Samstag, 18. Juli 2020

Du musst draußen bleiben! - die Botschaft der Gitter

Meine Affinität zum Klosterleben ist ja Manchem hier schon vertraut. So nehme ich mir ab und an einige Tage frei, um im Umfeld eines kontemplativen Klosters Zeit für Glaubensdinge zu haben. Die Gebets- und Gottesdienstzeiten im Kloster geben dafür einen guten Rahmen. 

In diesem Corona-Jahr wollte ich nicht so weit fahren, daher war ich froh, dass die Benediktinerinnen vom Heiligsten. Sakrament in Köln-Raderberg noch ein Gästezimmer im Dachgeschoss frei hatten. Nach der Morgenmesse konnte ich mich dann aufs Fahrrad schwingen und geistliche Orte in Köln besuchen. Und es hat sich gelohnt! Ihr werdet in den nächsten Tagen mehr davon lesen und sehen. 

Unter Anderem deswegen war es ein anregender Ausflug: 
Vor Kurzem wurde in Köln nämlich ein neues großartiges Kunstwerk präsentiert und eingeweiht. Nein, ich meine nicht das neue Kirchenfenster von Prof. Markus Lüpertz in St. Andreas. Darauf komme ich noch. Nein, ich meine das neue, schmiedeeiserne Gitter an Nordquerhausfassade (was für ein schönes Wort) des Kölner Doms. Für „normale“ Leute – das ist die Seite zum Hauptbahnhof hin. 

Da ist nun eine extrem schöne Schmiedearbeit zu besichtigen. Ein kürzlich leider viel zu früh verstorbener Freund von uns war Schmied mit Leib und Seele. Ein echter Künstler! Und daher weiß ich inzwischen die Schmiedekunst sehr zu schätzen. Man geht ja oft achtlos an Gittern vorbei. Aber seit ich Lutz kenne, habe ich immer noch mal genauer hingesehen. 

Ein Gitter an der Domfassade war ja wirklich bitter nötig. Wer erinnert sich nicht an die Aktion der Roten Funken, der Kölner Karnevalisten, die den Dom 2016 „umarmt“ hatten, um ihn gegen Vandalismus und Wildpinkler zu schützen. In der Tat sind diese Seiten des Doms sensible Plätze und die Schäden, die hier von Betrunkenen und sonstwie Gestörten angerichtet wurden sind immens. 
Ihre Verbundenheit mit der Kirche wollten mit einem ähnlichen Zeichen im vergangenen Jahr auch die Kölner Frauen mit einer herzlichen Domumarmung zeigen (verbunden mit der Forderung, Frauen in der Kirche Zugang zu Ämtern zu gewähren). 

Geschaffen hat das neue Gitter der Kunstschmied Johannes Nagel, der schon am Gitter auf der gegenüberliegenden Seite des Domes beteiligt war, das sein Vater Paul Nagel 1996 fertig stellte. Man merkt, dass die Gitter eine verwandschaftliche Beziehung haben. Das neue Gitter steht dem vorhandenen Gitter am südlichen Querhaus in Nichts nach. Großartige Schmiedekunst mit putzigen Details. Zeigt das ältere Gitter die Silhouette eines Bischofs mit abwehrender (oder mahnender) Hand, so wirkt die hier präsente Silhouette des Dompropstes Gerd Bachner eher freundlich und gemütlich. Insider wissen, dass Bachner einmal die Kreuzblume des Domes in 157 m Höhe bestiegen hat und dass diese Darstellung auch daran erinnern soll. Überhaupt zeigt das Gitter viele florale Motive und die Silhouette des Domes mit der Jahreszahl 2020. An den verstorbenen Vater des Künstlers erinnert ein auf dessen Entwurf zurückgehender Rabe, kombiniert mit einer Figur des tanzenden Todes, Symbol der Sterblichkeit aber auch der Auferstehungshoffnung.

»Meine Aufgabe habe ich darin gesehen, einerseits einen schützenden ›Schleier‹ vor den Dom zu stellen, den man im besten Fall ›nicht sieht‹“ und einen „verlorenen Zwischenbereich, beim Übergang vom öffentlichen zum liturgischem Raum, wiederherzustellen«“

Mir tut der Schmied leid. Denn die Vorstellung seines Kunstwerks (an dem er mit seinen Mitarbeitern sicher viele Monate mit aller Kraft gearbeitet hat) kam in der Öffentlichkeit nicht gut an. Angesichts von Coronakrise, Kirchenkrise und der anhaltenden Diskussion um die Rolle der Frau in der Kirche und notwendige Reformen weiht das Erzbistum Köln feierlich ein Gitter ein. Viele hielten das für eine gelungene Satire des „Postillion“. 

Maria 2.0 protestierte während der Gittersegnung mit dem Slogan: "Segnet Menschen, keine Gitter!" und sogar auf katholisch.de war zu lesen: „Während anderswo die beispiellos hohen Kirchenaustrittszahlen diskutiert werden, segnet in Köln anlässlich des Patroziniums der Hohen Domkirche St. Petrus der Dompropst emeritus höchstselbst – ein Metallgitter.“ und „Die Gitter-Segnung sollte wohl schöne Bilder liefern. Fromme volkskirchliche Folklore, eine Kernkompetenz der Kirche. Bezeichnend ist, was die von der Pressestelle des Doms verbreiteten Bilder zeigen: Eine Gruppe älterer Herren in schwarz, die sichtlich Freude an ihrer kleinen Feier haben und mit sich zufrieden sind.“

Was soll man sagen? Ich kann nach einer Woche in Kölner Kirchen das Fazit ziehen: Wenn sie etwas können in Köln, dann sind es Gitter! „Köln ist groß in Gittern!“

Aber ich will es mir nicht allzu billig machen, was die Gitter angeht. Schließlich durfte ich in dieser Woche manche dieser Gitter durchschreiten, vor manchen Gittern musste ich stehen bleiben und durfte nicht hindurch, durch andere Gitter konnte ich Einblick nehmen. Manche Stunde habe ich vor oder hinter Gittern verbracht und konnte mir einige Gedanken dazu machen, ob es wirklich so ist, dass die Kirche sich hinter Gittern verschanzt, mit mentalen und theologischen Gittern Menschen aussperrt und ausgrenzt oder ob gar manche Kirchenleute besser hinter Gitter gehören. 

Auch dürfen wir nicht naiv sein. Kirchen brauchen Schutz. Gerade die vielen Fälle von Vadalismus in Frankreich, aktuell auch die Brandstiftung in Nantes zeigen, dass nicht jeder Besucher einer Kirche ein harmloser Beter ist. Aber diese sind noch immer der beste Schutz, wenn sie ein Auge auf ihre Kirche haben. Daher kommt es darauf an, dass möglichst viele Menschen sich mit ihrer Kirche identifizieren, dass sie dort mit ihren Sorgen, Hoffnungen, Plänen und Meinungen ein Wirkliches zu Hause haben. Es ist auch schön zu sehen, wenn Menschen für ein kurzes Gebet und eine Kerze in einem bestimmten Anliegen ihren Alltag kurz unterbrechen. Wie schön ist es, wenn Menschen die Kirche in ihre Mitte nehmen und sie „umarmen“. Ein Gitter macht diese Geste und damit das Engagement der Menschen überflüssig. Auch das ist ein Signal, das man nicht leichtfertig senden sollte. 

Es ist so: Gitter senden psychologisch Signale aus. Das Gitter an der Südquerhausfassade des Domes z.b. hat mich schon immer irritiert. Angesichts des imposanten Gebäudes verschwindet es in der Wahrnehmung tatsächlich zunächst. Tritt man aber näher, so hält es einen deutlich auf Abstand. Da finde ich es in Münster (und andernorts) besser, dass man den Dom von verschiedenen Seiten betreten kann. In Köln muss wohl – aufgrund des touristischen Andrangs – der Zutritt besser geregelt werden. Trotzdem, es ist bleibt eine ambivalente Erfahrung. Ein Gitter ist nicht einfach ein funktionaler Gegenstand, nicht nur ein Ding sondern ein Symbol. Daher war es schön, bei der Amtseinführung des Kölner Erzbischofs Wölki einmal diesen sonst verschlossenen Raum betreten zu dürfen. Ich weiß natürlich, dass sich alle Gitter in Köln zu gewissen Zeiten und für gewisse Leute öffnen, die eine Aufgabe und einen Schlüssel haben. Aber die Perspektive eines nicht privilegierten Besuchers halte ich durchaus für bedenkenswert für all jene, die über Schlüsselgewalt verfügen. 

In fast jeder Kirche Kölns findet sich im hinteren Bereich ein mehr oder minder altes und kunstvolles Gitter. Eine der rühmlichen Ausnahme ist die völlig gitterfreie romanische Kirche St. Kunibert. Meist sind diese Gitter geöffnet, aber in einzelnen Kirchen sind sie beinahe immer geschlossen. Es sei denn, der inner(st)e Zirkel versammelt sich hinter ihnen zur Messe. Als Kirchenbesucher oder Tourist steht man vor diesem Gitter und kann das Innere der Kirche nicht betreten. Man kommt zwar rein (wenn man die großen Tore durchschritten hat), aber dann geht es nicht weiter. Auch Plätze der Andacht sind nicht immer vorhanden. Manchmal hat man einen der hässlicheren Altäre nach hinten gestellt. Wenn man Glück hat, findet man ein schönes Marienbild an dem Kerzen entzündet werden können. Immerhin. Man muss dem Hl. Alfons geradezu dankbar sein, dass er uns mit seinen Redemptoristen und deren Gemeindemissionen das Gnadenbild der „Gottesmutter von der immerwährenden Hilfe“ vermittelt hat. Davor kann man oft andächtig eine Kerze anzünden oder auch schon mal vor einer Antoniusfigur oder dem in Köln sehr beliebten Bild des Apostels Judas Thaddäus. 

Das Zeichen eines geschlossenen Gitters ist allerdings fatal. Wenn ich hinten in der Kirche bleiben muss, dann fühle ich mich ausgeschlossen und nicht zugehörig erst wenn mich mindestens das Mittelschiff der Kirche umschließt dann bin ich wirklich drin. Besonders ärgerlich sind da für mich die Gitter in St. Mariä Himmelfahrt (hinter dem Hauptbahnhof) und St. Aposteln, eine der 12 romanischen Kirchen am belebten Neumarkt. Da bin ich gleich mehrfach hingefahren und kam doch nie hinein. Im Kirchenraum gab es meist Vorbereitungen für geistliche Events – aber niemand nutzte die Gelegenheit den Raum für Beter freizugeben – obwohl doch „Aufsicht“ vorhanden war. Ich kann nicht sagen, ob das immer so ist. Ich fand es extrem enttäuschend. Und sehr symbolisch!

Dabei habe ich kaum ein Problem mit der Tatsache, dass die meisten Altarräume nicht frei begangen werden können. Das ist zwar auch schade, weil hier häufig interessante geistliche Kunst aufbewahrt wird. Aber der Altarraum ist schon ein heiliger Ort, der mit einer angemessenen Andacht aufgesucht werden sollte. Selbst dort, wo es leicht möglich war (in St. Ursula und St. Gereon) empfinde ich diesen Raum als „heilig“ und betrete ihn nicht einfach so. Eher zum Gebet. 

Hier kann ich ja sogar einem Lettner etwas abgewinnen. Im Mittelalter teilte dieser die Kirchen in unterschiedliche Bereiche. Der eigentliche Altarraum war nur für die Ordensschwestern oder Stiftsherren zugänglich, hier wurde die Messe gefeiert. Der Lettner diente unterschiedlichen Zwecken. In Köln finden sich in den Kirchen St. Maria im Kapitol und St. Pantaleon zwei solche Lettner. Beide dienen als Orgelbühne und Baldachin über dem heutigen Zelebrationsaltar. In St. Pantaleon tut sich hinter dem gotischen Lettner ein kleiner Altarraum auf, in dem kleinere Gruppen den Gottesdienst feiern könnten (ähnlich wie im Kölner Dom). In St. Maria im Kapitol findet sich ein Lettner im Stil der Renaissance. Er steht heute wieder am alten Ort und schließt das Hauptschiff ab, hinter ihm öffnen sich die großartigen Konchen der romanischen Basilika, die weit mehr Raum als das Hauptschiff bieten. Die Idee des Letters erinnert an die orthodoxen Kirchen in denen der Altarraum als Raum des Allerheiligsten durch eine prächtige Bilderwand, die Ikonostase abgeschlossen wird. Die heilige Liturgie dahinter kann man durch Türen dennoch verfolgen. Lettner und Ikonostase zeigen, dass ein solcher Raum etwas Besonderes ist, dem Alltäglichen enthoben, ein Raum den man für das Gebet und die Anbetung Gottes betritt. Auch in den modernsten Kirchen ist der Altarbereich durch Stufen oder einen gestalteten Boden herausgehoben, so dass man ihn nicht einfach locker betritt ohne einen guten Grund zu haben. Darin entdecke ich wirklich einen spirituellen Mehrwert. Hier würde mich auch ein schön gestaltetes Gitter nicht stören. 

