Samstag, 28. Februar 2015

Wie "extrem" (rechts) sind (wir) Katholiken eigentlich?

Es war für mich ein verstörendes Bild, das der Emmericher Priester Paul Spätling da vor einigen Wochen abgab. Ein "echter" Priester mit Soutane und Birett - inmitten einer Demonstration von erkennbar Rechtsextremen und Leuten im "Hogesa" – Shirt. Vor dieser Szenerie trägt er eine Ikone, neben ihm geht ein Mann mit einem Kreuz in der Hand! Dahinter ein Transparent, das für den obscuren Blog "politically incorrect" wirbt. Einen Augenblick lang dachte ich: wie mutig, mitten unter die Missbraucher des Begriffs "christliches Abendland" zu gehen und dort zu bekennen, was wahrhaft christlich ist, mit zentralen Symbolen unseres Glaubens! Eine stille, friedliche Demontration mit Gottesmutter und Gekreuzigtem gegen jede Menschenfeindlilchkeit und Agressivität! Aber nur Minuten später zerstob diese Illusion, als der "Kaplan" als Redner auf die Kundgebungsbühne kletterte. Und statt nun mahnend den Finger zu heben und die Teilnehmer zu Gebet und Gottesdienst einzuladen ... folgte ein Aufruf zum Widerstand, ja zum Kampf gegen Muslime und Türken, wie einst in der Schlacht bei Lepanto. Aber mehr noch als einzelne Inhalte dieser Rede (man darf sicher den Dompropst von Köln oder die Kanzlerin kritisieren) verstörte mich der Anblick eines katholischen Priesters unter lauter politisierten und grölenden Demonstranten. 

Ich glaube, dass dieses Bild, verbunden mit der Postulation eines "christlichen Abendlandes" durch Pegida; Transparente, auf denen Christen Pegida grüßen; "Kreuzfahnen" und in Nationalfarben verunstaltete Kreuze, manche Journalisten darauf aufmerksam und dafür sensibel gemacht haben. Sie schauten genau hin, ob es zwischen Pegida-Parolen und christlichem Glauben möglicherweise Schnittmengen geben könnte. 

Ich teile nicht den Verdacht, den ein katholischer Blogger aufgebracht hat, dass es sich hier um eine Art "Übersprunghandlung" handele; dass Journalisten statt der "schwierigen Baustelle": Islam und Islamismus nun die christlichen Fundamentalisten in den Blick nähmen. Es ist eher schon ein Stück selbst verschuldetes Elend.

Schon vor dem Spätling – Auftritt war mir aufgefallen, dass in den sozialen Netzwerken durchaus Sympathien da waren für diese neue Bewegung, obwohl deren Teilnehmer und Organisatoren erkennbar nicht aus dem kirchlichen, sondern aus ganz anderen Milieus kamen. In (mindestens) vier Punkten war aber eine Schnittmenge erkennbar, nämlich: 
  • In der Skepsis gegenüber dem islamischen Glauben und seinen Anhängern. Hier werden gerne die islamischen und islamistischen Extremisten und deren Unterdrückung und Verfolgung christlicher Minderheiten als Beleg dafür gewertet, dass der Islam selbst "vom Bösen" ist. Bedauerlicheweise gibt es in der traditionell-konservativ gläubigen Szene einige Protagonisten, die jegliche historisch und geistesgeschichtlich notwendige Differenzierungen vermeiden. Das steht im auffallenden Widerspruch zur oft feinziselierten Argumentation, wenn es um "katholische" oder "liturgische" Themen geht.
  • In der Sorge um die traditionelle Gestalt von Ehe und Familie und gegen die als unzulässige Gleichmacherei betrachtete "Gender-Bewegung".
  • In der tiefen Unzufriedenheit mit den "Leistungen" von Politik und Politikern sowie Presse und Journalisten. Für diese hat der traditionell – konservative Katholizismus in den letzten Jahrzehnten deutlich an Bedeutung und positiver Aufmerksamkeit verloren. Der Umgang der Presse mit dem Limburger Bischof erscheint vielen so, dass der Vorwurf "Lügenpresse" (auch unabhängig von dieser speziellen Wortwahl) in zahlreichen Beiträgen erhoben wurde.
  • Die Schwächung einer christlichen Identität in den letzten Jahrzehnten wird durchaus auch Zuwanderern und vor allem denen unter ihnen zugeschrieben, die nicht dem christlichen Kulturkreis entstammen. 