Bei den Benediktinerinnen gibt es übrigens auch Gitter. In früheren Zeiten hatten sie sicher den ganz handfesten Sinn, die Gemeinschaft vor Menschen, die Böses wollen zu schützen. Heute tritt diese praktische Funktion stärker hinter der Symbolik zurück. Das Gitter trennt den Klausurbereich vom Bereich der Besucher und Gäste. So ist an die Klosterkirche seitlich eine Kapelle für Besucher von außen angebaut. Durch das Gitter hat man von der Seite her einen guten Blick auf den Altar, kann aber die Schwestern selbst nicht sehen. Dieses Gitter öffnen die Schwestern inzwischen zu den Gebetszeiten, am Sonntag finden die Besucher auf Stühlen im Altarraum und auch zwischen den Chorgestühlen Platz, auch während der Stundengebete kann man im Altarraum – auf Abstand zur Schwesterngemeinschaft mitbeten. Das ist eine adäquate Lösung um Nähe und Gastfreundschaft  zu signalisieren und trotzdem die Abgeschiedenheit und Klausur zu wahren, als privaten Raum der Schwestern, die als Gemeinschaft zusammen entscheiden, wie weit sie sich öffnen. Hier stellt man einige Gästezimmer zur Verfügung, lädt die Besucher zum Gottesdienst ein und zur Begegnung nach dem Sonntagsgottesdienst im Garten, es gibt Sprechzimmer und einen Versammlungsraum für Besuchergruppen. Einige Schwestern bieten sogar Beratung und Supervision an. 

Die Schwestern sind wirklich nicht weltfremd. Sie wissen, dass draußen in der Welt nicht nur gute Menschen leben und dass es auch Menschen gibt, die für den eigenen Vorteil auch vor schlechten Tagen nicht zurückschrecken. Es ist manchmal gut, wenn man sich böse Menschen durch ein schützendes Gitter vom Hals halten kann. Niemand kann so leicht stehlen, was mir wichtig, was mir lieb und teuer ist. Und niemand kann mich angreifen und verletzen. 

Noch etwas ist schön an einem Gitter: weil es transparent ist, kann ich sehen, wer auf der anderen Seite steht. Ich kann Kontakt aufnehmen und mich auf ihn freuen, aber ich kann ihm auch in Ruhe die Zeit lassen, näher zu treten. Selbst mit aggressiven Menschen ist Kommunikation möglich. Das geht selbst mit modernen Türen aus Sicherheitsglas nicht so komfortabel wie mit dem guten alten Gitter. 

Ein Gitter ist immer noch besser als verschlossene Türen einer Kirche. Und ein Gitter zeigt ja durch seine Transparenz auch offen, was sich dahinter (an hoffentlich Schönem) befindet. Wer aber nicht näher treten darf, der erlebt seine Machtlosigkeit, ihm werden die Grenzen aufgezeigt. Das schmerzt besonders, wenn dieses Signal von denen in der Gemeinschaft ausgeht, die das Sagen haben und wenn es mich aussperrt, obwohl ich zu dieser Gemeinschaft gehöre. (Vielleicht bräuchten wir einen Beterschlüssel - so wie es ihn für Toiletten für Menschen mit Behinderungen gibt.)

Das Gitter ist ein gutes Symbol für die Situation der Kirche in der heutigen Zeit. Wir dürfen die Menschen nicht draußen halten! Wir können Gitter vielleicht sogar als Zeichen dafür nutzen, dass bei uns nichts hinter verschlossenen Türen und im Dunklen geschieht. Man kann gucken, ohne dass man gleich hineingezogen wird. So schützen die Gitter ja auch Menschen, die nur mal reinschauen wollen. Durch ein Gitter kann man gut sehen, hören und riechen, sogar fühlen und anfassen wäre möglich. 

Aber es muss eine Möglichkeit geben, das Gitter zu öffnen. Warum nicht eine Tür die mich einlässt, wenn ich sie kenne - oder finde? So war das immer in Mariawald, eine Tür für Beter stand offen. Jeder konnte für sich selbst entscheiden, ob er beten möchte. Oder im Kölner Dom, wo man als Beter ein Tor zur Sakramentskapelle durchschreiben darf. (Bemerkenswert: trotz eines gut gefüllten Doms blieb ich dort allein mit dem Herrn.) 

Es ist allemal besser, wenn Gitter weit offen stehen, damit ich so das Signal bekomme: Ja, wir freuen uns, wenn Du eintrittst. 

Es ist und bleibt so: Ein Gitter ist nicht einfach ein Ding, jedes Gitter ist ein Symbol, das mit Bedeutungen aufgeladen ist. Es kommt darauf an, dass die Gestaltung, die konkrete Nutzung und die öffentliche Präsentation der Gitter den richtigen Akzent setzen. 

Besser als: „Wir müssen draußen bleiben“ sollten sie die Botschaft eines Liedes aus Taizé vermitteln: „Bei Gott bin ich geborgen, still, wie ein Kind bei ihm ist Trost und Heil. Ja, hin zu Gott verzehrt sich meine Seele, kehrt in Frieden ein.“

In manchen Kölner Kirchen und auch im Kloster der Benediktinerinnen in Raderberg durfte ich das in diesen Tagen erfahren. Dafür sage ich Danke! und Vergelt's Gott!

Hier einige Fotos vom neuen Nordquerhausgitter: 












Hier die Bilder vom Südquerhausgitter: 







Und noch einige weitere Gitter (und andere Motive), die im Text eine Rolle spielen. Das Schöne bei Gitter ist für den Fotografen, dass sie meist so weit sind, dass man hindurch fotografieren kann. Und anders als beim Sicherheitsglas spiegelt da nichts.











Montag, 15. Juni 2020

Ja, wir haben versagt!

Die Kirche hat in der Coronakrise versagt! Da waren sich ausnahmsweise viele einig. Der kirchenkritsche Journalist, der stramm konservativ-katholische Publizist und die ehemalige Ministerpräsidentin von Thüringen. Schon als die Aktiven in den Gemeinden noch alle Hände voll zu tun hatten, den „Shutdown“ der Gemeindearbeit zu organisieren und gleichzeitig erste kreative Ideen entwickelten setzte ein Artikel im Südkurier den Ton, der dann von jenen aufgegriffen wurde, die es skandalös fanden, dass die Kirche sich von Staat und Behörden bis ins Allerheiligste, bis in die Sakramentenspendung herein reden ließ. Not lehrt nicht beten, spottete die Journalistin Christiane Florin und konstatierte: „Not lehrt Basteln. Not lehrt Bauen. Not lehrt Grillen.“ Sogar Bischöfe zeigten sich gekränkt, weil Baumärkte öffneten - während den Kirchen offenbar die „Systemrelevanz“ abgesprochen wurde. 

Ja, ich glaube, man kann aus der Coronakrise und den begleitenden Debatten lernen. Aber dazu brauchen wir Distanz und Gelassenheit. Natürlich ist vieles falsch gelaufen und aufgrund der behördlichen Vorgaben, war die Kirche zunächst stark auf ihre Hauptamtlichen zurückgeworfen. Das breite ehrenamtliche Engagement wurde jäh ausgebremst. Das war (und ist) an allen Ecken und Ende zu spüren.

Offenbar wurde aber auch: die Kirche ist nur begrenzt „systemrelevant“. Als Kirche wurden wir behandelt, wie jeder andere Verein. Das war für Viele kränkend. Als Antwort auf diese Kränkung empfehle ich: „nicht auf die Barrikaden gehen“. Das Pochen auf gesetzliche Privilegien rettet uns nicht. Die Krise deckt auf, dass wir seit Jahrzehnten kontinuierlich an Bedeutung verlieren. Als gesellschaftlicher „Player“ und – schlimmer noch – für die einzelnen Menschen. Wir sollten uns daher fragen, für welches „System“ wir als Kirche relevant sein möchten. 

Die Corona-Krise trifft die Kirche im innersten Kern. Worum geht es, in allem, was wir tun? Wir bringen Menschen zusammen. Wir möchten, dass Menschen sich nahe kommen, füreinander sorgen und gemeinsam auf den Spuren Jesu durchs Leben gehen. Und wir möchten, dass Menschen Gott nahe kommen. Es geht uns um Nähe und Berühung. 

Die Systemrelevanz der Kirche ist – dass sie dem einzelnen Menschen nahe sein will. Dass sie an seiner Seite sein will. Dass sie hilft, dass Menschen Gott als nah erfahren können. Unter Coronabedingungen ist das Versagen der Kirche unausweichlich. Wo Distanzierung die Norm ist und Nähe und Begegnung minimiert werden muss, fehlt die Herzmitte des kirchlichen Lebens. Und trotzdem sollten wir tun, was verantwortbar ist und mit Hilfe des Gottesgeistes kreativ sein. 

Mich berührt in diesen Tagen nur Kritik, die offen legt, wo Kirche gegen ihren Grundauftrag verstoßen hat, Menschen und Gott nahe zu sein. Völlig irrelevant ist für mich Kritik, die sich an mangelnder Stärke und gesellschaftlicher Relevanz der Kirchen abarbeitet. 

Seien wir ehrlich! Wo wird außerhalb des volkskirchlichen Milieus noch ein Priester gerufen, wenn ein Mensch aufs Sterben zugeht. Bei allen kreativen Neuaufbrüchen boomt der Markt der Ritendesigner, Trau- und Trauerredner. 

In all den Debatten der Coronakrise gibt es einen Satz, der mich geistlich berührt hat und der uns „Leitstern“ sein kann auf der Suche nach dem zukünftigen Weg der Kirche nach Corona. Er stammt ausgerechnet von einem Politiker: „Wir werden einander wahrscheinlich viel verzeihen müssen.“ Gesagt hat das auf dem Höhepunkt der Krise der Gesundheitsminister Jens Spahn.

Wir dürfen als Kirche offen bekennen: „Wir haben versagt.“ Und wir können das sagen, weil in der Krise viele gegeben haben, was sie konnten. Manches hat gut geklappt und Anderes ist in die Hose gegangen. Wir sind und bleiben als Kirche eine Gemeinschaft von fehlerhaften Menschen. Und nur als solche können wir barmherzig mit Anderen sein. 

Wenn wir mit mehr Demut und Bescheidenheit aus der Krise kommen, dann ist mir um die Kirche nicht bange. Wir brauchen keine „Systemrelevanz“. Nur für den Glauben und die Hoffnung des einzelnen Menschen müssen wir bedeutsam sein. In diesem Sinne bitten wir um Vergebung und schenken sie auch.

Sonntag, 10. Mai 2020

Quid est veritas? Von sonnen und solchen Wahrheiten!

Eigentlich wollte ich nur einige Zeilen schreiben zu der Aufregung um die neueste "katholische " Protestaktion. Aber je mehr ich las, desto mehr wollte zu Papier gebracht werden. Tut mir leid... es war einfach stärker als ich... 
Meine Meinung zu Erzbischof Vigano und seinen sonderbaren Zeugnissen, Erklärungen, Auftritten und Interviews habe ich nie verborgen. Von daher verwunderte es mich auch gar nicht, dass er nach einigen Wochen der (Corona-)Abstinenz mit dem Text: „EIN AUFRUF FÜR DIE KIRCHE UND FÜR DIE WELT an Katholiken und alle Menschen guten Willens“ mal wieder lautstark an die Öffentlichkeit drängte. Es fehlen natürlich auch in diesem Text die typischen Stilmittel nicht, eine biblisch-lateinische Überschrift „Veritas liberabit vos.“ aus dem Johannesevangelium und der abschließende Hinweis auf ein „passendes“ Marienfest, das „Unserer Lieben Frau vom Rosenkranz in Pompeji“. Und es geht - natürlich - wieder ums Große und Ganze!

Also alles echter „Vigano-Style“. Aufmerken ließ allerdings, dass neben den üblichen Verdächtigen diese „Petition“ gleich von vier richtigen Kardinälen unterschrieben wurde. Wobei der erste von diesen unmittelbar zurückruderte, da er sich als Mitglied der Kurie der katholischen Weltkirche nicht in allzu politischen Fragen zu Wort melden wolle. Offenbar hatte er aus der letzten Affäre um den allzu lockeren Umgang mit einem Text des emeritierten Papstes Benedikt XVI. gelernt. In der Tat erscheint der Text der knappen Petition rein politisch und wenig spirituell unterfüttert. Zwar geht es auch um die göttlichen Rechte der Kirche und dabei recht allgemein die Nachfolge Jesu Christi und die Verantwortung der Kirche. Die biblischen Verweise erscheinen aber selbst mir als Feld-Wald-Wiesen-Theologen recht eigenwillig genutzt. Die Wahrheit, von der Christus hier spricht ist die Wahrheit des Glaubens, die Wahrheit über ihn, Jesus Christus selbst. Und er hat diesen Satz sicher nicht gesagt zur Bekräftigung recht beliebiger und umstrittener Überzeugungen. Abschließend erwähnt man noch ausgerechnet den Satz, auf dem sich das Papsttum stützt und dessen erster Teil die Kuppel des Petersdomes schmückt. Und dieses Lippenbekenntnis dann ausgerechnet aus der Feder derer, die den amtierenden Petrus allzu gern demontieren. In der Tat, sehr eigenwillig! 

Dass ausgerechnet Kardinal Müller diesen obskuren Text unterstützt, das macht mich einigermaßen ratlos. Und auch traurig! Dabei war ich nach seinem Auftritt in Bochum mit ihm schon wieder einigermaßen versöhnt. Jeder Leser meines Blogs wird sich erinnern, dass ich durchaus Sympathien für diesen Sohn eines Opel-Arbeiters aus Mainz-Finthen habe und ihn immer wieder erklärt und verteidigt habe. Aber er macht es einem wirklich von Mal zu Mal schwerer, ja unmöglich. 

Jetzt schaffte es der deutsche Kardinal mit seiner Unterschrift unter diese Petition, die im Namen die „Wahrheit“ und die „Freiheit“ trägt, auf die Titelseite der Bildzeitung. Ich habe es mir zur Gewohnheit gemacht, nicht bei den Schlagzeilen stehen zu bleiben und mich zu solchen Papieren erst dann zu äußern, wenn ich sie in Ruhe gelesen habe. Und das habe ich heute Abend gemacht. Meist nehme ich mir auch vor, die guten Inhalte selbst dann noch zu würdigen, wenn ich insgesamt der Intention eines Text widersprechen möchte und versuche dabei dem Anliegen der Verfasser möglichst gerecht zu werden. 

Das ist mir bei veritasliberabitvos – ganz ehrlich gesagt – beinahe nicht möglich. Die ersten zwei (von drei) Seiten sind vollgepackt mit unbewiesenen Behauptungen, Unterstellungen und Verdächtigungen bei denen nicht einmal Ross und Reiter benannt werden. Wir lesen von der beabsichtigten „Schaffung einer Weltregierung, die sich jeder Kontrolle entzieht“ und von Zensur, von geheimnisvollen „Formen der Kontrolle“ von Menschen und von einer „hasserfüllten technokratischen Tyrannei“, die beabsichtigt sei. Am Ende bleibt nicht ganz viel, wo ich – selbst mit gewissen Bedenken – noch ja dazu sagen könnte. 

Neben der BILD griffen nun auch weitere Zeitungen in diesen Tagen diese Story auf, fällt sie doch zusammen mit weiteren Aktionen gegen die Maßnahmen, mit denen Regierungen in aller Welt die Corona-Pandemie in den Griff bekommen möchten. Die deutliche Kritik an dieser Unterschrift (auch aus dem Kreis der Bischöfe) scheint den Kardinal in Rom inzwischen erreicht zu haben, denn heute meldet er sich via Tagespost zu Wort. 

Er habe ja „nichts weiter getan, als sich auf telefonische Anfrage hin mit dem Text als Aufruf zum sorgfältigen Umgang mit den publizistischen und politischen Nebenwirkungen, die diese furchtbare (sic! - immerhin) Pandemie in einigen nichtdemokratischen Ländern haben könne, im Allgemeinen einverstanden zu erklären. Den Text habe er dabei nicht als wissenschaftliche Analyse bewerten wollen.“

Man reibt sich die Augen!? Aus diesem berechtigten Anliegen heraus unterschreibt ein Dogmatiker, ein ehemaliger Präfekt der Glaubenskongregation, ein Kardinal der römisch-katholischen Kirche einen solchen scharfen und schrägen Text? Ein Text, wo schon im ersten Abschnitt ausdrücklich steht, dass der Unterzeichner sich ihn zu eigen mache und dem Inhalt zustimme. Ein Text, wo als Autor der Name „Vigano“ darunter steht – da müssten doch alle Alarmglocken schrillen. Ein Autor, der angeblich in einem Versteck lebt, weil aus Angst vor dem Rachedurst kirchlicher Kreise um seine körperliche Unversehrtheit fürchte.

Der Kardinal äußert sich nun erstaunt, dass er alle Kritik auf sich zieht: „Dadurch, dass ich als Kardinal irgendwie als der Hauptprominente dieses Textes angesehen wurde, hat sich die Wahrnehmung auf mich konzentriert.“ Ähm, ist das jetzt wirklich verwunderlich?

Selbst ich als kleines Rädchen im Gefüge der Kirche äußere mich nicht zu Texten, die ich nicht gelesen habe und bemühe ich um ein ausgewogenes Urteil, selbst da, wo ich nicht zustimme. Und ein Kardinal unteschreibt einen Text mit absurden Verdächtigungen und Beschuldigungen, weil er sich mit dem Autor und den Mitunterzeichnern verbunden fühlt und gewisse Besorgnis im Herzen trägt? Dazu fällt mir nichts ein, was ich als Sohn der Kirche hier aufschreiben kann. Aber ich kann Gerhard Ludwig Kardinal Müller nur dringend auffordern, diese Unterschrift umgehend zu kassieren, nicht um Schaden von der Kirche abzuwenden (der ist schon da), sondern um sich selbst, um seine Lebensleistung nicht noch weiter zu diskreditieren. Tun Sie es um Ihrer selbst willen, Herr Kardinal! Das sage ich als jemand, dem Verbundenheit in der Kirche etwas wert ist.

Warum ich mich dazu in dieser Weise äußere? Sage ich es einfach mit den Worten des Kardinals selbst (ebenfalls in der Tagespost): „Es ist falsch, immer alles zu polarisieren. Wer es besser weiß, kann doch mit sachlichen Argumenten wirkliche oder vermeintliche Irrtümer ruhig und gelassen richtig stellen.“ 

Wenn der Kardinal sagt, man solle nicht immer alles polarisieren? Dann frage ich zurück: „gibt es ernsthaft eine Position, die noch polarisierender, noch weniger ausgleichend ist, als die Formulierungen dieser Petition?“ Nun gut, vielleicht noch der Video-Blog von Ken Jebsen. 

Dennoch, ich versuche einmal dem Wunsch des Kardinals zu folgen und mit der notwendigen Ruhe und Gelassenheit diesen Appell aufzunehmen und einige Anmerkungen zum Text zu machen. Der Kardinal sagt ja, der Text würde bewusst missverstanden. „Es wird so hingestellt, als ab die Pandemie selbst erfunden wäre, um Panik zu machen, was ja absurd ist.“ 

Ja, in der Tat! Das ist absurd und es kann Kardinal Müller ja auch nicht entgangen sein. Steckte er doch in Italien mitten drin im Krisengebiet. Umsoweniger kann ich verstehen, warum er nicht aufmerksam wurde bei einem Satz wie diesem: „Das gilt umso dringlicher, je mehr Zweifel von verschiedenen Seiten an der tatsächlichen Ansteckungsgefahr, der Gefährlichkeit und der Resistenz des Virus laut werden: Viele maßgebliche Stimmen aus der Welt der Wissenschaft und der Medizin bestätigen, dass der Alarmismus wegen Covid-19 durch die Medien in keinster Weise gerechtfertigt zu sein scheint.“ (1. Seite, 2. Absatz) und gleich anschließend im 3. Absatz: "Wir haben Grund zu der Annahme – und das auf der Grundlage offizieller Daten zur Epidemie in Bezug auf die Anzahl der Todesfälle – dass es Kräfte gibt, die daran interessiert sind, in der Bevölkerung Panik zu erzeugen. Auf diese Weise wollen sie dauerhaft Formen inakzeptabler Freiheitsbegrenzung aufzwingen, die Menschen kontrollieren und ihre Bewegungen überwachen. Diese illiberalen Maßnahmen sind der beunruhigende Auftakt zur Schaffung einer Weltregierung, die sich jeder Kontrolle entzieht.“

Interessant: Konservativ – katholische Akteuere als Kämpfer für die Liberalität einer Gesellschaft. Auch eine neue Rolle. 

Ich finde in dem Artikel nichts, was die wahre Dramatik der Pandemie angemessen schildert, nirgendwo wird Mitgefühl mit den Erkrankten und Betroffenen geäußert, nirgendwo Anerkennung für alle, die gegen die Krankheit kämpfen. Hier ist nur die Rede von überzogenen Maßnahmen und nicht eine Silbe darüber, dass es ja auch zahlreiche sinnvolle, notwendige und wichtige Einschränkungen gibt, die absolut richtig und lebensrettend waren und sind. 

Sowas ist Wasser auf die Mühlen der Leute, die noch immer – wider alle wissenschaftlichen Erkenntnisse – die Covid-19-Erkrankung als eine Art milde Grippe verharmlosen. 

Unter dem Strich bedeuten doch auch diese „wahren“ Aussagen: „Es ist alles nicht so schlimm, die Maßnahmen sind überzogen, denn es gibt einen geheimen Plan hinter den Maßnahmen, gesteuert von Kräften, die man als „supranationale Einheiten“ beschreibt.  Wenn es so etwas gäbe, wenn die Maßnahmen nicht sachlich und wissenschaftlich im Kampf gegen das Virus begründet werden können, dann muss man konkret und gut begründet die Stimme dagegen erheben. Aber derart pauschal und undifferenziert – wen soll das eigentlich überzeugen? Da ist ja selbst manche Netzdiskussion auf einer anderen wissenschaftlich-argumentativen Höhe. Und da sollte man sich auch nicht mit dem Verweis auf eine persönliche Sorge um gewisse Fehlentwicklungen herausreden. Und seinen Kritikern vorwerfen, es ginge denen um „Empörungskapital gegen ihre vermeintlichen Gegner“. Das finde ich ... ... schwach!

Überhaupt werden in den drei Seiten des Papiers nirgendwo einmal Verantwortliche benannt. Es wird nicht gesagt, wer denn eigentlich die Stimmen sind, die wissenschaftlich begründete Zweifel an der Gefährlichkeit des Virus äußerten. Soll damit etwa Dr. Wodarg gemeint sein oder ein anderer wissenschaftlicher Dissident, Leute die ihre Thesen zwar unablässig wiederholen, aber keineswegs belegen können?

Aber, jetzt mal der Reihe nach noch weitere Anmerkungen zu weiteren Formulierungen, die mir besonders aufgefallen sind: 

Im ersten Absatz heißt es: „Die Fakten haben gezeigt, dass unter dem Vorwand der Covid-19-Epidemie in vielen Fällen unveräußerliche Rechte der Bürger verletzt und ihre Grundfreiheiten unverhältnismäßig und ungerechtfertigt eingeschränkt werden, einschließlich des Rechts auf Religionsfreiheit, der freien Meinungsäußerung und der Bewegungsfreiheit.“ Belegt wird diese Behauptung keineswegs. Darf man das dann einfach so locker raushauen, mit dem Hinweis darauf, Kritiker könnten sich ja ruhig und gelassen dazu zu Wort melden. Wo das doch genau hinein fällt in eine ähnliche Argumentation von Kreisen, die sich zu Tausenden, ohne Einhaltung der schlichtesten Hygiene- und Abstandsregeln zu Demonstrationen zusammen finden und eine weitere Verbreitung der Erkrankung billigend oder schlicht aus Dummheit in Kauf nehmen. Also quasi „Corona-Party“ heavy Style!

Natürlich müssen wir wachsam sein, dass nicht Grundrechte und Grundfreiheiten unter dem Vorwand der Pandemiebekämpfung dauerhaft eingeschränkt werden. Aber das hätte man auch fordern können, ohne ganz allgemein und ohne jeglichen Beleg zu behaupten, dies geschehe überall und massenhaft und gesteuert. Und wenn undemokratische Regierungen gemeint gewesen wären, wie Kardinal Müller nun anmerkt, dann hätte man auch das sagen sollen. 

Sicher wurden auch viele Fehler gemacht. Und es gab schlampiges und übereifriges behördliches Handeln. Aber statt grenzenloser Kritik bin ich da eher bei dem bemerkenswerten Satz des deutschen Gesundheitsministers Jens Spahn: „Wir werden einander wahrscheinlich viel verzeihen müssen.“ Das klingt für mich durchaus nach Evangelium. Und mehr nach Evangelium als fast das ganze veritasliberabitvos.

Vielleicht an dieser Stelle noch mal ganz deutlich: Ja, ich glaube auch, dass in den letzten Wochen viele Fehler gemacht wurden. Und ich vermisse auch deutliche und empathische Stellungnahmen der Kirche zu kritischen Maßnahmen (über die Verteidigung der Religions- bzw. Kirchenfreiheiten hinaus). Wer spricht klar für die Rechte der Kinder und der Alten? Wer äußert Kritik an den "Krankheiten" unserer Wirtschaftsordnung... Aber zurück zur Petition, denn darum soll es hier gehen: 

Dann folgt im Text der meist kritisierte Absatz mit den „Kräften“, die Panik erzeugen wollen und Freiheitsbegrenzung und umfassende Personenkontrolle wünschen. Das ist alles so allgemein gehalten, dass man hier sicher auch konkrete Beispiele finden könnte. Aber wenn Vigano z.B. Victor Orban kritisieren wollte, warum nennt er diesen dann nicht oder wählt einige Beispiele um die Behauptung zu belegen? Im folgenden Absatz wird dann plötzlich vor den wirtschaftlichen Folgen gewarnt und vor der Einmischung fremder Mächte. Ja was denn nun? Weltregierung oder Souveränität der Vaterländer?

Anders als von Manchen suggeriert, hat ja die Corona-Krise zu einer Abschottung der einzelnen Ländern und zu einer Marginalisierung von internationalen Organisationen wie der europäischen Union und der Uno geführt. Und hier hätte man doch auch auf wirkliche Probleme hinweisen können, die die Krise aufgedeckt hat, z.B. die mangelnde Solidarität der Länder untereinander und die fehlende Abstimmung der Regierungen. 

Es wäre sehr hilfreich, wenn die Unterzeichner endlich mal die Katze aus dem Sack lassen, wer denn nun die Weltregierung sein soll. So kann jeder das Wort mit einem eigenen Inhalt ersetzten und sich auf Bischöfe und Kardinäle berufen, irgendwas zwischen WHO, UNO, Bill Gates, Soros, Freimaurern, Juden... Es ist alles möglich und denkbar.

Als wirkliche weltweite Organisation fällt mir vor allem die Kirche selbst ein, mit ihrem Netz an Gemeinden und der vielfachen Vernetzung in supranationalen Organisationen, ihre Sonderrolle durch den Staat der Vatikanstadt und die vielen Nuntiaturen und die päpstliche Diplomatie. Analoge Vorwürfe kennt man hier vor allem aus dem Kreis der organisierten Atheisten.