All dies erklärt möglicherweise die wütenden Reaktionen aus katholischen Kreisen auf die "Licht-Aus-Aktion" des Kölner Domkapitels und auf das Predigtverbot für Pfarrer Spätling durch den Bischof von Münster. Inzwischen haben jedoch auch die eher traditionell-konservativ-frommen Katholikinnen und Katholiken festgestellt, dass Pegida alles andere als eine Bewegung ist, mit der man sich aufgrund gewisser Schnittmengen in der Zielsetzung gemein machen muss. 

Ich denke, wir sollten vorsichtig und aufmerksam sein, wenn (National-)Konservative (in sozialen Netzwerken, Medien, Initiativen und auch Parteien) versuchen, die Kirche zu umarmen oder gar zu vereinnahmen. Auch hier gilt: die Feinde unserer Gegner sind nicht automatisch unsere Freunde. 

(Es spricht für eine gewisse Blindheit bei Pfarrer Spätling, dass er (zu) lange nicht gemerkt hat, mit welchen Leuten er da durch Duisburg gezogen ist. Auch sein kreuztragender Demonachbar ist nicht irgendwer, sondern ein – inzwischen nicht mehr aktiver – Juraprofessor aus Kevelaer, der sich vor einigen Jahren mit einem Buch über die einzig wahre Regierungsform (ein katholisches Königreich) für Deutschland hervorgetan hat. Hier trifft Prof. Dirk Budde möglicherweise eine Mitschuld, den etwas weltfremden Priester, dessen Wirken von den Münsteraner Bischöfen seit Jahren geduldet wird, auf politisch glitschiges Parkett geführt zu haben. In der Folgewoche hat dieser "Juraprofessor" von der Pegida-Bühne die Grüße und bleibende Verbundenheit des Priesters ausrichten lassen. Ich habe es nicht überprüft, aber mein vernichtendes Urteil über diesen Auftritt würde ich gern revidieren, wenn einige Pegida – Anhänger nun regelmäßig zur tridentinischen Messe in die Kapuzinerkirche nach Kleve kämen. Aber offensichtlich wäre das der Ernstfall eines "christlichen Abendlandes" und soweit möchte man doch nicht gehen.)

Jetzt haben wir den (rechten) Salat, wie ein anderer Blogger postete und dabei ausführte: "Im Gleichschritt" gingen dieser Tage "Spiegel und BR gegen erkannte Feinde vom rechtskatholischen und rechtsevangelikalen Lager vor." Er erkennt darin gar eine Koalition mit "linkskatholischen und linksevangelischen Protagonisten". Matthias Matussek stellte bei einer Tagung christlicher Führungskräfte gleich die Gretchenfrage, ob das Christentum überhaupt noch zu Deutschland gehöre. Und einige "Opfer" einer tendentiösen Reportage im Bayrischen Rundfunk über eine "APO von christlich-rechts" starteten gemeinsam mit kath.net eine Protestwelle und sprachen von "Verleumdungskampagne". 

Bestimmte Namen werden in den Netzwerken zu Feindbildern, man springt unmittelbar mit entsprechenden Kommentaren an, wenn z.B. von der Christ und Welt – Frau Christiane Florin die Rede ist. Gegen den FAZ-Redakteur Daniel Deckers werden gar schon Artikel geschrieben, in denen man sehr persönlich wird und seine Biografie ausdeutet und auch Liane Bednarz und Andreas Püttmann wissen von Haßmails und Anfeindungen zu berichten, obwohl beide nicht gerade dem progressiven Kirchenflügel angehören. Ähnliches berichten manche Pressesprecher deutscher Bischöfe, wie Ulrich Lota oder Stephan Kronenburg. 

Man kann sicher sagen, die traditionell-konservativ-fromme Szene ist im Aufruhr und das nicht erst seit Pegida. All das brachte den Leiter des Augsburger Gebetshauses, Johannes Hartl dazu, zu mahnen, auf welche Weise, in welchem Stil und mit welchen Worten wir Katholiken unsere Themen setzen und wie wir miteinander umgehen. 