Am Ende ersten Seite wird das Wort „Social Engineering“ eingeführt. Gemeint sind damit Methoden der zwischenmenschlichen Beeinflussungen mit dem Ziel, bei Personen bestimmte Verhaltensweisen hervorzurufen, Ich fürchte, hier soll ein neuer Popanz aufgebaut werden, wo man ähnlich wie beim Stichwort „Gender“ plötzlich auch Stimmung gegen sehr begründete und sinnvolle Maßnahmen macht, wie z.B. bezüglich der Gleichberechtigung von Männern und Frauen. Wir kennen – gerade in der Pandemiezeit – viele Versuche, Menschen zu einem sinnvollen Verhalten anzuhalten und entsprechende Kampagnen über die Medien und Werbemaßnahmen zu fördern. Auch das ist „Social Engineering“ - nach dieser Definition. 

Die Distanzregeln, die Menschen voneinander auf Abstand halten oder Kontaktmöglichkeiten beschränken, sind für jedermann eine schwere Belastung. In der Seelsorge hört man täglich solche Geschichten. Diese Maßnahmen sind schmerzhaft und ich sehe niemanden, der nicht an einer Aufhebung dieser Regeln interessiert ist. Aber sie dienen ja nicht der Unterdrückung sondern dem Schutz des Einzelnen. Wenn aber Kirchenverantwortliche diese Maßnahmen als „Kriminalisierung persönlicher und sozialer Beziehungen“ bezeichnen, dann sind alle Grenzen sinnvoller und konstruktiver Kritik überschritten. Wenn eine „Bestrafung schwacher und älterer Menschen“ beklagt wird, die man zur „schmerzhaften Trennungen von Angehörigen“ zwinge, dann frage ich mich, ob die Realität dieser Situation so angemessen beschrieben wird. Natürlich müssen wir uns als Kirche dieser Menschen annehmen und für sie einstehen. Wir müssen auch widersprechen, wenn – wie einzelne Stimmen es ja zugunsten der Wirtschaft und der Jungen fordern – Risikopersonen unangemessen isoliert und am gesellschaftlichen Leben gehindert werden. Aber den Eindruck zu vermitteln, es ginge um ein größeres Projekt „mit dem die Isolation vn Personen gefördert wird, um diese besser manipulieren und kontrollieren“ zu können, dann kann man das nicht anders als als Verschwörungstheorie beschreiben. Wem soll so etwas nutzen? Selbst eine echte Diktatur kann an einer solchen pauschalen Strategie keinerlei Interesse haben, da sie sehr teuer wäre und zudem auch unabsehbare Folgekosten verursachte, ohne einen klar beschriebenen Nutzen zu haben. Wem soll das ernsthaft nutzen?

Dann wird der Bereich wirtschaftlicher Interessen angesprochen, besonders mit Blick auf die Medizinindustrie. Hier wird von kostengünstigen Arzneimitteln geschrieben, die sich als wirksam erwiesen hätten. Diese sollten nun geächtet werden, um Behandlungen und Impfstoffen den Vorrang einzuräumen, die Pharmaunternehmen höhere Gewinne garantierten. Derlei Phänomene sind ja durchaus bekannt. Schade, dass die Kirchenleute nicht schon lange dagegen ihre Stimme erheben, wenn sie denn ernsthafte Belege für solche Praktiken vorlegen könnten. Bei einigen Krebstherapien scheint mir dies mit Recht diskussionswürdig oder vielleicht auch bei gewissen Blutverdünnern. Andererseits ist es ja auch so, dass die geltende Wirtschaftsordnung und das Trimmen der Medizin auf Effizienz und strikte Wirtschaftlichkeit solche Verhaltensmuster von Pharmaunternehmen fördern. Auch hier wäre ein Warnruf der Kirchen sicher angemessen. Ob das aber in den aktuellen Kontext gehört, wo bisher keine preiswerten und wirksamen Medikamente bekannt sind und überall mit Hochdruck nach Medikamenten und Impfstoffen gesucht wird... Und man auf die Innovationskraft der Universitäten und Unternehmen angewiesen ist. Das möchte ich durchaus bezweifeln. Vielleicht kann Herr Vigano ja mal die Namen der Medikamente nennen. 

In diesem Kontext wäre auch das Thema Gerechtigkeit in der medizinischen Versorgung der Menschen in armen Ländern oder mit schlechter Gesundheitsversorgung ein Thema, das ich in der Petition vermisse. Und richtig mutig wäre es gewesen, hätte Erzbischof Vigano seinen amerikanischen Freunden eine gerechte Krankenversicherung empfohlen. 

Auch der Vorwurf, „Material von abgetriebenen Föten“ würde für die Herstellung von Impfstoffen verwendet, ist ja im Zusammenhang mit dem Kampf gegen Covid-19 eher an den Haaren herbei gezogen.  Der Hintergrund ist wohl der, dass einige wenige Impfstoffe mit Hilfe von immer weiter vermehrten Zelllinien produziert werden, die im Ursprung in den 60er Jahren einmalig aus den Stammzellen zweier abgetriebener Babys gewonnen wurden. Das ist sicher ein moralisches Problem, so wie sich in der modernen Medizin immer wieder Probleme dieser Art stellen. Auch hier sehe ich die Kirche gefordert, in den ethischen Entscheidungen ihre Stimme vernehmbar und wirkungsvoll einzubringen. Aber dann wirklich auf der Höhe der Wissenschaft und nicht so, dass man suggeriert, hier würde aus menschlichen Föten unmittelbar ein Impfstoff gegen Covid-19 produziert. 

Für die nächsten Absätze möchte ich mich eigentlich zurück halten. Ich würde gern etwas dazu sagen, wenn die Autoren des Textes wenigstens im Ansatz Belege für die unklaren Absichten supranationaler Einheiten und deren wirklicher Einflussnahme genannt würden. Wer soll das sein und wo haben diese „Einheiten“ konkret und nachweislich Einfluss auf politische Entscheidungen? Inwieweit muss ausgerechnet die Kirche im Sinne der menschlichen Freiheit gegen eine verpflichtende Impfung aufstehen? Warum soll die Kirche überhaupt gegen eine staatliche Impfpflicht sein? Und wenn diese „Kirche der Freiheit“ sich in dieser Weise einlässt, kann sie dann doch nicht gleichzeitig das „Social Engineering“ ablehnen, mit dem eine Regierung versuchen könnte, ihre Bevölkerung von der Sinnhaftigkeit einer Impfung gegen Pocken, Tetanus und Diphterie zu überzeugen. 

Wer ist es denn, der „eine Politik der drastischen Bevölkerungsreduzierung“ erfolgt? Ja, es gibt durchaus Leute, die sagen, dass wir Überbevölkerung haben und Maßnahmen dagegen fördern. Sie wollen ja auch keine „Reduzierung der Bevölkerung“ sondern deren Wachstum verlangsamen. Sie haben ja auch durchaus Argumente auf ihrer Seite. Aber man muss ihnen auch argumentativ begegnen und muss vor allem gegen solche Maßnahmen kämpfen, die den Wert des Lebens in einem Land geringer schätzen als in einem anderen Land. Ich denke da z.B. an Zwangssterilisierungen oder eher verdeckt durchgeführte Maßnahmen zur Reduzierung der Kinderzahl einzelner Bevölkerungsgruppen. In Guatemala z.B. war das ein Thema, um die Kinderzahl der Indigenas zu senken. Von daher hat die Klage sicher einen realen Hintergrund, aber letztlich reden wir hier über Gedanken und Argumente und nicht über „supranationale Einheiten“. Es sei denn, man meint mit diesen diffusen Beschreibungen z.B. die Gates-Stiftung oder gewissen NGO's die weltanschaulichen oder persönlichen Überzeugungen folgen und versuchen, ihre Überzeugungen in die politische Debatte einzubringen. Aber auch hier ist die katholische Kirche ein ebenso machtvoller Player für die eigenen Standpunkte und nutzt die gleichen Mechanismen, bis hin zur Forderung „strafrechtlicher Immunität“ und eine überstaatliche Rolle für manche ihrer Vertreter. 

Auch in der Frage, was die Autoren des Texts mit „subtiler Form der Diktatur“ genau meinen, hätte ich gern eine umfassendere Antwort gewusst. Sonst klingt dieser Abschnitt auch etwas nach den rechtspopulistischen Schreihälsen, die in Westeuropa lautstark beklagen, was sie alles „nicht sagen dürfen“, ohne dass diese Behauptung durch Inhaftierungen, Verhaftungen oder Nichteinladung zu Talkshows belegt würde. Im Gegenteil, gehen doch aktuell inmitten der Krise die Leute vom Widerstand 2020 in Massenversammlungen auf die Straße. Da wo 50 Leute gemeldet sind dürfen dann in aller Ruhe 3.000 Leute aufeinander hocken, ohne dass die Polizei sie hindert. Und wer Björn Höcke für einen überhitzten Provinzpolitiker und rechtsextremen Schwadronierer hält, auch er wird zuverlässig auf allen Nachrichtenkanälen dennoch mit dessen Meinungen versorgt. Und kann sich problemlos seine Bücher ins Haus schicken lassen. Inzwischen ist ja aus solchen Sprüchen sogar eine effiziente Werbestrategie geworden. Wer möchte, dass alle Welt sein Youtube-Video schaut, muss nur behaupten, es sei schon zweimal gelöscht worden und man solle es fix gucken, bevor das wieder geschieht.

Am Ende der 2. Seite kommt dann der Abschnitt mit den Themen, mit dem vermutlich manche Kirchenleute erst angelockt wurden und zu denen sich auch Kardinal Müller schon früher deutlich zu Wort gemeldet hatte. Die Kirche beanspruche mit Nachdruck „Autonomie in der Leitung, im Gottesdienst und in der Verkündigung.“ Ich glaube in Deutschland firmiert das unter Religionsfreiheit. Auch hierzu ist ja u.a. vom Verfassungsgericht ausführlich etwas gesagt worden in Bezug auf die „Gottesdienstverbote“. Soweit ich das in NRW beobachten konnte, haben die Kirchen dort immer betont, dass sie freiwillig auf Gottesdienste verzichten. Sicher auch, um einem Verbot und einem deutlichen Eingriff in die Religionsfreiheit zuvor zu kommen. Daher hat man mit den Behörden und der Politik einen Konsens gesucht. Alles, was dazu zu sagen ist, ist ja – auch hier auf diesem Blog – schon ausführlich diskutiert worden. Auch die Kirchenvertreter haben sich nicht beklagt. Im weltweiten Kontext mag es vorgekommen sein, dass der Staat deutlicher in die Rechte der Religion eingegriffen hat. Aber insgesamt kann ich nachvollziehen, dass Kardinal Müller diesen Absatz und den Folgenden auf S. 3 aus ganzem Herzen unterstützt.

Beim ersten Absatz auf S 3 wäre ich auch noch mit dabei, selbst wenn ich es anders formulieren würde. 

Aber dann wird es wieder strange: 
Entweder – oder! Es gibt nur „mit Christus“ oder „gegen Christus“. „Das Gute“ sei viel mächtiger als „die Welt“. Man kämpfe gegen einen „unsichtbaren Feind“ und gegen eine „hasserfüllte technokratische Tyrannei“, die unter dem Vorwand eines Virus „Jahrhunderte christlicher Zivilisation“ auslöschen wolle? Es lohnt sich in diesem Zusammenhang auch mal Markus 9,40 nachzuschlagen. Da wird die Grenzziehung dann doch unschärfer. 

Ich frage mich ernsthaft, in welcher Welt der Verfasser lebt. Ich fürchte, es ist die Welt eines Menschen, der sich von dunklen Mächten bedroht, in ein Versteck zurückgezogen hat und spiegelt damit die Lebenswelt und das Denken eines Erzbischof Vigano. „Wenn dies der Plan ist, mit Hilfe dessen uns die Mächtigen der Erde beugen wollen...“ 

Bitte, liebe Herren Kardinäle, Bischöfe, Priester … und wer noch alles diesen Text unterstützt. Um wen geht es, von wem reden Sie? Was wollen Sie?

Letztlich kommt mir bei den weiteren abschließenden und etwas theologischeren Worten der Petition eine schon alte Geschichte des großartigen Clowns und Musikers Herman van Veen in den Sinn. Er nennt sie „Eine Geschichte von Gott“. Sie blickt sehr kritisch auf die Kirche und ich habe in seinen Worten immer eine Art liebevollen Spiegel gesehen, einen Beichtspiegel. In der Geschichte kommt Gott einmal wieder auf die Erde und wundert sich über „seine“ Kirche. Er spricht einen der Menschen an, die für seine Kirche zuständig sind und bittet um Aufklärung. 

„Komm mal her! Was ist das hier" Was ist das hier!“
„Das ist eine Kirche, mein Freund. Das ist das Haus Gottes." 
"Aha ... wenn das hier das Haus Gottes ist, Junge, warum blühen hier dann keine Blumen, warum strömt dann hier kein Wasser und warum scheint dann hier die Sonne nicht, Bürschchen?!" 
"....das weiß ich nicht." 
"Kommen hier viele Menschen her, Knabe?" 
"Es geht in letzter Zeit etwas zurück." 
"Und woher kommt das Deiner Meinung nach? Oder hast Du keine Meinung?" 
"Es ist der Teufel. Der Teufel ist in die Menschen gefahren. Die Menschen denken heutzutage, dass sie selbst Gott sind und sitzen lieber auf ihrem Hintern in der Sonne." 
Und Gott lief fröhlich pfeifend aus Kirche auf den Platz. Da sah er auf einer Bank einen kleinen Kerl in der Sonne sitzen. Und Gott schob sich neben das Männlein, schlug die Beine übereinander und sagte: ".... Kollege!" 

„Es ist der Teufel, es ist eine finstere Macht, die nicht zu kontrollieren ist...“ Nicht, dass ich nicht an die Existenz des Bösen glaube. Aber wir sollten es uns nicht zu leicht machen und den Teufel – die hasserfüllte technokratische Tyrannei – die supranationalen Einheiten – die zweifelhaften Wirtschaftsinteressen – die subtilen Formen der Diktatur – die Weltregierung, die sich jeder Kontrolle entziehe – allzu locker im Munde führen. Und uns auf der Seite des Guten wähnen. 

Wir sollten mit guten Gründen für das Evangelium einstehen, im Wissen, dass „Pforten der Unterwelt werden sie nicht überwältigen“ mutig und gut begründet für den Menschen, für seine Freiheit, für seine Verantwortung, für Solidarität und Gemeinwohl, für brüderliche Nächstenliebe (um einige positive Stichworte aufzugreifen) eintreten. 

Die Corona-Krise legt in der Tat manche Schwächen offen. Sie stellt Fragen nach Gerechtigkeit und Kooperation, sie stellt die Wirtschaftsordnung in Frage, sie fragt nach den Grenzen des Wachstums, den Grenzen der Globalisierung, sie spitzt die Probleme der Umweltzerstörung weiter zu. Hier ist die Stimme der Kirche gefragt.

Aber das dann mit wohl begründeten Worten und mit engagiertem Handeln. So dass wir als einfache Gläubige morgens die Zeitung aufschlagen können (und wenn es die Bildzeitung wäre) und nach der Lektüre stolz und zufrieden sagen könne: „Wie schön, dass ich katholisch bin.“ Das ist meine Kirche! An der Seite der Menschen! Streitbar für die Armen, Schwachen und Unterdrückten! Mutig den Regierenden und den Reichen den Spiegel vorhalten! Niemals auf den eigenen Vorteil aus! Mit großartigen Argumenten und selbstlosen Mitarbeitern und Geistlichen! Katholisch- und stolz darauf. Ein Traum!

Ich will ihn nicht aufgeben!

Hier noch einige Anmerkungen von Josef Bordat, der sich nicht "interessierten kirchlichen Kreisen angehört". Mag auch Kritik von Joachim Frank den Kardinal kalt lassen, Bordat sollte ihn inne halten lassen:
https://jobosblog.wordpress.com/2020/05/10/noch-ein-bisschen-groesseres-armutszeugnis/

Donnerstag, 30. April 2020

Wer nimmt mir die Hl. Messe weg? Sonderbare Untertöne klingen in meinem Ohr...

Gebt uns unsere Hl. Messe zurück!
Mehrfach flimmerte diese Aufforderung in den letzten Wochen über meinen Bildschirm. Natürlich habe ich mir auch das kleine Filmchen im Netz angeschaut, das es in einer österreichischen und einer deutschen Variante gab. Erst mal: „Hut ab! Gut gemacht!“ Und es erschien mir durchaus authentisch. Allein die Ausrichtung an die Bischöfe (es waren die österreichischen gemeint, wie mir dann aufging) löste bei mir etwas Kopfschütteln aus. Hatten sich die dortigen Bischöfe irgendwie besonders eifrig beim Zusperren der Kirchen gezeigt? Gab es in Österreich andere Regeln für Gottesdienstfeiern als bei uns in Deutschland?

Kurz darauf erschien auch noch eine deutsche Variante dieses Films, die aber leider nicht das Niveau des Originals erreichte. Leider erkannte ich auch niemanden der in den beiden Videos präsenten Personen, die sich offenbar in anderen katholischen Kreisen bewegen als ich. Auch werden ja nirgends Namen oder Verantwortliche erwähnt. Ich gehe mal davon aus, dass kath.net hier seine Jugend-Kontakte zusammen gebracht hat. Dort schreiben ja auch ab und an mal junge Leute Artikel fürs Netz. 

Inzwischen gibt es noch ein drittes Video, worin sich die (österreichischen) Akteure der Kampagne auch namentlich bei einer Reihe von Bischöfen bedanken. Und dieses Video war auch der Punkt, an dem ich hängen blieb. Etwas befremdet dachte ich nachher: Hm, und was ist mit meinem Bischof Felix? Ich hatte auch nicht im Ansatz den Eindruck, dieser wolle nicht so schnell wie möglich zu öffentlichen Gottesdiensten zurück. Wieso sollte ein katholischer Bischof, jeder katholische Bischof auch nur im Ansatz auf den kruden Gedanken kommen, den Katholiken oder gar der Menschheit die Hl. Messe vorzuenthalten? Da rennt man doch offene Türen, ja offene Scheunentore ein mit einem solchen Appell. 

Heute frage ich mich mehr als zuvor: warum wendet man sich mit diesem Appell direkt nach dem Osterfest an die österreichischen Bischöfe? Hatte sich dort irgendwer dafür ausgesprochen, die Hl. Messe möglichst lange auszusetzen und den Priestern vielleicht mal wirklich einige Wochen wohlverdienten Urlaub und Zeit für Ruhe, Zeit für Stille und Gebet zu gönnen? Ich konnte nichts finden, im Gegenteil. Kardinal Schönborn sagte – offenbar als Reaktion auf die Kampagne: „Wir werden wieder gemeinsam Gottesdienst feiern dürfen, aber wir brauchen noch Geduld." Ähnlich klang es landauf/landab aus den Ordinariaten. Die weitaus meisten Bischöfe forderten die Priester ausdrücklich auf, privat die Hl. Messe für die Menschen zu feiern und wo möglich organisierten und unterstützten sie Videoübertragungen. Ich selbst hatte den Eindruck, man könne inzwischen von Morgens um sieben an ununterbrochen bis in den späten Abend irgendwo auf der Welt die Hl. Messe eines Priesters oder Bischofs mitverfolgen und mitbeten und habe das einige Male sogar am National Shrine in Namugongo, Uganda getan. Echtes Weltkirchenfeeling, sogar mit kleinen Gesprächen mit ugandischen Mitchristen am Rand. Das halte ich inzwischen für einen echten Gewinn und hoffe, dass einiges davon bleiben wird. 

„Bitte gebt uns „unsere“ / die Hl. Messe zurück“, in diesen Videos legen eine ganze Reihe von Jugendlichen und jungen Ehepaaren dar, dass für sie die Hl. Messe nicht weniger lebenswichtig ist als ein Supermarkt und argumentieren: „Was könnte für uns essentieller sein als die Hl. Messe?“ Zupackend wie sie sind, versprechen sie, sich um Desinfektion und Ordnungsdienst zu kümmern: „Wir machen die Kirchen sicherer als jeden Supermarkt.“ Die 80 Sekunden enden mit einer Art Bittlitanei, wo das Anliegen „Bitte gebt uns die Hl. Messe zurück“ zu einem anschwellenden Ruf wird. Als hätten die Bischöfe und nicht die Infektionsgefahr (und die behördlichen Maßnahmen) den Menschen die Messe genommen. 

Rund 13.500 Aufrufe verzeichnet das Video bei Youtube, interessanterweise trifft es aber offenbar nicht nur auf Zustimmung, 328 klicken „Daumen rauf“, 216 aber „Daumen runter“. Insgesamt sollte es auch weit häufiger geklickt worden sein, denn es gibt das Video ein zweites Mal und auch kath.net hat ja einen eigenen Videokanal auf seiner Seite. Um das Video auf dem kath.net – Kanal bei Youtube zu bewerten, muss man zumindest über einen google-Account angemeldet sein. Daher finde ich die Zahl von 216 „Daumen runter“ schon bemerkenswert. Widerspruch erntete die offenbar von kath.net organisierte und begleitete Aktion auch auf anderen Portalen, wie z.B. durch den Salvatorianerpater Erhard Rauch, allerdings kommentierte er ohne die Aktion der jungen Leute direkt zu erwähnen. „Gerade von diesen Gruppen kommt auch der Ruf: „Gebt uns unsere Messen zurück!“ Seit wann sind das „unsere“ Messen? Wie überheblich muss man denn sein, um sich den Gottesdienst einverleiben zu wollen, als ob ich ein Recht auf meinen eigenen hätte. Wenn es ein Recht auf Eucharistie gibt, weil es ein menschliches Grundbedürfnis ist, dann ist das allen Menschen überall auf der Welt zuzugestehen.“

Man mag den leicht bissigen Ton seiner Stellungnahme kritisieren. Aber er spricht auch viel Wahres aus. Der Text wäre jedenfalls einen freundlichen, inhaltlichen Disput wert. Und auch er spricht in keiner Weise dagegen, wieder öffentliche Gottesdienste zu feiern. Mit den Worten: „Es täte uns gut, auch einmal mit diesen Menschen (in Afrika, in Lateinamerika) mitzufühlen und unsere eucharistische Abstinenz, die ja höchstens zwei Monate dauern wird, etwas gelassener anzunehmen.“ bringt er die Dinge gut auf den Punkt. Peter Winnemöller (auch kath.net-Autor) gelingt es in seiner Replik nicht angemessen auf die Bedenken des Ordensmannes einzugehen. Auch er macht aus kritischen Anfragen an diejenigen, die so schnell wie möglich zu öffentlichen Gottesdiensten zurückkehren wollen, ein kirchenpolitisches Spielchen. Nein, auch unter diesen Stimmen sind geistliche, fromme, rechtgläubige Katholiken. Der rechte Umgang mit der Infektionsgefahr und mit dem Virus ist keine Frage der „wahren Gläubigkeit“. Sondern eine Frage der wissenschaftlich fundierten Abschätzung von Risiken und Gefahren. Hier muss ich (ausnahmsweise) mindestens auch auf die Stimme des Verstandes genauso achten, wie auf die Stimme von Herz und Seele. 

Meinen Sie, Peter Winnemöller, dass diese Worte die Wirklichkeit der Kirche in ihrer ganzen Fülle und Vielfalt angemessen beschreiben: „Wir werden nach der Krise sehen, was von einer Kirche übrig bleibt, die sich ausgerechnet in der Krise so irrelevant gemacht hat. Wir werden erleben, dass die Zukunft der Kirche tatsächlich nur da zu finden ist, wo sie sich um die Eucharistie versammelt. „Wahre Ordensmänner“ wie P. Rauch dürften dann verzichtbar sein. Vielleicht mag er in Brasilien beim Eucharistieverzicht aushelgen (?), wenn ihm die „wahren Gläubigen“ in Europa nicht so sehr behagen. Für katholische Jugendliche sind solche Ordensleute ohnehin keine geeigneten Seelsorger.“ Werden wir so, den Anstrengungen der vielen Gläubigen und Kirchenleute gerecht, die versuchen in der Krise ihren Gemeinden nahe zu sein? Selbst wenn nicht alles gelingt?

Einige Tage später fanden sich offenbar auch deutsche Jugendliche zusammen, um einen ähnlichen Appell an die deutschen Bischöfe zu richten. Hier wird der Ton etwas vorwurfsvoller und weniger demütig: „Sie sind unsere Hirten, warum setzen sie sich nicht dafür ein, dass wir endlich wieder in die Messe gehen dürfen?“ „Wir brauchen keinen Live-Stream-Jesus, wir brauchen seine Realpräsenz.“ (Sehr schönes Wortspiel übrigens.) In diesem Video spielen auch eine Reihe von Kindern mit und auch einige „ältere“ Personen. Auch dieses Video endet mit dem drängenden Aufruf: „Gebt uns unsere Heilige Messe zurück.“

Gleichzeitig erschien noch eine englische Version. Auch hier zeichnet kath.net verantwortlich. Und offenbar gibt es vergleichbare Projekte auch in Spanien, denen inzwischen ein spanischer Kardinal mit deutlichen Worten widersprach.

Wie wir wissen, war es nur eine Frage der Zeit, dass in den Kirchen neben den gestreamten Gottesdiensten auch Gottesdienste mit kleineren und größeren Gruppen wieder aufgenommen werden konnten. Mit den allgemeinen Lockerungen haben die Bischöfe und die Bistümer entsprechende – durch Sicherheitskonzepte abgesicherte – Vereinbarungen mit den Behörden geschlossen, unter welchen Bedingungen man zu öffentlichen Gottesdiensten zurück kehren kann. Dieser Weg war aber auch vor Ostern schon abzusehen. 

Artig bedankten sich nun (weitere) Jugendliche in einem weiteren  gut gemachten Videobeitrag bei den Bischöfen, dass nun (ab Anfang Mai zumeist) wieder Gottesdienste stattfinden. Einige Bischöfe werden darin auch namentlich erwähnt, zuvörderst Kardinal Woelki, weil der mit der Religionsfreiheit argumentiert hatte und frühzeitig Vorbereitungen zur Rückkehr zu öffentlichen Gottesdiensten ankündigte, aber auch Bischof Voderholzer, Bischof em. Zdarsa, die Bischöfe Bürcher, Bätzing, Oster, Hanke, Ipolt und Krautwaschel und zu guter Letzt auch noch der inzwischen – ausgerechnet von Bischof Bürcher – mit einem Mundschutz ausgestattete Weihbischof Marian Eleganti.