Es lohnt es sich wirklich, diesen Brief des – eines "Linkskatholizismus" völlig unverdächtigen Johannes Hartl (http://kath.net/news/49582) zu lesen: "Selten habe ich die geistliche Anspannung in unserer Gesellschaft so sehr wahrgenommen wie in den letzten Wochen." ... "Und ich spüre wie die Wut zunimmt." ... "Das Problem ist, dass aus Wut selten gute Reaktionen kommen…" ... "Und doch gibt es eine Art, die Wahrheit zu sagen, die die ausgesagte Wahrheit selbst trübt. Man kann als Christ auf eine Art und Weise die Wahrheit sagen, die das Zeugnis von Jesus insgesamt verdunkelt. Und mein Verdacht ist: wo wir aus Wut oder Angst heraus handeln, passiert das besonders oft. Nach einigen Wochen von Beobachtung und Gebet komme ich zu dem Schluss, dass der Ton bedeutend wichtiger ist, als wir manchmal ahnen. " ... "Doch ich glaube, dass es viele Menschen gibt, die in ihrem Herzen der Wahrheit gegenüber offen sind. Doch nicht selten sind sie von der Härte und dem Perfektionismus abgeschreckt, der bei vielen von uns Christen spürbar wird." Und dann folgen noch beachtenswerte Worte über Pegida, über Pfr. Olaf Latzel und eine Dialogkultur, die es den Journalisten und den Kirchenskeptikern dieser Tage schwerer machen würde, uns Katholiken in eine bestimmte Ecke zu stellen. Dafür tragen wir also auch ein Stück Verantwortung.

Ich denke, es gibt keinen Grund, sich als "Opfer" gerieren. Natürlich ist mancher Angriff unberechtigt und aus mancher "linken" Ecke wird scharf nach "rechts" geschossen. Dem gilt es zu widersprechen und die christlichen und humanen Wurzeln unseres Engagements aufzudecken. So manchen heißen Luft(ballon) kann man sicher ablassen. Zudem, nicht jede Kritik an der Kirche und ihren Protagonisten ist völlig unberechtigt, selbst wenn die "Falschen" sie falsch (oder schief) formulieren. Es sind nicht immer die "bösen Anderen", die von der "Lügenpresse", auch nicht die angebliche Taqiyya der Muslime oder die "liberalen" Bischöfe und Kardinäle wie Bode und Ackermann, Kasper und Marx.

Auch wenn uns manchmal ein scharfer Wind ins Gesicht bläst: wir haben die Chance uns zu wehren und dem Sturm Einhalt zu gebieten. Anders als viele, die in Ländern wie Irak, Syrien, Libyen, Ägypten oder Nigeria, die zu unschuldigen, wehrlosen Opfern werden. Da sind wir noch lange nicht und dorthin werden wir – auch durch das Selbstverständnis der der Demokratien in denen wir leben dürfen – in absehbarer Zukunft nicht gelangen, allen "Unkenrufen" zum Trotz. Das macht mir Mut, meine Meinung weiterhin öffentlich zu sagen (selbst wenn sie nur von wenigen gehört wird).

Offensichtlich hat Hartl einigen Glaubensgeschwistern einen Spiegel vorgehalten, denn sogar Michael Schneider-Flagmeyer vom Forum Deutscher Katholiken, der gemeinhin einen sehr spitzen Stift verwendet, fühlte sich gemeint und antwortete öffentlich: "Ich habe schon länger erkannt, dass ein zu harter Ton die Musik des Evangeliums verzerrt und unser Zeugnis unglaubhaft werden lässt." Vielleicht ist diese Erkenntnis es wert, häufiger einmal in die Tat umgesetzt zu werden. Und sie öffnet mir auch einen weiteren Horizont. Schade, dass der Autor den Rest seines Briefes letztlich dafür verwendet, seine eher "harte Tour" auch für die Zukunft zu rechtfertigen. 