Diese Auswahl lässt den kirchenpolitisch versierten Beobachter dann doch aufmerken. Wessen Lieblingsbischöfe werden hier aufgezählt? Natürlich habe ich jetzt ein quasi moralisches Problem, wenn ich in Frage stelle, dass die Jugend, die als Zukunft der Kirche in diesem Video Gesicht zeigt, hier eine recht eigenwillige Auswahl von Bischöfen aufzählt und das anhand derer Verdienste manchmal noch eigenwilliger begründet.

Das gibt zu denken, z.B. bei Bischof Konrad Zdarsa, von 2007 an Bischof, ab 2010 Bischof von Augsburg. Wenn dieser zu Beginn seiner Amtszeit dort so deutlich auf die Bedeutung der sonntäglichen Eucharistie hingewiesen hatte, soll das dem Jugendlichen von heute noch in guter Erinnerung sein, ja sogar Auswirkungen auf aktuelle politische Entscheidungen haben? Wer heute mit 18 seinem Bischof für irgendetwas dankt, was er damals sagte, der war ja vermutlich damals Erstkommunionkind. Soll ich sowas ernsthaft für die Stimme „der Jugend halten“ und nicht für eine Kampagne, die von gewissen Interessen geleitet ist? Ah, wenn ich Peter Winnemöller folge, dann gehört ja zur „Jugend“ auch nicht jeder dazu. Jedenfalls nicht die Jugendlichen, die in Verbänden organisiert sind und Kontakt zum BDKJ halten. Man (die Bischöfe) ignoriere ja Jugendliche, „die einfach nur katholisch sein möchten, wie es die Tradition ihnen überliefert hat.“ Ich weiß nur nicht, ob die Antwort der wahren Katholiken sein kann, nun ihrerseits den Beitrag anderer Jugendlicher zur Debatte für irrelevant zu erklären oder ob wahre Katholiken nicht alle Stimmen wahrnehmen sollten und das Gespräch mit allen suchen. Ich habe auch unter dem Dach und in den Aktivitäten des BDKJ (ich erinnere mal an die Schönstattjugend, Malteser oder Fahrten zu Weltjugendtage) viele tief fromme Jugendliche getroffen. Und bin froh, dass dieser Dachverband so viele junge Leute mit unterschiedlichsten Glaubenshaltungen unter seinem Dach zusammenführt. Selbst wenn mir nicht jede Aktion gefällt. Ich glaube jedenfalls daran, dass man in dieser Weise dem Missionsauftrag der Kirche, der ja der Auftrag Jesu ist, durchaus eher gerecht wird. Und dass dieser Auftrag auch dann noch allen jungen Menschen gilt, auch wenn man frustrierende Erlebnisse mit Vertretern dieser Kirche machen musste. Ob diese nun Pater Rauch heißen oder Bischof Overbeck. Der BDKJ verdient ein offenes Ohr - wie auch die Jugendlichen aus dem kath.net-Video.

Ich finde es grandios, wenn junge Leute sich dafür einsetzen, dass in diesen Tagen die Botschaft Jesu in alle Welt getragen wird. Auch in eine Welt, die fest gehalten wird von einem tückischen Virus und den Maßnahmen, die Ausbreitung dieses Virus zu verhindern. Dazu gehört sicher auch, dass in verantwortlicher Weise Menschen miteinander beten und die Hl. Messe feiern. Aber auch manche Maßnahmen im Internet tragen zur Erfüllung dieses Missionsbefehls bei. Übrigens: das gemeinsam - getrennte Beten beim Glockengeläut um 19.30 Uhr empfand ich als Bereicherung.

„Danke liebe Bischöfe, wir brauchen ihren Hirtendienst, Wir bauen auf sie!“ Mit diesen Worten endet das Danke – Video. Ich hoffe, es ist damit gemeint: „Wir nehmen Deinen bischöflichen Hirtendienst an, wir tragen und begleiten ihn im Gebet und in unseren Herzen und Gedanken mit.“ Ehrlich gesagt klingt mir da inzwischen – auch durch die Auswahl der Bischöfe – ein ganz klein wenig mit: „Wir hoffen, dass Du in Deinem Hirtendienst leistest, was wir von Dir erhoffen.“ Vielleicht irre ich mich, hoffentlich! Und mögen mir diejenigen, die es lesen, diesen kleinen Denkanstoß zur Gewissenserforschung nicht übel nehmen. Wenn es euer Herz nicht berührt – vergesst es einfach!

Christoph Zeller-Zellenberg, der ebenfalls für kath.net tätig ist, braucht immerhin über die Hälfte seines 20minütigen Videoblogs, um die 80 - Sekunden - Initiative junger Leute zu preisen: „Da haben zwei Videos im deutschsprachigen Raum die Kirche bewegt, tatsächlich etwas bewegt...“ Er nimmt damit den „Erfolg“ für kath.net und deren junge Unterstützer in Anspruch. Hoffentlich trägt kath.net auch die Verantwortung – wie versprochen – mit, für die Umsetzung der Hygiene- und Abstandsmaßnahmen wie auch mögliche zusätzliche Infektionen. Auch Zeller-Zellenberg bringt das Argument: „Wo Baumärkte offen haben – muss auch Kirche öffnen.“ und spottet über die „Baumarktgläubigen“ dieser Zeiten. Dazu ist ja inzwischen auch schon einiges Substanzielleres gesagt worden. Er nimmt die Sicherheitsvorkehrungen kritisch aufs Korn und konstruiert daraus den Vorwurf, irgendwer wolle vermutlich und im Grunde Gottesdienste verhindern und den Gläubigen die Freude dran verleiden. Irgendwie folgerichtig legt er nahe, es seien die „Reformkatholiken“ da mitverantwortlich. Nun ja, „im Westen (oder ist Linz jetzt irgendwie Osten?) nichts Neues.“ 

Hätte doch die Sehnsucht nach gemeinsamem Gebet, nach Gottesdienst, nach der Hl. Messe, nach Miteinander im Lob Gottes und in der Anbetung gerade in der Krise als verbindende Mitte der Katholiken wieder stärker entdeckt und in den Blick genommen werden können. Für mich war das eine Erkenntnis aus der Krise und ein Thema, auf das man in jeder seelsorglichen Begegnung zu sprechen kam. Dazu leistet diese von kath.net orchestrierte Kampagne leider keinen besonderen Beitrag. Eigentlich schade! 

Wenn wir über Versagen der Kirche reden, dann wäre das die Frage, die wir uns in der Beichtvorbereitung einmal stellen könnten. Haben wir auf der Suche nach Fehlerhaftem, nach Versagen, nach Schuldigen vielleicht die Chancen übersehen? Auch die Chance, uns über kirchenpolitische Gräben wieder die Hand zu reichen? Haben wir gesehen, was Gott uns inmitten dieser Krise wirklich sagen möchte?

P.S.: Ich bin im Grunde kein Gegner von kath.net und habe dort selbst schon Texte veröffentlicht. Auch sind dort manche Leute aktiv und engagiert, die das aus tiefem Glauben und tiefster Überzeugung tun. Manche „Nachrichten“ finde ich nur dort oder dort besonders früh. Einige Mitarbeiter schätze ich ganz persönlich. In kritischen Anmerkungen zur Kirche von heute steckt Wahres. Von manchen kritischen Anfragen habe ich durchaus profitiert. Von daher verdient es kath.net auch, dass man ab und an Kritik äußert.

Sonntag, 19. April 2020

Heilige Obi und Toom, bittet für uns? Von Kirchen und Baumärkten.

„Wo zwei, und nicht drei, in meinem Namen versammelt sind....“ Dieser gelungene Lied-Witz prägte in den letzten Wochen das kirchliche Leben. Unseren Gemeinden ist aktuell ihre Herz-Mitte genommen, der gemeinsame Gottesdienst. Man behilft sich mit gestreamten Messen, Geistermessen, die die Priester stellvertretend feiern und privaten Gebeten. Die Online-Aktivitäten der Seelsorger*innen changieren zwischen gut gemeintem Dilettantismus, sympathischen Filmchen und  dem engagiertem und gekonnten Nutzen neuer Chancen. 

"Lehrt Not beten?", fragt in diesen Tagen die Journalistin Christian Florin: „Die Empirie gibt das nicht her. Not lehrt eher basteln, grillen, heimwerkern.“ Wer gestern bei gutem Wetter in den Bau- und Gartenmarkt musste, der weiß, wie sehr die Beobachtung stimmt. Trotzdem, die Situation (nicht die Not) hat nach meiner Wahrnehmung auch Leute beten lassen, die im stressigen Alltag sonst nicht dran denken oder nicht dazu kommen. 

Beinahe noch sehnlicher als auf die Osternacht haben offenbar viele Kirchenleute auf die Oktavwoche nach Ostern gewartet. Hieß es doch, die Regierung wolle dann über Lockerungen entscheiden, die den Druck des Corona-Regimes wieder für alle erträglicher machen sollten. 

Schon im Vorfeld hatten namhafte Kirchenleute und kirchliche Aktivisten mit zunehmender Lautstärke die Wiederzulassung öffentlicher Gottesdienste gefordert. 

Sogar Bischöfe verstiegen sich zu Bemerkungen wie „Wenn sogar Baumärkte öffnen dürften, dann könne man doch Kirchen nicht verschließen. Zumal diese den Besuchern mehr Platz böten als enge Gänge in Bau- und Supermärkten. Und man könne problemlos in den großen Kirchen alle Hygiene und Abstandsregeln einhalten, die auch sonst beim Einkaufen und Spazieren gehen gelten würden. 

Die Krone der Argumentation war dann das engagierte Eintreten für das Grundrecht der Religionsfreiheit, die ja ausgerechnet jenes Urteil des Bundesverfassungsgerichtes unterstrichen habe, mit dem dieses höchste Gericht den Eilantrag einiger Personen auf Aufhebung der Gottesdienstverbote zurückgewiesen hatte. Die Kirche fordere nur ihr verbrieftes Grundrecht ein, auch in der Pandemie die Menschen zum Gottesdienst zusammen zu führen. 

Und dann war - ausgerechnet für die Kirchen und Religionen - nichts dabei. Einige Lockerungen verkündete die Bundeskanzlerin, nur keine des Gottesdienstverbotes. Aber man wolle mit den Religionsvertretern darüber sprechen. Aus der wohl formulierten Stelllungnahme des Bischofskonferenzvorsitzenden dazu klang deutlich vernehmbar Frust und Enttäuschung durch. 

Die Gespräche haben stattgefunden! Noch ohne konkrete Ergebnisse. Doch nun steigt die Erwartung, dass in zwei Wochen endlich, schrittweise wieder zur Normalität öffentlicher Gottesdienste zurückgekehrt werden könne. Die Stimmen aus der Mitte der Kirche, die diese Hoffnung mit Nachdruck vertreten, nehmen deutlich zu. Konkrete Vorschläge liegen schon auf dem Tisch!

Ich bin da skeptischer. Zumal auch wegen der argumentativen Tiefe mancher Diskussionsbeiträge. Deren Spitze sind Leute, die damit argumentieren, dass in vergangenen Jahrhunderten Menschen für die Mitfeier eines Gottesdienstes das Martyrium in Kauf genommen, manchmal auch wahrhaftig erlitten hätten. In diesem Sinne müsse die Kirche notfalls auch gegen einen Staat kämpfen, der Gottesdienste verbiete. Drumherum verbreiteten diese Leute sehr verharmlosende Aspekte des Coronavirus und der Covid-19 – Erkrankung. Alles halb so schlimm? Alles ließe sich mit etwas Disziplin und gutem Willen in den Griff bekommen? Da möchte ich gern an die alte kirchliche Regel erinnern, dass man das Martyrium nicht suchen darf. Gott hat sogar dem hl. Franziskus hier "Nachhilfe" erteilt, als dieser vom (vermeintlich feindlich gesinnten) Sultan wider Erwarten freundlich empfangen wurde. Dieser war keineswegs darauf aus, den späteren Heiligen zum Himmel zu schicken. 

Andere Kirchenleute arbeiten sich am Stichwort der „Systemrelevanz“ ab. Nicht nur Bau- und Supermärkte, Müllabfuhr und Essenslieferdienste seien systemrelevant, sondern auch die Kirchen. Böten sie den Menschen doch Trost und Hoffnung durch den Glauben. Das sei kaum jemals wichtiger gewesen als heute. Das Stichwort "systemrelevant" eignet sich trefflich für einen Beichtspiegel oder eine Bußandacht. Es ist ja schwer erträglich, dass die Kirche, Mittelpunkt des eigenen Lebens und Dreh- und Angelpunkt der seelsorglichen Aktivitäten als verzichtbar betrachtet wird. 
„Ich streame, also bin ich....“ kommentierte kürzlich jemand spöttisch die zahlreich im Netz übertragenen Gottesdienste aus priesterlichen Wohnzimmern und improvisierten Hauskapellen. Das kannte man bis dato nur von irgendwelchen pseudokatholischen Minisekten oder Sedisvakantistenkapellen. Ich würde dem bösen Wort von der „Systemrelevanz“ schlicht mal das alte kirchliche Kernwort von der DEMUT entgegen halten. Und diesen Aspekt einmal zur Meditation empfehlen. Natürlich ist Kirche bedeutsam und wichtig. Aber ein runtergefahrenes kirchliches Leben nimmt der Kirche und dem Glauben nicht die Lebensrelevanz. 

Natürlich ist es ärgerlich zu sehen, dass Baumärkte am Samstag überquellen und dass massenhaft Pflanzen und Heimwerkermaterialien herausgetragen werden. Aber vielleicht ist es ja auch ein Zeichen der göttlichen Vorsehung, wenn gutes Wetter und Aktivitäten in Haus und Garten dazu beitragen, dass den Leuten aktuell nicht die Decke auf den Kopf fällt und die familiären Spannungen sich in heftigen Streitereien entladen. 

Die Argumentation "die Anderen dürfen das auch..." finde ich mindestens schwierig. Lockerungen werden dort eingeführt, wo gute Argumente dafür sprechen, ein erhöhtes Infektionsrisiko einzugehen. Man sollte also argumentieren, warum die Feier von Gottesdiensten aktuell so wichtig ist, dass man ein entsprechendes Risiko zu tragen bereit ist.
Ich stelle mir die Frage, ob manche kirchliche Aktivisten die Absicht der aktuellen Regelungen überhaupt verstanden haben, dass jede vermeidbare Infektion auch vermieden werden solle und daher strengste Regeln gelten müssen. Es geht nicht darum, ob bei dieser und jener Aktivität gewisse Infektionsschutzregeln eingehalten werden könnten, sondern darum, dass es z.B. weit besser ist den Wocheneinkauf allein an einem Tag zu machen als unter Einhaltung aller Regeln jeden Tag frisch den Tagesbedarf an Klopapier zu erwerben. Ich merke selbst, wie schnell man im Alltag da nachlässig wird. Diese Zeit ist eine echte Schule in Selbstdisziplin. Und das ist ja doch auch ein Kernaspekt des geistlichen Lebens, oder? 

Überhaupt, ist es nicht eine Selbstverzwergung, wenn Kirche sich mit Bau- und Supermärkten vergleicht? Da vergleicht man doch Äpfel mit Birnen. Natürlich ist es ärgerlich zu sehen, dass dort sehr viel verkauft wird, was nicht „lebens- und überlebensnotwendig“ ist. Mit Ausnahme von Klopapier, welches ja lange schon aus ist. Aber viel ärgerlicher und existenzieller ist das für die Inhaber kleiner Geschäfte, wie z.B. der Schreibwarenhändlerin, wenn sie sieht, dass der Discounter all das verkaufen kann, was sie nicht verkaufen darf. Oder nur im Wege des Bestell- und Lieferdienstes. 

Auch kommt es in Bau- und Supermärkten gemeinhin nicht zu Versammlungen. Das größte Risiko ist, dass ich nicht schnell genug an den Anderen vorbeikomme, wenn die Gänge blockiert sind – oder ich allzu lang in der Kassenwarteschlange stehen muss. 

In der Kirche dagegen halte ich mich ruhig über längere Zeit auf. Zudem sagen Wissenschaftler, dass das gemeinsame Singen eigene - höhere Infektionsrisiken birgt (Bioaerosole) und es ist leider auch ein Fakt, dass die weitaus größte Gruppe der Gottesdienstbesucher besonders gefährdete Personen sind. Kürzlich bemerkte jemand, dass Gottesdienste doch genau die Art von Veranstaltungen sind, die unter Seuchenpräventionsgesichtspunkten hoch riskant seien. Eine Gottesdienstfeier ähnelt nun mal, es mag einem gefallen oder nicht, eher einer Karnevalssitzung in Heinsberg als einem Baumarktbesuch in Voerde. 

Haben wir als Kirche hierfür wirklich die richtige Antwort? Ich weiß es nicht. Und bin gespannt, wie das konkret umgesetzt werden soll. Wollen wir wirklich Gottesdienstfeiern, wie jetzt bei den Fernsehgottesdiensten? So wie heute morgen mit 6 Personen plus Organist und Pfarrer? Ohne Messdiener? Und die Gottesdienstbesucher dann in katholischer Maximalverteilung – höchstens eine Person auf zwei Bänke?

Wie sollen "mehr" Gottesdienste möglich sein, wo die Priester schon vor der Krise in manchen Gemeinden nicht mehr in jeder Kirche auch nur einen sonntäglichen Gottesdienst ermöglichen konnten? Eher greift da nach Erik Flügges Vorschlag die "Sonntagspflicht" auch auf die folgenden Werktage auszudehnen. 

Ja, ich bin durchaus dafür, dass statt Geistergottesdiensten je nach Kirchengröße auch einige Personen zum Gottesdienst zugelassen werden können. So, dass sie wirklich weiten Abstand halten können, durchaus weiteren als unbedingt notwendig nach den geltenden Abstandsregeln für Vorübergehende und Beieinanderstehende. Das ist auch für die Priester eine wichtige „Lockerung“, weil Gottesdienstfeier immer auch Gemeinschaftsfeiern sind. 

Wir haben aus diesen Gründen jetzt die Erstkommunionfeiern in den Herbst verlegt. Die allermeisten Eltern konnten sich ein solches Fest für ihre Kinder im engsten Kreis nicht vorstellen und setzen darauf, dass dann echte Gemeinschaftsfeiern möglich sind. Wobei wir schon heute planen, aus zwei Gottesdiensten sechs zu machen. Denn Gemeinschaft bedeutet ja nicht, dass es rappelvoll ist, sondern dass liebe Menschen mit uns feiern und uns nahe sind. Zumindest im Herzen und im Gebet.

Ach Übrigens – unsere Kirchen sind in diesen Tagen keineswegs geschlossen, sondern bieten Raum und Anregungen zum persönlichen Gebet. Es wird rege – wenn auch nicht übermäßig genutzt. Wir haben also noch Platz!

Ja, mir fehlt wirklich etwas. Ich würde so gern wieder - wie früher - mit meinen Schwestern und Brüdern in der Kirche sitzen, beten, Gottesdienst feiern, Eucharistie feiern... So gern...

Auch würde ich lieber ein gutes Wort für alle Trauernden einlegen, dass wir Wege finden, dass sie mit ihren Freundes- und Familienkreisen in guter Weise Abschied nehmen können. So gut, wie es eben geht - unter den Bedingungen der Zeit (aber besser als jetzt).

Aber ich möchte erst dann wieder zu regelmäßigen Gottesdiensten zurückkehren, wenn ich einigermaßen sicher sein kann, dass nicht durch meine und unsere Verantwortung Menschen dem Martyrium einer schwer verlaufenden Covid-19 – Erkrankung überantwortet werden. Da warte ich lieber noch einige Wochen ab. Und dieses geistliche Fasten wäre es mir auch dann wert, wenn wir dadurch einige Wochen eher wieder zum gemeinschaftlichen Beten zurückkehren könnten.

Beten wir bis dahin für alle, die von der Krankheit betroffen sind.
Für alle, die in den Krankenhäusern um ihr Leben kämpfen.
Für alle, die die Pandemie vor große Herausforderungen stellt.
Für alle, die das gottesdienstliche Fasten bedrückt.

Heilige Cosmas und Damian, bittet für uns.
Heiliger Lukas, bitte für uns.
Heiliger Damian de Veuster, bitte für uns.
Heiliger Lukas von Simferopol, bitte für uns.

Und hören wir auf Gottes Wort, wie es uns heute in der 2. Lesung verkündet wird:
"Gottes Macht behütet euch durch den Glauben, damit ihr das Heil erlangt, das am Ende der Zeit offenbart werden soll. 
Deshalb seid ihr voll Freude, obwohl ihr jetzt vielleicht kurze Zeit unter mancherlei Prüfungen leiden müsst.
Dadurch soll sich euer Glaube bewähren, und es wird sich zeigen, dass er wertvoller ist als Gold, das im Feuer geprüft wurde und doch vergänglich ist."

Freitag, 27. März 2020

Die Kirche in der (Corona-)Krise - stehen wir derzeit ziemlich "nackt" da?

Die Kirche habe ich bewusst für mich entdeckt (oder wieder-entdeckt), als ich 16 Jahre alt war. Seitdem bin ich richtig gern katholisch und versuche der inneren Verpflichtung nachzukommen, am Samstag oder Sonntag eine Kirche zu besuchen. Schwer war es daher für mich, als eine Krebserkrankung mich vor sechs Jahren zwang, diese liebgewordene Gewohnheit für einige Monate auszusetzen. Umso schöner, dass am Sonntag ein Gottesdienst im Fernsehen übertragen wurde und fast jede Woche mein litauischer Priesterkollege vorbei kam, um die Hl. Kommunion zu bringen. Ich bin also mit meiner Familie Quarantäneerfahren. 

Heute gehe ich auf ein drittes Wochenende zu, wo ich nicht an einer Hl. Messe teilnehmen kann. Nicht weil ich krank bin, sondern weil „da draußen“ eine tückische Krankheit droht, die sich auch dann verbreitet, wenn zwei oder drei scheinbar Gesunde beieinander stehen. 

Nach 35 Jahren finde ich mich also zum ersten Mal in einer Situation, wo ich nicht zum Gottesdienst gehen kann und das gemeinsam mit vielen anderen Gemeindemitgliedern. Sowas hat es in der ganzen Kirchengeschichte noch nie gegeben, seit 2.000 Jahren nicht. Weder die Pest noch die Cholera noch Kriege und Katastrophen haben das kirchliche Leben in dieser Weise lähmen können (selbst wenn das in der Vergangenheit manchmal an mangelndem Wissen um die Natur der Krankheiten lag). 

In aller Welt haben die Kirchengemeinden ihre Gottesdienste ausgesetzt und alle anderen Treffen eingestellt. Die Bischöfe haben ihre Priester aufgefordert, die Hl. Messe „stellvertretend“ ohne die Gemeinden zu feiern. Viele Priester tun sich schwer damit. Einige feiern die Messe im Pfarrhaus, andere streamen, was das Zeug hält, wieder andere diskutieren über den Sinn und Zweck einer Messe ohne Volk und ob das nicht ein Rückfall in alte Zeiten (Retrokatholizismus) sei. Und einige Wenige feiern die Hl. Messe offenbar in kleinen exklusiven Zirkeln quasi „illegal“ oder am Rande der klaren Verordnungen, nicht nur der staatlichen Behörden, sondern sogar aus dem Vatikan selbst. 

Ich weiß, wo der Tabernakelschlüssel liegt, ich könnte ohne Probleme kommunizieren. Aber macht das Sinn? Kann man sich den Leib Christi „nehmen“. Nein, das kommt mir nicht stimmig vor. Und es darf doch in der Kirche auch nicht Privilegierte und Unterprivilegierte geben? Jedenfalls nicht in DER Kirche, die mir im und am Herzen liegt. Einige Stimmen fordern ja Gottesdienste nach den Regeln, die heute auch für Supermärkte gelten, notfalls im Freien, notfalls in großen Domen mit genügend (2 m) Abstand dazwischen. Ein Gottesdienst sei ja auch „Daseinsvorsorge“ und „systemrelevant“. Da mag was dran sein, aber kann man das in einer Situation verantworten, wo nach wie vor noch nicht alle begriffen haben, worum es bei den Maßnahmen geht? Wo noch immer junge Leute sich für unverwundbar halten, wo der (vorzeitige) Tod eines alten, kranken Menschen in der Coronakrise achselzuckend hingenommen wird, weil ein alter Mensch ja sein Leben gelebt habe. 

Wir stehen als Kirche zur Zeit ziemlich „nackt“ da. Es gibt zwei wesentliche Arbeitsfelder, in denen wir aktiv sind. 

  • Menschen mit Menschen zusammen bringen und 
  • Menschen mit Gott zusammen bringen. 

Menschen mit Menschen, das klappt aktuell nur sehr bedingt. In dem Säulenmodell der Kirche (Liturgie/Verkündigung/Caritas und Gemeinschaft) sind alle gemeinschaftsfördernden Aktivitäten ausgesetzt. Keine Gruppen oder Gremientreffen gehen mehr, alles was online ist, ist zwar nicht nichts, aber doch nicht das Eigentliche. Die Caritas dagegen geht unter gewissen Bedingungen weiter, seelsorgliche Gespräche können stattfinden, seelsorgliche Besuche bedingt. Aber alles nur im kleinen, sehr kleinen Kreis. Und mit Abstand. Den Menschen nahe sein, auch in ihrer Not nahe sein – zur Zeit unmöglich, wenn man ihnen nicht neben Heil auch Unheil (durch Krankheit) vermitteln möchte. 

Menschen mit Gott zusammen bringen, das geht vielleicht schon eher. Weil hier sind wir ja weniger Macher als Vermittler. Es geht darum, eine direkte Begegnung mit Gott zu ermöglichen, Bedingungen zu schaffen, unter denen ein Gebet, unter denen ein Gottesdienst möglich ist. Dazu gehört Verkündigung und Katechese. Und da bieten die sozialen Medien plötzlich Chancen, die niemals zuvor in der Geschichte bestanden. Wir haben die Möglichkeit, diese Medien wieder ein Stück „sozialer“ zu machen. Hier sind spannende Experimente zu beobachten, auch wenn wir das Potential noch lange nicht gut ausschöpfen. Da waren in der vergangenen Zeit nur einzelne Leute und Bistümer (wie in Essen) Avantgarde. Ansonsten springen wir gerne erst dann auf Trends auf, wenn die schon fast wieder am Ende sind. 