Es ist nicht so, dass derjenige, der mich ärgert (oder über den ich mich ärgere) meine heftige Gegenwehr auch verdient. Nicht immer ist der Überbringer einer "schlechten Nachricht" oder Vertreter einer "anderen Meinung" auch ein Täter, gegen den ich mich zu wehren habe. Wenn ich mich ärgere, sollte ich vielleicht doch erst mal nach innen schauen, ob es nicht ein Spiegel ist, der mir zu Recht vorgehalten wird. Das ging mir so bei vielen Reaktionen auf die Worte des Papstes über die fünfzehn geistlichen Krankheiten. Wenn ich mich in diesem Spiegel anschaue, dann spüre ich, wie ich auf seine Worte reagiere, mal mehr, mal weniger. Und dort, wo ich am Meisten getroffen bin ... da ist vielleicht auch eine Wahrheit, die ich beherzigen sollte. Nicht, indem ich dem Papst Vorwürfe mache, weil er etwas "Falsches" über mich gesagt hat oder es überhaupt für unmöglich halte, so mit seinen Mitarbieten zu reden. Oder wenn ich an den Aufsatz von Andreas Püttmann denke, der beklagt hat, dass der christliche Glaube nicht gegen extrem "rechtes" (und linkes) Gedankengut immunisiere und dass er immer mehr in Sorge gerate, wohin die traditionell-konservativ-fromme Szene der Katholiken steuere. Ob man diesen "Spiegel" mit den Worten, dass dieser in "finsterster Weise diffamierend" schreibe zerschlagen muss, wie es Elsa in ihrem Nachtbrevier tut? 

Ich sehe deutliche Zerreißkräfte in der Kirche, insbesondere auch in Deutschland. Ich schätze die traditionell-konservativ-fromme katholische Szene sehr. Häufig finde ich anregende Gedanken, großes Engagement, tiefe Frömmigkeit, fruchtbaren Austausch und hilfreiche Rückmeldungen, die mir viel bedeuten. 

Wenn ich auf die Kirche insgesamt schaue, sehe ich neben den Frommen und Aktiven zahlreiche Menschen, die zwar einen mehr oder minder intensiven oder lockeren Kontakt zur Kirche haben, den "vollen Glauben" aber nicht mehr mit uns teilen. Für viele Menschen wird "gelebte Kirche" immer unwesentlicher. Die Lebensbedeutung der Kirche nimmt im Grunde von Tag zu Tag ab und wir müssen uns fragen, ob wir nicht auch dazu beitragen, mit unserer Streitkultur, mit unserer Art für bestimmte Themen einzutreten (und andere Themen zu ignorieren) und auch mit unserer Art, auf "Fernstehende" zuzugehen, seien es GRÜNE, Liberale, Agnostiker, Atheisten, Protestanten, "Linke" oder Kritiker aus dem "eigenen Lager": 

Leider ist einigen unter "uns" nicht einmal der Papst mehr "sakrosankt", geschweige denn die Bischöfe und Kardinäle deren jeweils eigenständiges Lehramt eigentlich als Garant für eine gewisse katholische Einheit dienen sollten. Auch daher sorge ich mich um die Zukunft der Kirche in Europa. 

Es dürfte doch klar sein, dass die traditionell-konservativ-Frommen in der Kirche am Ende "gewinnen" werden. Denn sie stellen ja eine Art "Markenkern" der Kirche dar. Sie repräsentieren eine Idealgestalt von Kirche, an der kein Bischof – und sei er noch so liberal – vorbei kann. Wenn sie dann noch treu zum päpstlichen Lehramt stehen, haben sie noch dazu ein geistliches und wirkliches Machtzentrum an ihrer Seite. Sie sind noch da, wenn viele andere längst gegangen sind. Da mag "Kirche von unten" noch so viele Mitglieder gewinnen, Unterschriften sammeln und "Gefällt mir" auf ihrer facebook-Seite generieren. 

Aber können wir das wirklich wollen? Wollen wir eine Kirche der Reinen, einen "Heiligen Rest", ein Idealbild von Kirche, dass auch an anderer Stelle beschworen, idealisiert und teils in die Vergangenheit zurückprojekziert wird? Die Frage ist, wie viele Menschen können wir mitnehmen und mit welcher "Bandbreite" an Überzeugungen und Lebensformen darf man noch dazu gehören?