Wir können in den Gemeinden und darüber hinaus mithelfen, dass die Folgen der Corona-Krise abgemildert werden, indem wir z.B. Maßnahmen der Behörden unterstützen, Menschen guten Willens vernetzen und unterstützen, Einkaufshilfen organisieren, für seelsorgliche Gespräche zur Verfügung stehen. Die Einladung zum gemeinschaftlichen Gebet daheim beim Glockenläuten am Abend führt auch Menschen zusammen, die sonst nicht zum persönlichen abendlichen Gebet kommen. Das empfinde ich wirklich als berührend. So wie manche andere Aktionen auch, Leuten mit kleinen Videos, Podcasts, Online-Andachten, mutmachenden Texten und vielem mehr Denkanstöße zu geben und Hoffnung zu vermitteln. Manches ist da noch halb gar – aber allemal viel besser als nix. Und es weist in die richtige Richtung. 

Die Mitte der Gemeinde ist die Feier der Eucharistie, die Menschen zusammenführt und Menschen mit Gott verbindet. Sie kann derzeit nicht zur Wirkung kommen. Und ich bin überhaupt nicht überzeugt von einem Konzept, dass die Hl. Messe für kleinste Kreise ermöglicht. Schon heute fragen sich manche Theologen, ob Menschen, die wochenlang ohne Hl. Messe auskamen – nach der Krise noch ein Verlangen nach dieser Feier haben. Oder ob nicht für zunehmend mehr Leute die Sehnsucht nach der gemeinschaftlichen Messe mehr und mehr abklingt, je länger die Krise andauert. 

Ich kann auch dem Gedanken etwas abgewinnen, dass wir alle zur Zeit eucharistisch zu fasten haben und dass wir da solidarisch sein und bleiben müssen. Daher kann ich auch nachvollziehen, dass einige Priester selbst nicht zelebrieren oder nur sehr selten zelebrieren, um mit der ganzen Gemeinschaft zusammen zu verzichten. Das scheint mir ein überzeugenderes Zeichen, als Messen im Untergrund mit kleinsten verschwiegenen Kreisen von Privilegierten. Manch einer wird nachher denken oder sagen – ich gehörte in der Krise nicht dazu – dann will ich auch nach der Krise nicht (mehr) dabei sein. 

Mir kommt das eucharistische Fasten auch überzeugender vor als Messen im gebührendem Abstand – denn wir können das Risiko nicht eingehen, das Leben von Menschen zu gefährden. Und sei es nur, dass wir dazu beitragen, dass Menschen sich selbst gefährden. Und daher sollten wir dann wieder die Hl. Messe feiern, wenn wir dies wirklich in aller Öffentlichkeit tun können (selbst wenn das mit Sicherheitsabstand sein müsste). Aber wir können nicht den Zugang zu einem Gottesdienst beschränken. 

Ich finde es gut, dass in der Corona-Krise in Kirchen und Domen nach wie vor die Hl. Messe gefeiert und in den Medien übertragen wird. Ich denke, das muss „live“ geschehen. Und es sollte mit einem hohen, technischen Niveau getan werden. Hunderte von parallelen Handyübertragungen erscheinen mir weniger sinnvoll, aber warum sollten nicht technisch kundige Bistumsbeauftragte einmal wöchentlich auch Messen aus den einzelnen Gemeinden übertragen. Parallel zur Bischofsliturgie. Ja, die Bischöfe sollten selbst zelebrieren und die Gelegenheit nutzen, ihren Diözesanen nahe zu sein. 

Es ist eine Gnade, dass wir die Kirchen noch offen halten können zu einem persönlichen Gebet. Diese Chance sollten auch jene erkennen, die die Kirchen üblicherweise nicht öffnen (können). 

Einige Leute schreiben heute schon lange Texte über das Versagen der Kirche, die in der aktuellen Krise keine gute Figur mache. So wie Uli Fricker im Südkurier. Zu Recht erntete er den Frust vieler engagierter Kirchenleute, die erst einmal alle Hände voll zu tun hatten, den „Shutdown“ der Gemeindearbeit zu organisieren und dennoch gleichzeitig schon kreative Ideen entwickelten. Eine Diagnose der Kirche in der Krise nach 14 Tagen? Ich halte das auch für unmöglich. Aber es liegt sicher auf der Hand, dass die Schwächen einer Kirche, die sich seit den 50er Jahren in einer Dauerkrise befindet, aufgrund eines grundlegenden gesellschaftlichen Wandels in der heutigen Extremsituation umso deutlicher zu Tage treten.

Heute sind wir herausgefordert, die geistliche Kompetenz der Gläubigen noch stärker zu fördern und ihnen noch mehr zuzutrauen, damit sie mit ihren Familien und engsten Freunden so etwas wie Hauskirche sein können. Und vielleicht auch so etwas wie Online-Kirche, die Menschen in einem weiten Netzwerk persönlicher Kontakte über facebook, whatsapp, Telefon, Skype und anderen medialen Möglichkeiten vernetzt. Hier ist auch die Theologie und die Kirchenleitung herausgefordert, Mut zu machen, Anregungen zu geben und theologisch verantwortete Lösungen anzubieten. Es braucht hierfür neue und alte Zeichen und Riten, die die Nähe Gottes mit allen Sinnen erfahrbar, spürbar machen. 

Viel wird in diesen Tagen nach den Chancen in der Krise gesucht. Aber ich meine, wir müssen die Gefahr und die Krise erst einmal in ihrer Tiefe erkennen. Wir sollten niemanden mit vorschnellen und frommen Worten vertrösten. Wir stehen am Anfang einer dauerhaften Krise, die uns Alles abverlangen wird. Davon bin ich fest überzeugt. 

Hoffnung kommt uns als Christen von Gott her. Ich bin völlig gewiss, dass wir in allem in Gottes Hand geborgen sind, der am Ende alles zum Guten wendet. 

Doch genauso sicher bin ich, dass wir hier auf Erden das Mögliche tun müssen, die Krise zu bewältigen. 

  • Der Corona-Virus zeigt uns die Grenzen des Wachstums auf, die Grenzen unserer globalisierten Welt. Wäre der Virus in einem abgeschiedenen Bergtal in China aufgetreten, hätte er sich möglicherweise nie weiter als 30 km bewegt und wäre mit denen ausgestorben, deren Körper mit ihm nicht fertig geworden wäre. Aber durch unsere in den letzten Jahren immer globalisiertere wirtschaftliche Zusammenarbeit wurde er zu einer globalen Bedrohung für eine Menschheit, die auf immer engerem Raum lebt. Eine Rückkehr zu einer Lebensweise, wie vor der Entdeckung Amerikas kann nicht die Lösung sein. Aber es muss auf eine andere Weise weiter gehen. Dafür müssen wir gangbare Wege finden. 


  • Die Coronakrise zeigt uns, dass eine wirkliche Lösung ein deutliches Minus erfordert, einen echten Verzicht. Sie stellt uns die Bedrohung unseres Lebens in atemberaubender Geschwindigkeit vor Augen, die sonst nur in schleichenden Prozessen wie dem Klimawandel und dem überbordenden Verbrauch aller Ressourcen für aufmerksame Beobachter spürbar wurde. Von einem Tag auf den anderen ist unser Leben in Gefahr. Selbst wenn der Virus durch eine Impfung in Kürze beherrschbar werden sollte, stellt sich die Aufgabe, weitere lebensbedrohliche Krisen zu meistern. 


  • Unsere Wirtschaft ist krank. Sie krankt daran, dass ihr Erfolg vielfach nur in Zahlen gemessen wird, nämlich in Gewinnen und Profiten. Schon lange überholt zu sein scheinen die Grundsätze, die ich noch im Betriebswirtschaftslehre-Unterricht kennengelernt habe. Und die beispielhaft z.B. noch vor 100 Jahren im Bergbau umgesetzt wurden: Wer erfolgreich Bergbau betreiben möchte, der muss dafür sorgen, dass die Gesundheit seiner Mitarbeiter gesichert ist, dass es hohe Standards im Arbeitsschutz gibt. Er musste Bergarbeitersiedlungen bauen und betreiben, damit die Mitarbeiter unter guten Umständen in der Nähe der Betriebe wohnen konnten. Wer erfolgreich wirtschaften wollte, der musste natürlich schauen, dass unter dem Strich etwas übrig blieb. Aber auch langfristig schauen, dass der soziale Frieden gewahrt blieb, dass es keinen Raubbau gab, dass die Mitarbeiter gesund blieben... Heute zählt ja eher, dass die Kohle aus chinesischen Schächten trotz der unfassbar langen Transportwege noch immer billiger ist als die aus dem deutschen Schacht. Und dass man sich sogar noch die Gesundheitsvorsorge für die Bergleute vor Ort sparen kann, weil man die Verantwortung an eine kommunistische Diktatur auslagert.


  • In der Krise merken wir, wie schnell die Güter knapp werden, wenn die Lieferketten gehemmt oder unterbrochen werden. Statt Mundschutz-Masken aus China zu importieren, nähen heute Ehrenamtliche in Voerde solche Masken aus Stoffresten. Das berührt mich sehr. Man muss eine gute Balance finden zwischen internationaler Zusammenarbeit und Abschottung der eigenen Märkte. Aber dazu müssen wieder andere Werte gelten, als die Zahlen, die unter dem Strich dabei heraus kommen. 


Das wird ein ganz, ganz langer und mühsamer und schmerzhafter (Opfer) Weg. Aber er ist notwendig. Sehr not-wendig!

  • In der Corona-Krise merken wir, wie bedeutsam das Miteinander ist, die Verantwortung für den Anderen. Wir merken, wie wichtig familiäre, freundschaftliche, ja sogar gut nachbarschaftliche Bande sind. Und auch die schlechten Seiten im Menschen werden manchmal in schmerzhafter Deutlichkeit offenbar. Nein, Rücksichtnahme, Nächstenliebe, Feindesliebe, Verantwortung für die Nächsten und Fernsten (selbst wenn sie in Uganda leben oder im Norden Italiens) – sind kein selbstverständliches Allgemeingut. Die christliche Botschaft ist heute so notwendig wie immer. Als Christen haben wir viel zu tun. Sehr viel, auch wenn uns nicht jeder mehr gern zuhört. Aber in der Krise scheint mir unser Wort doch hin und wieder auch dort auf fruchtbaren Boden zu fallen, wo es sonst nicht keimen konnte. 


  • Ich sehe auch, wie notwendig die Stichworte „systemrelevant“ und „Daseinsvorsorge“ geworden ist. Wir haben allzuviel dem freien Markt und der Wirtschaft überlassen. In der Hoffnung, dass es dann auch wirtschaftlicher geführt wird. Aber vielleicht entdecken wir Zwischenwege, Organisationsformen, die die Verantwortlichkeit des Staates, der Verwaltung, der Kommunen, Länder etc. wahren und die Eigeninitiative der Mitarbeiter und verantwortlichen Leitungen im Sinne des freien Wettbewerbs der guten Ideen und der besseren Qualität ermöglichen. Und eine anständige Bezahlung der Mitarbeiter*innen, die im Falle des Falles den Laden am Laufen halten. Die freie Wirtschaft allein schafft das offenbar nicht (immer). 


Heute kann noch niemand sagen, wie es nach der Krise weiter geht. Ich bin nicht sehr hoffnungsfroh, dass wir unsere Gesellschaft und unsere Wirtschaftsordnung grundlegend umsteuern werden. Allzu schnell wird die Alltag wieder einkehren und vieles läuft wieder in alten, vertrauten Bahnen. 
Aber noch sehe ich kein Exit-Szenario. So wie es jetzt ist, kann es nicht weiter gehen. Weder für uns als Kirche noch für die Gesellschaft insgesamt. 

Die leichteste Lösung wäre eine gute Medikation und eine Impfung für alle. Aber das dauert noch, wenn es überhaupt möglich ist.

Andere Szenarien setzen auf ein langsame „Durchseuchung“ der Bevölkerung, so dass irgendwann eine gewisse Immunität auftritt, so dass Covid-19 durch das Gesundheitssystem gewuppt werden kann. Auch der derzeitige Shutdown folgt dieser Theorie. Und wir werden in den nächsten Wochen Vorschläge diskutieren, wie das ohne neue Katastrophen an anderen Stellen weiter umgesetzt werden kann. Wie auch immer das geschieht – die Krise wird für viele Menschen noch lange andauern. Und deren Folgen auch. 

Wir haben noch manche Bewährungsprobe vor uns. 
Jeder Priester, jeder Pastoralreferent ist in der Krise gefordert. 
Und weit mehr noch - jeder einzelne Christ ist heute gefordert:

Mir kommt in den Sinn, ob Gott uns nicht in der aktuellen Situation nicht ähnlich fragt, 
wie es der Bischof vor der Weihe seine (zukünftigen) Priester fragt: 
(Wir kennen doch den Gedanken des allgemeinen Priestertums.)

Bischof: Seid ihr bereit, zusammen mit dem Bischof im Gebet, das uns aufgetragen ist, Gottes Erbarmen für die euch anvertraute Gemeinde zu erflehen?

Antwort: Ich bin bereit.

Bischof: Seid ihr bereit, den Armen und Kranken beizustehen und den Heimatlosen und Notleidenden zu helfen?

Antwort: Ich bin bereit.

Bischof: Christus, unser Hoherpriester hat sich um unseretwillen dem Vater dargebracht. Seid ihr bereit, euch Christus, dem Herrn, von Tag zu Tag enger zu verbinden und so zum Heil der Menschen für Gott zu leben?

Antwort: Mit Gottes Hilfe bin ich bereit.

Abschließendes Wort des Bischofs: 
Gott selbst vollende das gute Werk, das er in dir begonnen hat.

Es gibt viel zu tun! Packen wir an! 
Mit Gottes Hilfe!