Nachdenklich hat mich eine Bemerkung von Christiane Florin gemacht, die sie auf einem SWR – Podium gesagt hat: "Auch im Zeitgeist kann der Hl. Geist wehen." Und eigentlich müßte man das noch erweitern: "Auch in kritischen Anfragen und in harter Kritik kann der Hl. Geist wehen."

Unter den Bedingungen der postmodernen Kultur wird es eine breite Einigkeit in den Überzeugungen angesichts einer zunehmend "bunteren" katholischen Kirche nicht mehr geben. Dazu fällt die Bandbreite der Meinungen in der Gesellschaft zu weit auseinander. Auch die Kultur insgesamt wird vielfältiger, was nicht allein auf Zuwanderung und Globalisierung zurückzuführen ist.

Als treue Katholiken bekommen wir da manchmal mehr Aufmerksamkeit als uns lieb sein kann. Auch von denen, die eine andere politische Agenda haben. Da werden dann die spitzen Waffen der Politik ausgepackt ... und wir sollten dann nicht auch direkt zum Degen greifen sondern anders antworten. Weil wir genau beobachtet werden, haben wir besonders viel Verantwortung für das Erscheinungsbild dieser unserer geliebten katholischen und apostolischen Kirche. 

Sollten wir überzeugten Katholiken nicht gerade eine Kirche der Vielfalt anstreben und alles dafür tun, dass eine legitime Bandbreite katholisch-traditionell-konservativ-frommer und liberal-progressiv-kirchendistanzierter Menschen in der Kirche Raum und "viele Wohnungen" vorfindet? Natürlich ist es unbefriedigend zu sehen, dass Menschen etwas für unwesentlich halten, was für uns bedeutsam oder gar heilig ist. Und dass sie trotzdem für sich beanspruchen irgendwie "katholisch" oder "christlich" zu sein. Daher sollten wir uns auch nicht abhalten lassen, die "frohe Botschaft" zu verkündigen. Aber wir haben auch eine Verantwortung dafür, dass die Kirche "anziehend" und "gastfreundlich" erscheint. Nur wenn wir auf diese Weise den Boden bereiten kann die Saat des Evangeliums aufgehen. Wir sind dafür verantwortlich, gute Saat auszusäen. Die Wachstumskräfte kommen von Gott allein, von einem Gott, der Unkraut und Weizen zusammen wachsen läßt. Und der uns die Frage stellt, ob wir es sind, die "Spreu vom Weizen" trennen – oder ER. Das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg kann uns vor Augen führen, dass auch diejenigen, die aus menschlicher Perspektive wenig geleistet haben vor Gott Gnade finden können. 

Eine solche Haltung, ein solcher Umgang mit Menschen wird uns des Verdachts entheben in irgendeiner Weise "rechts" und "extrem" zu sein, nur weil wir an Prinzipien festhalten, uns auf Gott berufen, das Lebensrecht verteidigen und die Schöpfung schützen, für Gerechtigkeit und Frieden eintreten und den Armen die frohe Botschaft verkünden. Wir sollen "Salz der Erde" sein und keine überscharfe Chilischote. Im Idealfall helfen wir mit, dass die Menschen Geschmack an einem Leben in der Nachfolge Jesu finden können. Wie sie die Zutaten zusammen stellen – das legt Gott in ihre Hand.

Ganz offensichtlich ist auch Bischof Oster von Passau mit ähnlichen Fragen unterwegs: www.facebook.com/permalink.php?story_fbid=1560157827587371&id=1399859893617166&substory_index=0

Elsa erregt sich im Nachtbrevier über viele... http://elsalaska.twoday.net/stories/1022402197/

Antwortbrief von Michael Schneider-Flagmeyer an Johannes Hartl: www.kath.net/news/49625

Gedanken von Andreas Püttmann über Kirche von rechts:
www.christundwelt.de/detail/artikel/die-moralpaechter/
www.christundwelt.de/detail/artikel/die-rechtsausleger/

Der BR-Beitrag zur angeblichen "APO von christlich-rechts": http://cdn-storage.br.de/iLCpbHJGNL9zu6i6NL97bmWH_-bP/_-JS/52bH_Aky/150219_2003_radioThema_APO-von-christlich-rechts-Wie-sich-unter-de.mp3